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Aktuelle Version vom 14. September 2014, 16:44 Uhr
4. Praios 1037 – Burg Rotkrähenborn, Freiherrlich Rotkrähenborn (Baronie Rallerspfort)
Obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war, klebte Dorians Hemd bereits an seiner Brust. Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht. Doch war dies nicht der einzige Grund, weswegen er nicht hatte schlafen können. Haldan Rallersgrunder war ihm die ganze im Kopf herumgeschwirrt. Nach wie vor versuchte er sich einzureden, dass es sich nur um einen Fremden handelte, aber es fiel ihm schwer, es sich selber zu glauben.
Wie gewohnt führte ihn sein erster Weg am Morgen in den Stall, wo Emmeran, sein Stallmeister, bereits an der Arbeit war.
„Guten Morgen, Euer Wohlgeboren“, grüßte Emmeran und rammte die Mistgabel in einen Haufen Stroh.
„Dir ebenso. Gibt es etwas Neues?“
„Nein, Euer Wohlgeboren. Die Hitze macht den Tieren zu schaffen, aber spätestens morgen gibt’s ein gewaltiges Donnerwetter, Ihr werdet schon sehen. Ich spür’s in den Knochen.“
„Das wäre das Beste für uns alle, denke ich. Ich muss nach Rotkrähenborn reisen.“
„Erneut? Soll ich einen Burschen für Euer Pferd holen?“
„Wird nicht nötig sein, hab Dank.“
Gegen Mittag hatte er die größte Festung der Baronie erreicht. Wie so oft, wenn er sie sah, betrachtete er sie als Mahnmal der unverhältnismäßigen Vorsicht vergangener Generationen.
Nach der Reichsforster Fehde hatte Ondwina von Rallerspfort die wehrhafte Burg zur überdimensionierten Festung ausgebaut, um künftigen Gefahren zu trotzen. Die Gefahren kamen nie, was jedoch blieb, waren Schulden, die sich so hoch türmten, wie die Mauern der Festung. Seitdem überstieg der Unterhalt der Festungsanlage jedes Jahr ein wenig mehr die Mittel des Barons, bis sie nach und nach begann zu verfallen, während die Bewohner mit Händen und Füßen darum rangen, sie weiterhin wehrhaft wirken zu lassen; mit mäßigem Erfolg. Flechten und Efeu an den Mauern, Risse im Stein und abgebrochene Zinnen charakterisierten das äußere Erscheinungsbild der Burg.
Um zum Tor zu gelangen, musste man einen langen Damm entlang reiten, der von beiden Seiten gut von der Mauer aus eingesehen werden konnte und im Verteidigungsfall zur Todesfalle für den Angreifer wurde. Heute jedoch war kein Schütze zu sehen und bloß einige Gardisten lehnten sich entspannt auf ihre Hellebarden. Wie auch schon am Vortag, ließen sie ihn, nachdem er seinen Namen und sein Anliegen genannt hatte, passieren. Im ersten Hof reichte er die Zügel seines Pferdes einem Stallburschen. „Bring dem Tier Wasser.“ Der Junge nickte ihm zu und verschwand.
Dorian von Zerbelhufen blickte sich im Hof um. Am Brunnen sah er zwei Mägde, die sich unterhielten, während eine von ihnen einen Eimer Wasser herauf zog. Er schlenderte zu ihnen. Sie bemerkten ihn erst, als er zu ihnen Trat und sich kurz räusperte.
„Euer Wohlgeboren.“, grüßte eine der beiden, wobei sie ihren Kopf leicht neigte.
„Ich wünsche mit Ungolf von Zerbelhufen zu sprechen.“
„Sehr wohl. Ich werde nach ihm schicken.“ Sie machte sich sogleich auf den Weg und ließ ihren vollen Eimer stehen, welchen Dorian nutzte, um sich ein wenig zu erfrischen.
Es dauerte eine Weile bis sein Onkel erschien. „Du hier, Dorian? Sei gegrüßt“, begann der alte Mann und schien selber über seine krächzende Stimme zu erschrecken. Die Magd reichte wie selbstverständlich ihren Arm, um ihn die wenigen Stufen hinab zu geleiten, doch er schüttelte ihn ab, nur um sich dann am Handlauf festzuklammern, während er die Stufen hinab schlich.
„Sei gegrüßt, Onkel.“ Dorian umarmte seinen Onkel und gemeinsam schlenderten sie zu einem überdachten, schattigen Teil des Hofes, wo sich eine Bank befand. Schwerfällig nahm Ungolf Platz.
„Was führt dich erneut hierher? Erst gestern bist du doch fortgegangen. Wie geht es Melissande?“
„Sie erfreut sich bester Gesundheit und freut sich schon darauf, dich wiederzusehen.“ Ungolf drehte während des Zuhörens leicht seinen Kopf, um besser mit dem rechten Ohr zu hören, an welches er einen kleinen Trichter hielt. Er nickte bei Dorians Worten. „Aber der Grund weswegen ich hier bin“, fuhr Dorian fort, „ist ein gänzlich anderer. Als ich gestern heimkehrte, erzählte sie mir von einem Fremden, der die Namenlosen Tage auf Burg Zerbelhufen verbracht hatte. Sein Name war Haldan Rallersgrunder. Sagt dieser Name dir etwas?“ Ungolf zog die Augenbrauen leicht nach oben und starrte in die Ferne, während er an seinem Hemdkragen spielte. „Nun, der Name kommt mir doch bekannt vor, doch weiß ich nicht, woher ich ihn kenne.“
„Das habe ich befürchtet, geht es mir doch ebenso. Ich bin mir aber sicher, dass mein Vater mir davon erzählt hatte. In welchem Kontext hätte dies sein können, Onkel?“
„Dein Vater? Er war ein sehr belesener Mann gewesen, wie du weißt und meine Schwester, deine Mutter, hat ihn sehr geliebt, aber nur selten hatte ich die Gelegenheit, mich lange mit ihm zu unterhalten. Ich fürchte, ich kann dir nicht helfen, aber ich kann mich informieren.“
„Wie viel Zeit wird das in Anspruch nehmen?“
„Sicherlich eine Woche, Dorian. Wo ist dieser Haldan nun?“
„Es heißt, er ging nach Rallerspfort, um dort Drego von Luring zu treffen. Eine weitere Verbindung, die mich skeptisch werden lässt.“
„Drego? Dieser nichtsnutzige Sohn des Grafen?“
„Eben dieser.“ Bei diesen Worten verzog Ungolf das Gesicht und spie aus.
„Dorian“, raunte er und wandte sich seinem Neffen zu, „Ich mag ein alter verwirrter Mann sein, aber das gefällt mir nicht.“ Er schaute Dorian tief in die Augen. „Du musst diesen Haldan in der Nähe halten, bis wir wissen, um wen es sich dabei handelt.“
„Wie stellst du dir das vor?“
„Du lädst doch wieder zur Jagd, oder nicht?“
„Doch. Das ist eine gute Gelegenheit, du hast Recht.“ Beide Männer dachten einen Augenblick nach.
„So werden wir es tun“, brach Ungolf das Schweigen, „Ich informiere mich und berichte dir, sobald ich etwas weiß, während du ihn beschäftigst.“
„In Ordnung. Aber noch kein Wort an Raulbrin.“
„Kein Wort“, bestätigte Ungolf.
Nachdem Ungolf gegangen war, blieb Dorian noch immer auf der Bank sitzen. Die Sonne schien gleißend auf den Hof und die heiße Luft schnürte ihm die Kehle zu. Er würde sich bald wieder auf den Heimweg machen müssen, wollte er noch heute dort ankommen. Eine Magd brachte ihm einen Krug mit verdünntem Wein, den er dankbar entgegennahm. Nach zwei Bechern hörte er laute Stimmen aus der Halle, an dessen Tür er saß. Dorian beobachtete die Tür, als sie ruckartig geöffnet wurde und ein Mann in der Robe der Praios-Geweihtenschaft heraustrat. Dieser blickte sich verärgert um und entdeckte Dorian, beachtete ihn jedoch nicht weiter, sondern stampfte in Richtung der Ställe. Dorian kannte ihn und es drehte sich ihm der Magen um, als er daran dachte, was hätte passiert sein können. Was hatte Raulbrin getan, dass der Geweihte so wütend davon rauschte? Er leerte rasch seinen Becher und folgte Ludomar von Wystern. Er würde versuchen die Wogen zu glätten, oder zumindest herausfinden was vorgefallen war. Er holte ihn bei den Ställen ein, wo er wie der Geweihte sein Pferd losband. Der Mann schaute ihn aus den Augenwinkeln an, sagte jedoch nichts. Beinahe gemeinsam verließen sie die Burg.
„Zerbelhufen“, brach der Geweihte das Schweigen.
„Seid gegrüßt, Euer Gnaden. Ich wage kaum zu fragen, doch wirktet ihr erregt, als ihr die Halle verließet. Was ist vorgefallen?“
Ludomar musterte Dorian argwöhnisch. „Es ist der mangelnde Respekt vor den Göttern, der mich aus der Fassung bringt.“
Dorian hatte gehofft, dass das Gespräch nicht so beginnen würde, war dies doch ein deutlicher Hinweis auf ein weiteres Vergehen Raulbrins. „Es ist eine götterfürchtige Gegend, in der wir leben. Was habt Ihr zu beanstanden?“
„Unlängst stellte der hohe Luminifer des Tempels zu Rallerspfort fest, dass die ordnenden Kräfte dieser Baronie enger verschlungen an einem Strang ziehen sollten, doch anstatt ein starkes Tau zu schaffen, befürchte ich nun, dass unser Seil ausfranst.“
Dorian dachte einen Augenblick über das Gesagte nach. Mochte es tatsächlich möglich sein, dass Raulbrin die Anfrage der Geweihtenschaft, einen Priester als Hofgeweihten anzunehmen, ablehnte? Ihm war natürlich aufgefallen, dass der Hof in Rallerspfort nicht so lebendig war wie in anderen Baronien, aber diese Absage war ein Schlag ins Gesicht.
„Möglicherweise ist Raulbrin von Rallerspfort an einem Netz interessiert, welches alles beisammen hält und mehr Flexibilität aufweist als ein Tau…“ Es war ein kläglicher Versuch, der mit einem verachtenden Blick abgetan wurde.
„Seit wann braucht das Reich, damit auch seine Provinzen und Baronien, Flexibilität? Ein starker Strang, an welchem sich sowohl das Volk als auch der Adel halten und orientieren, ein Strang, der alle beisammen hält, ist jedem Netz, wie Ihr es nennt, vorzuziehen.“ Der Priester sagte dies mit einer Bestimmtheit, die keine Widerrede zuließ.
„Ihr habt ihm also nahegelegt, einen Geweihten an den Hof zu bestellen?“
„Nicht ich. Der hohe Luminifer sah es in einer Prophezeiung, dass der Baron Rallerspforts einen nehmen würde. Nun hat sich Raulbrin gegen dessen Rat gestellt zugunsten eines Geweihten der Hesinde. Er spielt mit dem Gedanken einen Schrein zu stiften, dessen Aufgabe das Lehren von Gemeinen sei. Als sei dies nicht schon genug, besitzt er noch die Dreistigkeit, es mir direkt ins Gesicht zu sagen und mich so öffentlich abzuweisen.“
Dorian hatte an dieser Stelle genug gehört. Seine schlimmsten Befürchtungen fanden Bestätigung und es war nun seine Aufgabe, den Rückhalt Raulbrins zu stärken. Die Einladungen zur Jagd würden noch heute Abend rausgehen. Er hoffte den Sturm noch abwenden zu können.