Geschichten:Greifendämmerung - Ein Kind der Liebe: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 28. Januar 2022, 02:01 Uhr
Stadt Luring, im Zwinger, in der Nacht vom 13. auf den 14. Rahja 1034 BF
Kichernd und Schwankend schob sich der Pulk – Galothini hatte man im Knupplers gelassen, wo er mit der Nase zwischen den Brüsten der roten Djamila eingeschlafen war – durch die Gasse von Knupplers Etablissement zum ›Zwinger‹, dem wuchtigen Stadthaus der Familie Luring in der gleichnamigen Stadt. Luring war auf einem der beiden Zwillingshügel errichtet, die Burg Luringen auf dem anderen. Der Schildtbach floss hier in die Kaster, so dass die Stadt auf drei Seiten vom Fluss umfasst wurde, die Burg an zwei Seiten. Nördlich der Mündung befand sich das berühmte Erlgardsfeld, auf dem das Luringer Turnier stattfindet. Die Stadt wurde in mehreren Ebenen angelegt, wobei die Wege natürlichen Falten in der Steigung zu entsprechen schienen. Wegen des zum Teil schroffen Höhenunterschiedes zwischen der einen und er anderen Gassenseite kam es mitunter vor, dass die Grundmauern der linken Gassenseite auf Höhe des Daches der rechten Seite begannen. Militärisch ein Traum - denn die Gassen bildeten unzählige Hohlwege, in denen sich Verteidiger lange halten könnten. Dennoch war Luring von einer Stadtmauer umschlossen, die vor allem an der offenen westlichen Flanke stark und hoch war, an der östlichen hingegen jüngst auf Anordnung und Wunsch des Grafen eingerissen worden war. Luring hatte drei Stadttore: das Rubrether Tor gen Westen, das Ferdoker Tor gen Osten und das Spiegeltor gen Süden.
Die Stadt war auf dem Hügel so errichtet worden, dass auf der höchsten Erhebung nicht etwa das Rathaus oder der Praios-Tempel stand, sondern ein dicker, wuchtiger Turm, der von einem großen Platz umgeben war: der Vogtsturm mitsamt dem Luringer Markt. An diesem Platz erhoben sich vier wichtige Gebäude: das Rathaus im Norden, der Praios-Tempel Sankt Quelban im Süden, das Hotel ›Spiegelkabinett‹ im Westen und der ›Zwinger‹ im Osten.
Der Zwinger war das Stadthaus der Grafenfamilie und sichtbar älter als alle anderen Gebäude am Markt: Die Mauern waren aus gigantischen schwarzen Quadern gefügt, die Fenster schmal und schießschartenartig - oder später aufwändig in die monumentalen Mauern geschlagen worden. Der Grundriss des Gebäudes war ursprünglich sechseckig, wurde aber durch Wohnanbauten vor allem zur östlichen Hangseite hin erweitert. Wenn man sich die später angebrachten Erker, Zinnen, Dächer und Anbauten sowie das aufgesetzte Fachwerkobergeschoss mit dem roten Ziegeldach wegdächte, dann könnte man ahnen, dass der Zwinger früher ein turmartiges Bauwerk gewesen sein muss, dessen obersten drei Viertel allerdings von den Zeitläuften oder einem Unglück abgetragen worden waren. Der benachbarte Vogtsturm, dessen Grundriss ebenfalls sechseckig war, mag eine verkleinerte Kopie des Zwingers gewesen sein.
Die bedrohliche Massigkeit war dem Gebäude durch die Anbauten, das Fachwerk und den großen Durchbruch in den Hof weitestgehend genommen worden. Dennoch wirkten die aufstrebenden Mauern in der Nacht beeindruckend, als ›Dregos Bande‹ - allerdings ohne Drego - vor dem schmiedeeisernen Tor zum seitlichen Hof ankam. Brobert schepperte erheblich, als er Einlass begehrte, und kurz darauf erschien ein ältlicher Bediensteter, der das Tor öffnete. Er wurde fast grob beiseite gestoßen, als die Clique durch den Hof in den Zwinger strömte und, nachdem einige Stufen hinab geführt hatten, erst in einer großen Halle anhielt.
Diese Halle hatte sechs Wände, an denen übergroße Wappenschilde prangten - allerdings alle mit bunten Tüchern verhängt. Die Decke wölbte sich zu einem spitzen Bogengewölbe, dessen Schlussstein mit einem Greifen verziert war. Der Saal wurde von großen Feuerschalen erhellt, die in den Ecken angebracht waren. Vom Marmorboden bis zum Schlussstein maß die Halle gewiss 30 Schritt.
»Mannomann«, entfuhr es Stordan von Gerbachsroth, aber auch die anderen waren erheblich beeindruckt. Offenen Mundes starrten sie in die Höhe, folgten den feinen Rippen des Gewölbes bis an die Spitze.
»Genau das wollten sie«, rief eine jugendliche Männerstimme, »dass sich jeder den Kopf verrenkt und ganz oben den Greifen sieht. Luring über alles! Grüß dich, Rudon«, begrüßte der schlacksige Mann den Angesprochenen mit Handschlag und einem freundschaftlichem Klaps auf die Schulter, ehe er sich den anderen zuwandte. »Willkommen in Reichsforsts höchster Halle. Nicht mal die Kuppel von Sankt Quelban ist so hoch wie unser Greifenstein da oben! Und nicht so alt, das kommt hinzu! Jorunde: Reich meinen Gästen Getränke!«
Eine alte Frau mit krummem Rücken reichte schmale Pokale auf einem Tablett herum. Sie zischte und ächzte bei jedem Schritt. Und wer genau hinhörte, konnte bei jedem Hauch einen leisen Fluch vernehmen, der bei der alten Jorunde das Atmen ersetzte. Die Gäste hatten nun alle ihren Pokal in der Hand, doch standen sie herum wie Tagelöhner auf der Brache, bis endlich der Gastgeber wieder das Wort ergriff: »Alle haben was? Sehr gut - verdünnter Tharf, meine Freunde, das ist das Beste, was ich Euch in Rahjas Mond anbieten kann. Prosit! Auf ex! Dann wollen wir mal in die gute Stube geben - die Greifenhalle ist nichts für Genießer.«
Dann ging er ein paar Stufen hinauf, und die Meute folgte ihm. Die Kelche stellte man der murmelnden Jorunde wieder auf das Tablett zurück. »Das ist Ungolf?«, fragte Rondger von Scheupelburg den neben ihm schreitenden Franwin von Luring-Franfeld. »Aber ja«, antwortete dieser, »entfernte Verwandtschaft. Muss man sich vorstellen: Sein Onkel ist der Ungolf, der in Gareth auf dem Turnier gestorben ist und damit die Reichsforster Fehde auslöste - das ist fast hundert Jahre her! Und der lange Odo ist sein Bruder!«
»Halbbruder«, korrigierte Erlenfall. »Ungolfs Vater hat nochmal geheiratet, nachdem Odos schreckliche Mutter tot war, und zwar die schönste Frau im ganzen Königreich!«
»Wer jetze?«, hakte Rondger nach.
»Na, so«, erläuterte Erlenfall: »Palos musste Hornbrechta heiraten, die Tochter von Marbert dem Eisernen, damit die Fehde ein Ende hatte. Palos hatte keine Wahl. Geboren wurde Odo - die Mutter ein Ungeheuer, der Sohn eines, das ist eh klar. Dann ist Hornbrechta endlich zu Boron gefahren, und Palos hat sich eine neue Frau genommen: die Schönste. Yadwige von Prestelberg - gereift an den Hängen des Raschtulswalls! Die war aber nicht halb so alt wie Palos, weshalb dem Haus Luring die ganze Kiste nicht gefallen hat.«
»Ach so - die haben Yadwige für sowas wie eine Erbschleicherin gehalten?« Rondger hielt Erlenfall die Tür zu dem gemütlichen Gemach auf, in das die Truppe nun gestiegen war, Eine lange Fensterfront mit Buntglasscheiben nahm die gegenüberliegende Langseite ein, an beiden kurzen Seiten waren hohe Kamine, eine lange Tafel stand in der Mitte, Sessel und Diwane vor dem linken Kamin.
»Genau. Man dachte, sie habe es auf den Reichtum des Hauses abgesehen. Solange Palos lebte, wohnten Mutter und Sohn auf Burg Rubreth. Nach seinem Tod durften sie hier einziehen.« Erlenfall setzte sich ganz außen auf einen Sessel, Rondger von Scheupelburg pflanzte sich daneben. »Der eigentliche Hausherr des Zwingers ist aber natürlich Ungolf oder die Mutter, sondern Praiodan von Rommilys - noch so ein Luring-Bastard.«
»Na, na, na!«, unterbrach Ungolf von Luring-Prestelberg den Redeschwall Erlenfalls, der gar nicht bemerkt hatte, dass schon längst alle anderen den Erläuterungen zugehört hatten. »Onkel Praiodan ist ein Bastard, das stimmt in jeder Hinsicht. Ich aber bin ein Kind der Liebe!«
◅ | Ein Hirschfurz und eine Einladung |
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Wo keine Sonne scheint | ▻ |