Benutzer:Orknase/Briefspiel: Unterschied zwischen den Versionen

Aus GaretienWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Orknase (D | B)
Orknase (D | B)
 
(62 dazwischenliegende Versionen desselben Benutzers werden nicht angezeigt)
Zeile 2: Zeile 2:
Es ist ausdrücklich erlaubt, Rechtschreibfehler sowie Fehler der Zeichensetzung zu korrigieren, genauso wie verloren gegangene Buchstaben richtig zu ergänzen und überzählige einzusammeln - dies gilt auch für meine anderen Texte.
Es ist ausdrücklich erlaubt, Rechtschreibfehler sowie Fehler der Zeichensetzung zu korrigieren, genauso wie verloren gegangene Buchstaben richtig zu ergänzen und überzählige einzusammeln - dies gilt auch für meine anderen Texte.


<!--
= Custōsa=
[[Garetien:Esmeria_Darando_della_Tenna|Esmeria Darando della Tenna]]
 
-->
== Gedanken ==
Zurückzublicken und die eigenen Taten zu beurteilen, ist den Menschen wohl zu tiefst zu eigen. Damit einher geht natürlich, was man mit dem heutigen Wissen als hätte ändern können. Hätte man dieses eine damals bereits gewusst, hätte man alles zum Besseren wenden können, die Welt wäre eine ganz andere, eine bessere. Ja, dieser Blick zurück. Wie verlockend er doch ist. Wie verheißend! Und wie töricht zu gleich. Wie die Menschen nur glauben können, eine einzige Entscheidung von ihnen hätte den Lauf der Dinge ändern können? Sind sie doch nicht mehr als ein winziger Wassertropfen im sommerlichen Morgendunst. Kaum sichtbar, wenig mehr als ein hauchdünner Schleier, durch den man in die Welt blickt, der kaum etwas verhüllt und der ebenso schnell und abrupt verschwindet, wie er gekommen ist. Das Ende unausweichlich und unabdingbar. Und obwohl sie sich ihrer eigenen Bestimmung bewusst sind, nämlich der, dass sie alle sterben werden, verhalten sie sich nicht so. Sie geben nicht acht. Sie riskieren. Angetrieben vom Gefühl, dass sie mehr verdient haben. Mehr als andere. Weitaus mehr. Von Hass und Ehrgeiz, Neid und Eifersucht zerfressen, vergessen sie ihre eigene Sterblichkeit und riskieren, das einzige, das sie wirklich ihr eigen nennen können: Ihr Leben. Interessant, nicht wahr?
 
Aus dem Vorwort der »Wege der Wächterinnen«
 
== Esenfeld ==
 
=== Fremder ===
ZSF01: Ein Fremder kommt nach Esenfeld
 
[[Garetien:Wehrhof Esenfeld|Wehrhof Esenfeld]], Rahja 904 BF
 
»Es ist Zeit«, hob der Fremde an und bedachte die Frau ihm gegenüber aus seinen kalten, blauen Augen voller Abscheu. Der Mann saß hoch zu Ross. Es war ein harter Mann von kräftiger Statur, dabei ungewöhnlich groß und mit noch immer dichtem schwarzen Haar. Über einem Kettenhemd trug er einen Wappenrock in Schwarz und gelb, den Farben der Baronie Schwarztannen. Ein Schwert in einer kunstvollen Scheide hing an seiner linken Seite. Seine Begleiter waren ebenfalls gerüstet und bewaffnet. Grimmig schauten sie drein. Der Bannerträger, der das Wappen der Familie Schwarztannen führte, blickte zum wolkenverhangenen Horizont hinauf. Ein einzelner Regentropfen verirrte sich auf seine Wange. Ein Sturm zog auf. Noch jedoch war es unerträglich heiß und schwül.
 
»Einen weiteren Götterlauf«, erwiderte sie ihm und blickt ihn mit ihren weichen, braunen Augen wie ein verhuschtes Reh an. Ihr dunkelblondes Haare fiel sanft um ihr Gesicht. »Nur noch einen. Es wird der letzte sein. Ich bitte dich, Ardo, nur noch dieses eine Mal.«
 
»Nein«, erwiderte der Ritter barsch und ließ seine Rechte durch die Luft schnellen, »Nichts da.«
 
»Im Namen der Götter«, hob sie nun an und beugte beide Knie, ihr Haupt hielt sie dabei gesenkt, »Im Namen der Sturmherrin, ich flehe dich an. Lass mir meine Kinder. Es ist ein einziger weiterer Götterlauf, um den ich dich bitte. Nur einen noch. Danach sind sie dein. Ich schwöre es.« Bei den letzten Worten blickte sie auf. Ihre Blicke trafen sich. »Vor dem Gerechten.«
 
Er lachte nur: »Vorbei sind die Zeiten, da der Blick eines scheuen Rehs mich milde stimmte.«
 
»Sie sind noch zu jung«, beharrte sie, »Gib ihnen noch einen weiteren Götterlauf, Ardo.«
 
»Wozu?«, spie er nur hervor, »Was solltest ausgerechnet du, ihnen geben können?«
 
»Die Liebe einer Mutter«, kam ihre Antwort prompt, »Und wenn eine die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern versteht, dann gewiss die Leuin höchst selbst.«
 
»Liebe gewinnt keinen einzigen Kampf, sie macht einen nur...«, er hielt einen Moment inne und blickte sie mit seinen harten Augen an, »... weich.«
 
Erste Regentropfen begannen zu fallen.
 
»Die Kinder brauchen endlich ihren Vater!«
 
Nun lachte sie: »Ihren Vater? Ihren VATER?« Ihre Stimme überschlug sich. Leise begann Donner über sie hinwegzugrollen. »Vor Götterläufen hätten sie dich gebraucht. Vor Götterlaufen! Meine Brüder sind mehr Vater als du...«
 
Da stieß er seinem Pferd die Haken in die Flanken. Es preschte nach vorne. Und er trat ihr mit seinem Stiefel mit voller Wucht ins Gesicht. Sie kippte zur Seite. Blieb reglos liegen. Nur ihre Augen bewegten sich noch. Folgten ihm. Er wendete das Pferd, brachte es zum Stehen. Heftiger Regen setzte ein. Ergoss sich. Linderte die Hitze. Wusch das warme Blut von ihrem Gesicht. Mächtiger Donner fegte über sie hinweg. Das Banner, die goldene Hand auf Rot, begann in der aufgekommenen Brise hart zu flackern.
 
»Lasst sie liegen«, befahl er. Und alle gehorchten. Die [[Garetien:Gishelm Rondrawin von Schwarztannen|bei]][[Garetien:Moribert von Schwarztannen|den]] Knaben begriffen, dass er der gestrenge Herr sein musste, von dem ihnen ihre [[Garetien:Algerte Phexlieb von Schwarztannen|Mutter]] immer erzählt, ja sie eindringlich gewarnt hatte. Er war der Ritter zu Esenfeld. Er war ihr [[Garetien:Ardo von Schwarztannen|Vater]].
 
=== Vater ===
ZSF02: Die beiden Knaben lernen ihren Vater kennen.
 
[[Garetien:Wehrhof Esenfeld|Wehrhof Esenfeld]], Rahja 904 BF
 
[[Garetien:Ardo von Schwarztannen|Ardo von Schwarztannen]] stieg vom Pferd ab. Seine Gefolgsleute taten es ihm gleich. Knechte kamen herbeigeeilt, kümmerten sich um die Pferde, während Regen und Wind über sie hinwegpeitschten. Donner grollte markerschütternd. Wütende Blitze zuckte vom Himmel herab. Erhellten den inzwischen stockfinster gewordenen Innenhof Esenfelds. Die Männer, der Ritter zu Esenfeld allen voran, drängten in den Wehrhof hinein. Die beiden Knaben, die noch immer stocksteif unweit der Tür standen, fassten sich unbewusst an den Händen, der kleinere der beiden drängte sich an seinen größeren Bruder. Beide hatten sie das pechschwarze Haar ihres Vaters und die weichen, tiefbraunen Augen ihrer Mutter. Hinter ihnen standen zwei junge Männer. Sie ähnelten der noch immer am Boden und im Regen liegenden Frau: dunkelblondes Haar und rehbraune Augen. Ihre Gesichter, totenblass und ausdruckslos, ihre Tränen hatte der Regen verborgen. Beinahe unbemerkt, zogen sie sich zurück. Ließen ihre Hände von den Schultern der Knaben gleiten und verschwanden im Haus.
 
Mit festen Schritten ging der Hausherr auf die Knaben zu. Fixierte sie mit seinen harten, blauen Augen. »Was steht ihr noch hier rum?«, blaffte er sie an, »Sorgt dafür, dass meine Männer etwas Vernünftiges zu Essen und Trinken bekommen, so lange Efferd uns zürnt.«
 
Ungläubig blickten die beiden noch immer dicht aneinander gedrängten Knaben, der eine mehr als einen Kopf kleiner als der andere, zu dem Fremden auf. »Rondra«, wisperte der jüngere der beiden. Die linke Augenbraue des Ritters zuckte steil nach oben, seine Hand schnellte nach hinten und dann auf die Wange des Knaben. Der schrie entsetzt auf, drückte sich in die Arme seines großen Bruders. Tränen schossen ihm in die Augen.
 
»Erheb' noch ein einziges Mal das Wort gegen deinen Vater und du liegst da draußen neben deiner ... [[Garetien:Algerte Phexlieb von Schwarztannen|Mutter]]«, drohte er mit erhobener Hand. Es war jene Hand, mit der er den Knaben gerade eben geschlagen hatte.
 
»Ja, hoher Herr«, erwiderte der ältere der beiden, während er noch immer seinen heftig, schluchzenden Bruder in seinen Armen hielt, »Geht doch schon einmal hinein. Wir werden Euch sogleich bewirten.«
 
Wieder lag der harte und kalte Blick des Mannes auf den beiden Knaben. Und ohne seine Söhne eines weiteren Blickes zu würdigen, ging der Ritter zu Esenfeld an ihnen vorbei. Seine Männer folgten.
 
»Ich werde dich beschützen, [[Garetien:Moribert von Schwarztannen|Moribert]]«, wisperte der größere Knabe, dem noch immer weinenden kleineren zu als die Männer außer Hörweite waren, »Bleib einfach immer hinter mir, dann kann er dir nichts tun.« Er fuhr seinem Bruder über das kurze, schwarze Haar. Die beiden trennten sich. Moribert tropfte noch immer Blut aus der Nase. Der Regen wusch es fort. »[[Garetien:Gishelm Rondrawin von Schwarztannen|Gishelm]]«, wimmerte der jedoch nur erstickt, »Ist das wirklich unser Vater?« Sein Blick glitt zu der noch immer reglos im Regen liegenden Frau. Ihrer Mutter. Ihre Augen waren noch immer geöffnet. Hatten die beiden Knaben fixiert. Gishelm atmete schwer und senkte den Blick.
 
=== Brüder ===
ZSF03: Der Vater hasst die Mutter der Knaben.
 
[[Garetien:Wehrhof Esenfeld|Wehrhof Esenfeld]], Rahja 904 BF
 
Der [[Garetien:Ardo von Schwarztannen|Herr zu Esenfeld]] blieb über Nacht, denn der Zorn Efferds – viel eher Rondras, wenn man dem leisen Wispern der Bediensteten hinter vorgehaltener Hand glaubte – verzog sich nicht so schnell. Lange grollte es bedrohlich. Der Himmel in ein giftiges dunkles Grün getaucht. Und Blitz und Blitz zuckte herab. Einer setzte sogar die große, mächtige Eiche im Innenhof Esenfels in Brand. Erst da erlaubte der Herr, die Hausherrin endlich fortzuschaffen und das auch nur, weil sie im Weg lag, nicht etwa aus ... Mitleid.
 
Und erst als die Herrschaft schlief, war einer der Brüder der Frau aufgebrochen, um einen [[Garetien:Peralina Tempeltreu|Geweihten der Herrin Peraine]] aus [[Garetien:Dorf Salzungen|Salzungen]] zu holen. Indes saß der andere an ihrem Bett, hielt die reglose und kalte Hand seiner Schwester in der eigenen und musterte ihr ausdrucksloses, blasses Gesicht den Tränen nahe. [[Garetien:Moribert von Schwarztannen|Moribert]] krabbelte dem Mann auf seinen Schoß und schmiegte sich dicht an ihn. Den noch freien Arm legte er um den Knaben und hauchte ihm anschließend einen Kuss aufs Haar. Gishelm indes trat neben seinen Onkel an das Bett seiner Mutter.
 
»Ist das wirklich unser Vater?«, hob [[Garetien:Gishelm Rondrawin von Schwarztannen|Gishelm]] hoffnungsvoll an, »Sag, dass er es nicht ist, Salvin. Sag es! Bitte!«
 
Der Mann schluckte schwer und schüttelte traurig seinen Kopf: »Er ist euer Vater.« Er nickte langsam. Gänsehaut jagte Gishelms Rücken hinab. »Ardo von Schwarztannen ist euer Vater. Und du, Gishelm, bist sein Erbe.«
 
»Ich will nicht, dass er mein Vater ist!«, entfuhr es dem Knaben da, »Ich will nicht sein Sohn sein. Auch nicht sein ... Erbe.«
 
Verständnisvoll nickte Salvin.
 
»Kannst du nicht unser Vater sein?«
 
»Nein«, nun nickte er, »Das geht nicht. Ihr seid seine Kinder. Es gibt keine Zweifel. Ihr seid sein Fleisch und Blut.«
 
Einige Tränen liefen dem Knaben über das Gesicht und trotzig erwiderte er: »Ich will das aber nicht. Ich will nicht, dass dieser Mann mein Vater ist. Ich will das nicht.«
 
»Ich weiß, Gishelm, und ich verstehe dich. Sehr gut sogar.« Seit der Geburt der Knaben war Salvin, wie auch sein Zwillingsbruder Salentin, immerzu um sie gewesen. Hatten sie abends in den Schlaf gewiegt, ihnen Lieder vorgesungen, Geschichten erzählt, waren bei ihren ersten Schritten, ja bei ihren ersten Worten dabei gewesen. Sie hatten gemeinsam mit ihnen Esenfeld entdeckt. Waren in Bäume geklettert und hatten im Mühlbach geplantscht und im Wald getobt. Und wenn die Beine der Kinder zu schwer waren von den vielen Abenteuern, dann hatten sie sie nach Hause getragen. Sie waren immerzu für die Knaben da gewesen. Immer. Jederzeit.
 
»Hasst er uns?«, riss Gishelm seinen Onkel aus seinen Gedanken. Unruhig verlagerte der Knabe das Gewicht von einem auf das andere Bein. Einen Moment blickte der Mann auf den Knaben in seinen Armen. Der ruhige und regelmäßige Atem verriet, dass er eingeschlafen war. »Hasst er uns?«, wiederholte der ältere der Knaben.
 
»Nein«, versicherte der Mann sanftmütig, »Nein, er hasst euch nicht. Nicht seine Söhne. Seine Erben. Nein, gewiss nicht. Ich denke sogar...« Er hielt einen Moment inne. Wirkte angespannt. »... dass er euch liebt. Auf seine ... hm ... eigene Art.« Salvin zog seine Augenbrauen nach oben. »Sicherlich.« Der Mann seufzte schwer. »Er liebt euch.« Nun fuhr er dem kleineren der Knaben zärtlich übers Haar. »Wer könnte euch beide denn auch nicht lieben?«
 
Doch Gishelm beruhigte das nicht: »Hasst er ... hasst er Mutter?«
 
Salvin konnte nicht anders, er konnte nur nicken. Und dann, nach einem erschreckend langen Augenblick, in dem er schwieg und seine Schwester ernst betrachtete, hauchte er so leise, dass man es gerade so verstehen konnte: »Es war nicht immer so, Gishelm. Er war nicht immer so ... grausam. Sie waren einander sehr zugetan. Ungleich, doch irgendwie glücklich. Doch dann ist [[Garetien:Algerte Phexlieb von Schwarztannen|Algerte]] etwas Schreckliches passiert. Etwas Entsetzliches.«
 
Gänsehaut erfasste den gesamten Körper des Knaben. So hatte er seinen Onkel noch nie sprechen hören. So voller Schmerz. Voller Grauen. Und weil Salvin nicht mehr sagte, wusste der Knabe, dass es etwas wirklich Schreckliches gewesen sein muss. Etwas, dass ihm die Kehle zuschnürte.
 
=== Geweihte ===
ZSF04: Eine Geweihte der Peraine kommt (unerwartet) nach Esenfeld.
 
[[Garetien:Wehrhof Esenfeld|Wehrhof Esenfeld]], Rahja 904 BF
 
Im Morgengrauen kam Salentin mit einer [[Garetien:Peralina Tempeltreu|Geweihten der Herrin Peraine]] aus Salzungen wieder. Das Missfiel dem Hausherren zwar zu tiefst, aber er wusste sehr wohl, dass man einen Diener der Zwölfe nicht ohne weiteres abwies und so bat er sie herein: »Peraine mit Euch, Euer Hochwürden.« Demütig beugte er sein Haupt, trat zurück und ließ die Geweihte herein. »Habt Dank für Euer Kommen, auch wenn es nicht notwendig gewesen wäre, dass ihr persönlich erscheint.«
 
Die ältere Geweihte nickte sanftmütig. Eine Strähne ihres kurzen, grauen Haares fiel ihr ins Gesicht. Sie strich es sich wieder zurück. »Sorgte Euch nicht, Hochgeboren. Wie ein jeder von uns, bin auch ich nur eine Dienerin und deswegen diene ich«, erwiderte sie und fügte unnötigerweise noch hinzu: »So wie auch Ihr nur ein Diener unter dem Angesicht der Götter seid.«
 
[[Garetien:Ardo von Schwarztannen|Ardo von Schwarztannen]] blickte die Geweihte schweigend und nahezu reglos an. In seinen Augen funkelte Zorn. Unangenehme Stille breitete sich aus.
 
»Seid doch so gut«, ergriff nun die Geweihte wieder das Wort, »und bringt mich zu eurer werten Gattin, damit ich sie mir ansehen kann.«
 
Der Hausherr nickte nur mürrisch, bot der Hochgeweihten aber sogar seinen Arm an und schritt mit ihr voran. Und während sie miteinander gingen, wollte sie von ihm: »Ist meine gute Freundin Algerte wieder einmal gestürzt, Hochgeboren?«
 
»Ein bedauerlicher Unfall«, erwiderte er ihr trocken und vermied es sie anzusehen, »Wieder einmal, Hochwürden, wieder einmal.«
 
»Hm«, macht die Geweihte da nur und legte die Finger ihrer freien Hand an ihr Kinn, »Meine gute Freundin ist seit damals einfach nicht mehr sie selbst.« Sie seufzte schwer, ließ ihre Hand sinken und schaute betrübt drein. »Entsetzlich.« Sie hielt einen Moment inne. »Phex sei Dank hat sie eure beiden Söhne an der Seite. Sie liebt sie sehr. Vor allem da...« Sie verstummte.
 
Der Hausherr schwieg.
 
»Vermutlich werdet Ihr nicht lang bleiben können, Hochgeboren?«, fuhr sie fort und ein merkwürdiger Glanz trat in ihre Augen.
 
»Ich bedauere, aber Ihr habt recht«, erwiderte er ihr nickend, »Ich bin nur gekommen um meine Söhne zu holen.«
 
Die Geweihte blieb abrupt stehen und schaute ihn lange, ohne ein einziges Wort zu sagen, an. Stoisch hielt er ihrem Blick stand. Kalte und unergründlich waren seine blauen Augen.
 
»Hochwürden«, ergriff er nun das Wort, »Ich muss mich jetzt nun wirklich empfehlen. Mein Bruder erwartet mich dringend auf [[Garetien:Burg Scharfenstein|Burg Scharfenstein]] mit seinem neuen [[Garetien:Gishelm Rondrawin von Schwarztannen|Pagen]].«
 
»Ich verstehe«, damit löste sie sich aus seinem Arm, »Werdet Ihr beide Knaben mit Euch nehmen?«
 
»Sicherlich. Es ist Zeit, dass sie das Leben am Hofe kennenlernen.« Er reckte sein Kinn trotzig nach oben.
 
»Auch [[Garetien:Moribert von Schwarztannen|Moribert]]? Er scheint mir noch recht jung.«
 
»Beide«, entgegnete er ihr nur mit unnachgiebigen Blick, »Tut, was Eure Herrin von Euch verlangt. Peraine mit Euch, Hochwürden. Ich muss nun gehen.« Damit verabschiedete er sich. »Bereitet die Abreise vor«, hallte seine Stimme durch Esenfeld während seine Schritte sich entfernten. Die Geweihte blieb an der Tür zum Zimmer der Hausherrin stehen.


= Fische im Netz =
=== Gefehlte ===
== Ein guter Fang ==
ZF05: Die Geweihte der Herrin Peraine sieht einen Ausweg.
[[Garetien:Burg Scharfenstein|Burg Scharfenstein]]


Es war [[Garetien:Isida Uthjane von Isppernberg-Sommerheide|Isida Uthjane von Isppernberg-Sommerheide]], die als letzte gefangen genommen worden war uns als erstes wieder frei kam und das obwohl sie der beste Fang für [[Garetien:Drego von Altjachtern|Baron Drego]] und die seinen gewesen war. Die Kaisermärkerin stammte aus einer nicht gerade unbedeutenden [[Garetien:Familie Isppernberg|Familie]] und obwohl die Verhandlungen über ihr Lösegeld vermutlich am längsten hätten andauern müssen, so hatten sie es nicht getan. Erstaunlich schnell war der Kontakt zu ihrer Familie hergestellt und die Lösegeldforderung überbracht worden. Ebenso schnell hatte man sich auf die genaue Höhe geeinigt. Die geforderte Summe war überbracht worden und die Isppernbergerin war freigekommen. Dass das alles so rasch gegangen war, war vermutlich alleine ihrem [[Garetien:Malwart Borodan von Doriant|Gatten]] zuzuschreiben oder viel mehr dem Umstand, dass er aus der [[Garetien:Familie Doriant|Familie Doriant]] stammte, die in [[Garetien:Baronie Schwarztannen|Schwarztannen]] ansässig war. Die genaue Höhe der Forderung war nicht offen bekannt, doch wollten die Gerüchte nicht verstummen, dass sie unverschämt hoch gewesen sein solle. So unverschämt hoch, dass ihre Familie über weitere Schritte nachdachte.
[[Garetien:Wehrhof Esenfeld|Wehrhof Esenfeld]], Rahja 904 BF


Nach ihr war [[Garetien:Lonnert von Scheuerlintz|Lonnert von Scheuerlintz]] freigekommen, obgleich es eine ganze Weile gedauert hatte bis die Verhandlungen zwischen seiner [[Garetien:Familie Scheuerlintz|Familie]] und Baron Drego zu einem Ergebnis gekommen waren. Schlussendlich hatte man sich dann doch geeinigt. Eine beträchtliche Summe soll es gewesen sein. Weitere Bedingung war die Überstellung eines Kindes im knappenfähigem Alter. So kam [[Garetien:Olorande von Scheuerlintz|Olorande von Scheuerlintz]] nach Scharfenstein. Sie war das Drittgeborene des Scheuerlintzers. Ob es schwer für ihn gewesen war sein Kind in die Hände jener zu geben, die ihn gefangen genommen hatten? Im knappenfähigem Alter war das Mädchen jedoch nicht. Sie war zu jung. Baron Drego akzeptierte dennoch. Ein jüngeres Kind war noch formbarer und darüber hinaus konnte sie noch länger als Pfand gegenüber ihrer Familie eingesetzt werden, abgesehen davon gab es kein weiteres Kind innerhalb der Familie Scheuerlintz. Sie war ein nettes und fröhliches Kind. Sie haderte nicht. Sie nahm die Dinge so, wie sie kamen. Man hörte sie oft lachen. Beneidenswert.
»Was ist genau vorgefallen?«, wollte die [[Garetien:Peralina Tempeltreu|Geweihte]] von den beiden Brüdern der Hausherrin wissen als sie am Bett der verletzten stand und auf den blutigen Verband um deren Kopf blickte.


Nur sie, [[Garetien:Leudane von Leuenberg|Leudane von Leuenberg]], sie war noch hier. Und ihr Freikommen war nicht absehbar.
Die jungen Männer schauten betreten drein und blickten zu Boden. Kein Wort verließ ihre zitternden Lippen. Die beide wussten, dass ein jedes Wort ihnen das Leben nur noch schwerer machte. Dabei war es schon schwer genug. Der Hausherr ließ sie auf Schritt und Tritt überwachen und sie für jede noch so kleine Verfehlung hart bestrafen. Und jede ihrer Verfehlungen war auch eine Verfehlung ihrer Schwester, seiner Frau.


== Noch immer nicht frei ==
Die Geweihte seufzte.
[[Garetien:Burg Scharfenstein|Burg Scharfenstein]]


„Und was passiert jetzt mir mit?“, wollte [[Garetien:Leudane von Leuenberg|sie]] mit brüchiger Stimme wissen.
»War [[Garetien:Ardo von Schwarztannen|er]] es?«, wollte die Geweihte nach Abreise mit strengem Blick wissen, »Hat er sie so zugerichtet? Mal wieder?«


„Ich kann Euch nicht einfach gehen lassen“, erwiderte [[Garetien:Drego von Altjachtern|Baron Drego]] und nickte um seine Aussage zu bekräftigen als müsste er sich selbst seiner Worte versichern, „Nein, dass geht nun wirklich nicht.
Die beiden Brüder schauten auf die Füße der Geweihten. Kein einziges Wort kam über ihre Lippen.


Sie schluckte schwer: „Und... was heißt das jetzt?
»Bei Peraine!«, seufzte sie. »Schon gut«, sie winkte ab, »Ich habe schon verstanden. Es ist ja nicht so, als wäre ich das erste Mal hier.« Nachdenklich begann sie sich ihre Schläfe zu massieren. »Warum nur, Algerte? Warum nur?« Sie prüfte ihre Atmung. Ihre Reflexe. Zog die Augenlider nach oben. Da begann sie mit gekonnten Fingergriffen den Verband um den Kopf der Hausherrin zu lösen, die Wunde in Augenschein zu nehmen, sie zu säubern, zu nähen und neu zu verbinden. Die Brüder der Hausherrin gingen ihr dabei zur Hand. »War sie die ganze Zeit über bewusstlos?«


„Ich würde Euch wirklich gerne gehen lassen, aber... aber wie sähe das aus?“, er zuckte sichtlich hilflos mit den Schultern, „Ja, wie sähe das aus... Der Baronsreif ruht noch locker auf meinem Haupt. Ein [[Garetien:Nimmgalf von Hirschfurten|Baron Nimmgalf]], ja ein Baron Nimmgalf könnte sich das leisten, da bin ich mir sicher, aber ein Baron Drego?“ Er schüttelte energisch seinen Kopf und schien einen Moment in Gedanken versunken zu sein. „Wo kein Lösegeld gezahlt wird, kann auch keine Heimkehr stattfinden“, schloss er.
Die Brüder nickten stumm.


Verstehend nickte sie.
»Das ist vielleicht kein gutes Zeichen«, erklärte sie. Die Männer blickten zu ihr. Die Geweihte wusch sich die Hände. Trocknete sie an einem Tuch. »Wir werden abwarten müssen. Ich werde bleiben. Den Beistand der Herrin Peraine erbitten. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei. Ich .... « Sie schluckte. »Ich habe Angst, dass...«


„Dass Euer [[Garetien:Familie Leuenberg|Familie]] womöglich die Summe gar nicht aufbringen kann, spielt dabei keine Rolle. Wer sich in eine Fehde stürzt, muss mit einer Lösegeldforderung rechnen. Und wer eine Familie hat, die nicht zahlt, muss mit den Konsequenzen leben.
»Was sollen wir denn tun, Peralina?«, wandte sich Salvin sichtlich verzweifelt an die Geweihte.


Erneut nickte sie, obwohl sie nie über die Möglichkeit einer Gefangennahme und einer damit verbundenen Lösegeldforderung nachgedacht hatte. Dutzende Briefe hatte sie an ihre Familie schreiben müssen, immer wieder ging es um das Lösegeld und die genauer Höhe. Doch nie war eine Einigung zustande gekommen. Ihre Familie war nicht sonderlich groß und das [[Garetien:Herrschaft Tatzenhof|Lehen]], welches ihr [[Garetien:Orlan von Leuenberg|Bruder]] inne hatte, warf nicht genug ab. Er hätte sich Geld leihen können, gewiss hätte er, aber er konnte oder wollte das Geld auf diese Art nicht auftreiben. Manchmal drängte sich ihr der Verdacht auf, dass er nicht wollte, dass er diese Gefangennahme als die Gelegenheit ansah mich loszuwerden. Doch sie verwarf diesen düsteren Gedanken nach geraumer Zeit immer wieder nur um ihn später wieder herauszukramen. Ihr Verhältnis war nie sonderlich gut gewesen, aber auch nie sonderlich schlecht. Sie waren Geschwister, sie stritten miteinander, sie vertrugen sich wieder, sie stritten mit...
»Ihr?«, sie schüttelte den Kopf, »Ihr tut alles, was in eurer Macht steht. Dies jedoch...« Sie deutet mit einer Geste um sich herum. »... steht nicht in Eurer Macht.« Energisch nickte sie. »Es ist an der Zeit, dass sie endlich Schutz bei den Zwölfen sucht.« Mit ernster Miene betrachtete sie die Brüder. »Unter ihrem Schutz wird er es nicht wagen, Hand an sie zu legen, ganz gleich wie viel Schuld sie zuvor auf sich geladen hat. Sie werden Schützen ihre Hand über sie halten. In jedem Kloster, in jedem ihrer Tempel wäre sie sicher.«


„Ihr werdet also hier bleiben müssen“, schloss er und blickte sie direkt an, „Hier in [[Garetien:Baronie Schwarztannen|Schwarztannen]] und zwar so lange bis die Angelegenheit zu meiner Zufriedenheit geklärt wurde.
»Eingesperrt wäre sie«, meldete sich Salentin zu Wort, »Könnte diesen Ort nie wieder verlassen, ohne seinen Zorn zu spüren zu bekommen. Und das schlimmer als jemals zuvor. Nie wieder ihre [[Garetien:Gishelm Rondrawin von Schwarztannen|Söh]]... [[Garetien:Moribert von Schwarztannen|Kinder]] sehen.«


Mehr als ein schwaches Nicken brachte sie nicht zustande. Obgleich sie damit gerechnet hatte, war sie dennoch enttäuscht. Sie wollte Heim. Sie plagte das Heimweh. Am Schlimmsten fand sie es jedoch, hier eingesperrt zu sein. Sie hatte zwar alles, was ich brauchte, aber sie konnte diesen Raum hier nicht verlassen. Zwar konnte sie zum Fenster in den Hof der Burg hinausblicken, aber dort hinuntergehen konnte sie selbtredend nicht. Es war eintönig in ihrem Gefängnis, eintönig und langweilig. Ein jeder Tag war wie der andere und ein Ende war nicht in Sicht.
»Leben muss bewahrt werden. Um jeden Preis. So lehrt es meine Herrin. Und genau das gilt auch für [[Garetien:Algerte Phexlieb von Schwarztannen|Algerte]].« Sie hielt einen Moment inne. »Ihr Tod nutzt nur einem.«


„Euch hier allerdings weiter einzusperren, davon halte ich nichts.
Die Brüder nickten betrübt.


Verblüfft blicke sie auf.
»Aber welcher Tempel würde ihr Schutz gewähren?«, warf nun Salvin ein, »Ganz Schwarztannen weiß, was damals geschehen ist. Die Menschen haben sich die Mäuler über unsere Schwester zerrissen. Noch heute...« Seine zitternde Stimme brach. »Sie tun es noch heute.«


„Wenn Ihr mir vor den Göttern Gefolgschaft schwört und erkennbar meine Symbole tragt, die Euch offen sichtbar für alle als meine Gefangene ausweisen, werdet Ihr Euch freier bewegen können. Zuerst nur hier in diesem Gebäude, später – nachdem Ihr Euch bewährt habt – vielleicht in der gesamten Baronie. Es liegt nun an Euch: Soll ich den Geweihten des [[Praios-Kirche|Götterfürsten]] bestellen?“
Peralina zuckte mit den Schultern: »Bis heute kann ich nicht sagen, wem ich wirklich Glauben schenken kann.« Sie seufzte schwermütig. »So gerne ich ihr Glaube will, das Urteil war eindeutig.« Nun nickte sie. »Es gibt nur eine Kirche, die hier in der Baronie einen Tempel ihr eigen nennt und wenig auf die Ereignisse auf Dere gibt. Eine einzige.«


== Bedenkzeit ==
== Weißer Rabe ==
[[Garetien:Burg Scharfenstein|Burg Scharfenstein]]


[[Garetien:Leudane von Leuenberg|Sie]] bat sich Bedenkzeit aus. [[Garetien:Drego von Altjachtern|Baron Drego]] verstand. Er schien wirklich ein netter Mensch zu sein und darüber hinaus über ein gutes Herz zu verfügen und dennoch, dennoch nahm sie es ihm übel, dass er sie nicht einfach so gehen lassen wollte. Dabei verstand sie ihn. Wenn sie all die Sehnsucht nach meiner Heimat beiseite schob, dann verstand sie ihn. Er konnte sie nicht einfach gehen lassen. Nicht einfach so. Und sie konnte ihm nicht einfach Gefolgschaft schwören. Nicht einfach so.
=== Dunkelheit ===


= [[Albtraumgestalt — Briefspielreihe‎|Albtraumgestalt]] =
Als [[Garetien:Algerte Phexlieb von Schwarztannen|sie]] erwachte, war es still um sie herum. Still und dunkel. Die Luft war von Weihrauch erfüllt. Sie versuchte, sich zu orientieren. Zu begreifen, wo sie war. Aber sie wusste es nicht. Es war zu dunkel. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Glieder waren so unendlich schwer. So versuchte sie ihren Kopf zu heben, doch auch das schaffte sie nicht. Schmerzerfüllt sank sie zurück in das weiche Kissen und atmete angestrengt ein und aus. Ihr Kopf schmerzte. Sie biss die Zähne zusammen. Und erst da bemerkte sie: Sie war nicht allein.
== [[Geschichten:Albtraumgestalt – Petze|Petze]] ==
== Allein ==
'''[[Garetien:Ritterherrschaft Praiosborn|See Praiosborn]], Praios 1045'''


Als [[Garetien:Kysira Rosna|sie]] erwachte, war es dunkel. Es war kalt. Sie war komplett nass. Fror. Sie zitterte. Ihre Lunge brannte. Ihre Brust schmerzte. Sie bekam kaum Luft. Um sie herum war es stockfinster. Sie machte mich ganz klein, zog ihre Beine ganz dicht an sich heran, umfasste sie mit ihren Armen und begann leise zu wimmern. Ihr Wimmern hallte wieder. Regelrecht bedrohlich grollte es über sie hinweg. Da presste sie sich erschrocken ihre Faust auf den Mund. Wieder war es still. Ganz still. Totenstill. Sie schloss ganz fest die Augen und nahm sich fest vor, gleich wieder aus diesem schrecklichen Albtraum aufzuwachen.
Sie lag in einem Bett, das begriff sie jetzt. Und an ihrem Bett, da saß jemand. Auf der Bettkante saß jemand. Eine Gestalt. Dunkel zeichneten sich ihre Umrisse gegen die sie umgebende Finsternis ab. Ein Schatten. Mehr nicht. Ohne Gesicht. Bestehend aus Dunkelheit. Aus Finsternis. Doch sie hatte keine Angst. Keine Furcht.


Doch als sie erwachte, umgab sie schummrig, schauriges Licht. Sie setzte sich auf und schaute sich um. Das Glimmen ging vom Wasser neben ihr aus. Oft hatte sie dieses Glimmen schon gesehen. Es lag nicht nur hin und wieder über der [[Garetien:Ruine Praiosborn|Ruine Praiosborn]] sondern auch über dem See. Sie war also noch immer am Praiosborn oder... oder viel mehr darunter? Ihr Blick glitt weiter und sie erkannte eine Höhle. Sie war also in einer Höhle unter dem Praiosborn? Oder... oder war sie etwa... tot?
Der Schatten beugte sich über sie. Eine Hand oder vielleicht doch eher ein Flügel streifte über ihre Stirn. Ganz weich und anschmiegsam. Da wurden ihre Lieder so schwer, dass sie einfach zufielen. Der Schmerz wich zurück. Und ihr Bewusstsein auch.


Sie hatte noch nie so richtig über den Tod nachgedacht. Sie war jung. Und genaugenommen viel zu jung zum Sterben, aber... aber das spielte keine Rolle. Irgendwann starb man. Manche starben früher. Manche starben später. War sie nun an der Reihe? War sie tot? Und war dies hier jener Ort, an dem man gelangte, wenn man an der Brache starb? Die zwölf Götter waren fern, folglich kam man vermutlich nicht in eines ihrer Paradiese. Wo kam man aber dann hin? In die Niederhöllen? Waren sie das hier? Die Niederhöllen?
»Dem Raben gebührt, was des Raben ist«, raunte eine leise Stimme.


Sie stand auf und schaute sich weiter um. Das seltsame Glimmen spendete gerade so viel Licht, dass sie im halbdunkeln die Wände der kleinen Höhle erkennen konnte. War sie denn etwa durch das Wasser gekommen? Sie fröstelte. Noch immer war sie nass. Vermutlich war es wohl wirklich so. Sie musste durch den See gekommen sein. Durch das Wasser. Und wie kam ich hier wieder raus? Oder war sie doch tot?
=== Vergessen ===


Vorsichtig tastete sie sich an den Wänden der Höhle entlang. Das Gestein war kalt und glitschig. Sie fand einen schmalen Durchgang, durch den sie sich vermutlich hindurchquetschen würde können, doch sie zögerte. Die dahinter liegende Dunkelheit schien geradezu undurchdringlich und sie machte ihr Angst, schreckliche Angst. Noch nie war sie allein in der Finsternis gewesen und so fürchtete sie sich. Was mochte in dieser Finsternis liegen oder gar dahinter? An der Brache hatte sie schon von Vielerlei gehört. Schreckliche Dinge. Unvorstellbare Dinge. Auch das ein oder andere hatte sie gesehen, viel jedoch nicht, ihr [[Garetien:Yann Faad|Vater]] hatte sie immer geschützt, aber sie konnte sich Vieles vorstellen und das, ja das genügte.
Immer wieder erwachte sie. Und immer wieder sank sie in die Bewusstlosigkeit zurück. Aber mehr und mehr nahm sie die Welt um sich herum wahr. Geweihte des Schweigsamen kamen, wuschen ihren kraftlosen Körper, wechselten die Verbände an ihrem Kopf, flößten ihr Brühe ein. Sie sprachen kaum, beantworteten ihre Fragen nur spärlich, beteten aber für sie und mit ihr, meist schweigend. Und so seltsam sie das auch zu beginn fand, so erfüllten sie die Gebete mehr und mehr.


Sie versuchte durch das glimmende Wasser zu kommen, doch sie schaffte es nicht. Sie schaffte es nicht ihre Augen unter Wasser zu öffnen. Blind tastete sie sich durch das Wasser und fand doch nichts. Da war nur Wasser. Eine endlose Menge Wasser. Und einfach kein Durchgang. Kein Durchgang. Absolut nichts. Erschöpft legte sie sich am Rande des kleinen Sees nieder und weinte bittere Tränen. Dem leisen Säuseln des Wassers lauschend fiel sie in einen bibbernden, traumlosen Schlaf.
Irgendwann jedoch kam eine Geweihte der Herrin Peraine. Eine älter Frau mit grauem Haar. Ein leichter Geruch von Knoblauch hing in der Luft. Vermischte sich mit dem Weihrauch. Die Geweihte setzte sich an ihr Bett, nahm die Hand der Verwundeten in ihre und blickte sie dann lange an.


== Fette Spinne ==
»Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du noch am Leben bist«, eine einzelne Träne rollte der Geweihten die Wange hinab. Sie wischte sie nicht fort. Sie tropfte auf ihre Robe und hinterließ einen kleinen nassen Fleck.
'''[[Garetien:Ritterherrschaft Praiosborn|See Praiosborn]], Praios 1045'''


Als sie wieder erwachte, war das Glimmen nicht weniger geworden, aber die Finsternis war näher gekommen. Sie war aus diesem Spalt herausgekrochen. Beklemmung befiel sie und eine panische Angst breitete sich in ihr aus. Sie wollte schreien, schreien obgleich dieser entsetzlichen Dunkelheit, aber es war ihr, als drücke ihr jemand die Kehle zu. Ihr fehlte die Luft. Ihr fehlte die Kraft. Und die Dunkelheit griff nach ihr.
»Wo bin ich?«, hob die Verwundete an.


Da war etwas. Da saß etwas in diesem Spalt. Ein Wesen aus Finsternis. Aus tiefer Dunkelheit. Sie war sich sicher. Sie wusste, es war da. Sehen konnte sie es nicht, aber sie konnte es spüren. Gänsehaut kroch ihre Arme hinauf und breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Es war in diesem Spalt. Es saß da. Es hauste da. Wie eine widerliche, haarige, fette Spinne. Mit seinen langen tentakelgleichen Beinen suchte es nach ihr, tastete sich aus seinem Spalt heraus, dabei schnüffelte und schniefte es, seufzte und ächzte, wagte sich immer weiter heraus und damit immer mehr zu ihr. Es wollte nach ihr greifen. Sie robbte weiter weg, weiter und weiter, bis sie nicht mehr weiter konnte, bis da nur noch der blanke Fels neben ihr war. Die kauerte sich daran. Drücke sich dagegen. Doch es kam näher. Und je näher es kam, desto schmerzlicher wurde die Gänsehaut, die sich über ihren Körper zog, desto mehr zitterte sie, desto mehr bibberte sie. Plötzlich packte es sie, umschlang mit seinen haarigen Tentakelbeinen ihre Beine. Sie nahm ihren ganzen Mut und ihre ganze ihr verbliebene Kraft zusammen und schrie: „GEH WEG! LASS MICH IN RUHE!“
»Im Schoß des Ewigen«, erklärte die Geweihte und blickte gütig auf die Frau hinab. In ihren alten Augen lag Wärme und Zuversicht. »In einem seiner Tempel.«


Da ließ es sie fallen. Hart schlug sie auf dem Boden auf. Ihr Mund füllte sich augenblicklich mit Blut. Sie rang verzweifelt um Atem. Und das Wesen zog sich zurück.
Langsam nickte sie: »Was ist passiert?«


== Unterredung ==
»Du warst dem Tod sehr nahe«, erklärte die Geweihte, »Sehr nahe. Aber Golgari, so sagten uns seine Diener, hatte noch nicht entschieden. Und so kämpften wir um dein Leben. Und sie halfen uns.«
'''[[Garetien:Ritterherrschaft Praiosborn|See Praiosborn]], Praios 1045'''


''IcH KaNN DiR HelFEn.''
»Wir?«


„Lass mich in Ruhe!“, schrie sie panisch und hielt sich die Ohren zu.
»Die Zwillinge und...«


''IcH kaNn dIR HeLFen.''
»Salvin und Salentin«, fiel sie ihr ins Wort.


“Geh weg!“, erwiderte sie dieses Mal und presste nur noch fester ihre Hände gegen ihre Ohren.
Die Geweihte kniff ihre Augen zusammen: »So ist es.«


''ICh HabE Dir GEholFEn.''
»Sie sind die Zwillinge der Gutsverwalterin. Ich weiß.« Sie nickte. »Wie geht es meiner Mutter?« Sie versuchte sich aufzusetzen. Die Geweihte half ihr. Schob ihr ein Kissen in den Rücken. Und setzte sich dann wieder. »Hm«, machte sie im Anschluss, »Kennst du ... deinen Namen?«


„Du lügst“, erwiderte sie. Diese Stimme, diese entsetzliche Stimme, sie kam nicht von außen, sie war in ihr. Sie war irgendwie in ihr und ganz gleich, wie sehr sie versuchte sie auszusperren und sich die Ohren zuzuhalten, die Stimme ging nicht weg. Sie war einfach in ihr. Sie war in ihr drin. Nur wenn sie schrie, wenn sie gegen sie an schrie, dann verstummte sie.
»[[Garetien:Algerte Phexlieb von Schwarztannen|Algerte]]«, die Angesprochene und zog ihre Stirn fragend kraus, »Mein Name ist Algerte Phexlieb von Waldfang. Und mein Vater gab mir den Namen Phexlieb, weil ich im Phex geboren bin. Am Tag des Glücks. Am Tag des Phex. Mutter hielt es erst für einen Scherz, aber es war keiner.«


''iCH habE DIcH GereTTEt.''
Erneut nickte die Geweihte nachdenklich.


„Du lügst“, versuchte sie es erneut, „Du bist böse.
»Warum bin ich nicht in seinem Tempel?«, wollte sie verwundert wissen, »Ich sollte ihm dienen.«


''icH HABe DiCH gErettET. WiE KanN IcH Da bÖSe sEIn?''
»Hm«, machte die Geweihte erneut, »Erinnerst du dich an mich?«


„Du bist böse!“, wiederholte sie erneut, „Du bist durch und durch böse. Nichts was aus dem Praiosborn kommt kann gut sein.“
Sie zog die Stirn kraus. Musterte die Geweihte kritisch: »Kennen wir uns?«


''dANn WAr eS NicHt gUt, daSs IcH DIcH GErettET hABe?''
»Ich bin [[Garetien:Peralina Tempeltreu|Peralina Tempeltreu]]«, stellte sie sich vor, aber Algerte schüttelte nur Kopf. Peralina nickte noch nachdenklicher. »Kannst du mir sagen, wer der Kaiser des Mittelreiches ist?«


Sie schwieg.
»[[Valpo|Valpo von Almada]].«


''HäTTe IcH DicH BeSsEr IM waSsER LiEGen LasSeN soLLeN? IHr meNSchEN HänGT aN EurEM LEbEN. wENn dU Es NichT WillSt, DanN kANNst Du ES jETzT Zu enDE bRInGEn. gEH iNS wAsSEr oDer… OdEr lASSe DiR vOn Mir heLFen. IcH WeRDe hIEr aUF dEInE enTSchEIDunG wARtEN. ICh WerDe hIEr wARtEn. hIEr iN dIEseM SPalt. iCH BiN hIeR. DU WeißT, wO Du MiCH FinDEN kANnsT.''
=== Schutz ===


== Verhängnis ==
»Wer ist der Kaiser?«, wollte [[Garetien:Algerte Phexlieb von Schwarztannen|Algerte]] von der Geweihten wissen, nachdem diese sich um ihre Wunde gekümmert und auf die Kante ihres Bettes gesetzt hatte um zu beten.
'''[[Garetien:Ritterherrschaft Praiosborn|See Praiosborn]], Praios 1045'''
Es dauerte, geraume Zeit verstrich, aber dann, ja dann kam sie zu ihm oder… zu ihr? Wer vermochte das denn schon so genau zu sagen? Irgendwann war Hunger, Kälte und Verzweiflung einfach zu viel für das Mädchen. Und in jenem Augenblick, da sie entschied, es könne ja nicht noch schlimmer werden, entschied sich ihr Schicksal.


„Hilf mir“, bat sie.
Die Geweihte hob langsam ihren Kopf, schob mit einer eleganten Bewegung die Kapuze ihrer schwarzen Robe zurück und offenbarte ihr rotes Haar. Sie hob ihren Blick. Jung wirkte ihr Gesicht. Doch ihre blau-grünen Augen offenbarte, dass sie nicht mehr so jung sein konnte. Andächtig faltete sie ihre Hände und legte diese in ihren Schoß. »Es gibt viele«, erwiderte die Geweihte ruhig, »und doch keinen einzigen.«


In dem Spalt war es ruhig. Dort war nur Dunkelheit.
»Hm«, machte Algerte, »Wie du das sagst.« Sie schüttelte den Kopf. »Dann ist das Reich ohne Herren. Aber du sagt das so, als würde es dich nicht ... im geringsten kümmern.«


„Hilf mir hier raus“, versuchte Kysira es erneut.
»Es kümmert den Ewigen nicht«, erklärte sie langsam nickend, »Und damit kümmert es auch mich nicht. Dem Ewigen schert vieles nicht. Ihm ist gleich, was für Titel wir uns geben, welche Länder wir beanspruchen oder auch nur was wir besitzen. Vor ihm sind wir alle gleich. Ein jeder von uns.« Sie hielt einen Moment inne. »Eines Tages werden wir ihm alle gegenüber treten. Uns alle ereilt dasselbe Schicksal.«


Es blieb ruhig. Die Dunkelheit war einfach nur Dunkelheit. Leise gluckerte das Wasser hinter ihr. Hatte sie sich das alles nur eingebildet?
Algerte blickte sie lange an: »Aber das bedeutet ... das heißt ja ... es ist Zeit vergangen, an die ich mich nicht erinnere?«


„Bitte“, flehte sie nun.
»Eine Gnade des Herrn des Vergessen«, kam die Antwort der Geweihten prompt, »um die dich viele beneiden.«


Doch auch dieses Mal tat sich in dem Spalt nichts. Wieder war da einfach nur Dunkelheit. Gewöhnliche Dunkelheit. Dann… dann musste sie sich das doch eingebildet haben? Ja, dann… dann musste sie es sich wirklich eingebildet haben.
»Was willst du mir damit sagen?«


Kysira ließ ihren Kopf resigniert hängen, wandte sich um und entfernte sich einige Schritte und war plötzlich von vollkommener Finsternis umfangen und bittere Kälte. Ihr Herz setzte einen Moment aus. Es war so finster, dass sie ihre eigene Hand vor ihren Augen nicht einmal mehr erkennen konnte. Die unsägliche Kälte machte ihr das Atmen schwer. Und hinter ihr pulsierte die Finsternis...
»Gewiss hatte der Ewige einen guten Grund dir das Geschenk des Vergessen zu schenken, denn das ist es, ein Geschenk. Sein Geschenk. Er gewährt es nicht vielen. Und er gewährt es nicht ohne Grund«, langsam nickte sie, »Er hat noch etwas mit dir vor. Du bedeutest ihm etwas.«


IcH HElfE DiR UnD dU HilFsT mIR.  
»Wird er es mir ... sagen?«, wollte sie wissen, »Wird er mir mitteilen, was er mit mir vorhat? Was ich für ihn tun soll?«


Kysira begann zu zittern. Die Finsternis wurde noch undurchdringlicher, pulsierte zunehmend stärker
Sie zuckte mit den Schultern: »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wer vermag das schon zu sagen? Dem Raben gebührt, was des Raben ist.« Und für die Geweihte war damit alles gesagt.


HiLFe gEGen hilFE.
»Und die Welt dort draußen?«


„Gut“, brachte sie hervor, „Was... was willst du?
»Verlasse den Tempel des Ewigen nicht, Algerte«, riet die Geweihte und blickte plötzlich sehr ernst drein, »Der Ewige schützt dich. Er gibt auf dich acht. Aber er kann das nur in seinem Schoß tun. Du musst wissen, die Welt dort draußen ist gefährlich. Auch wir gehen nur hinaus, wenn uns sein Ruf ereilt.« Damit erhob sie sich und wollte bereits das Zimmer verlassen als Algerte noch einmal das Wort ergriff: »Wie ist dein Name?«


Die Finsternis hatte sie umschlungen, hielt sie fest. Sie spürte deren pulsieren in ihrem Körper.
»[[Gareiten:Etilinae Tempeltreu|Etilinae]]«, sie wandte sich zu der anderen um, »Er machte ihn mir zum Geschenk. Wirst auch du sein Geschenk annehmen?«


niMM eTWas miT DiR. NimM eS MIT hINauS. Es GEhöRT nUn Zu dIR. VeRLIEre ES nICHT. eS Ist dEIn. UnD dU bIST SeIN.
<!--
[[Garetien:Esmeria_Darando_della_Tenna|Esmeria Darando della Tenna]]
-->
<!--
= Fische im Netz =
== Bedenkzeit ==
[[Garetien:Burg Scharfenstein|Burg Scharfenstein]]


[[Garetien:Leudane von Leuenberg|Sie]] bat sich Bedenkzeit aus. [[Garetien:Drego von Altjachtern|Baron Drego]] verstand. Er schien wirklich ein netter Mensch zu sein und darüber hinaus über ein gutes Herz zu verfügen und dennoch, dennoch nahm sie es ihm übel, dass er sie nicht einfach so gehen lassen wollte. Dabei verstand sie ihn. Wenn sie all die Sehnsucht nach meiner Heimat beiseite schob, dann verstand sie ihn. Er konnte sie nicht einfach gehen lassen. Nicht einfach so. Und sie konnte ihm nicht einfach Gefolgschaft schwören. Nicht einfach so.
-->
<!--
= [[Albtraumgestalt — Briefspielreihe‎|Albtraumgestalt]] =
== Einhornfrau ==
== Einhornfrau ==
'''[[Garetien:Ritterherrschaft Praiosborn|See Praiosborn]], Praios 1045'''
'''[[Garetien:Ritterherrschaft Praiosborn|See Praiosborn]], Praios 1045'''
Zeile 228: Zeile 357:


= Das dritte Kind =
= Das dritte Kind =
== Vernunft ==
== Albträume ==
[[Garetien:Burg Praiosborn|Burg Praiosborn]], Anfang Hesinde 1045 BF
'''[[Garetien:Burg Scharfenstein|Burg Scharfenstein]], Firun 1045 BF'''


Zärtlich strich [[Garetien:Nurinai ni Rian|Nurinai]] ihrer ältesten Schwester das Haar aus der schweißnassen Stirn. Die Reichsritterin war blass und erschöpft.
''Im Zimmer war es nahezu finster, obgleich draußen die Praiosscheibe hoch am Himmel stand. Die Luft war stickig und muffig, es roch nach kaltem Schweiß und nach Blut. Einige Kerzen versuchten die düstere Stimmung mit ihrem diesigen Licht zu vertreiben und vermochte es doch einfach nicht. Es war still. Entsetzlich still. Totenstill. [[Garetien:Ailsa ni Rian|Ailsa]] lag ruhig auf dem Bett, nahezu reglos.''


„So geht das nicht weiter, ''weiße Lilie''“, hob sie an und stellte die Schüssel mit dem Erbrochenen ihrer Schwester beiseite, „Du kannst nichts mehr bei dir behalten. Das ist nicht gut.“
''„Ist es... ist es... tot?, wisperte er leise der [[Garetien:Lindegard Tempeltreu|Hofkaplanin]] neben ihm zu.''


[[Garetien:Ailsa ni Rian|Ailsa ni Rían]] ließ sich erschöpft in ihre Kissen gleiten.
''„Ja“, hauchte sie fast tonlos und nickte zaghaft, „[[Garetien:Ederlinde Etilia von Altjachtern|Es]] ist tot und... und Eure Gattin...“ Erleichtert seufzte [[Garetien:Drego von Altjachtern|Baron Drego]]. Erleichtert, weil er sich nun nicht mehr entscheiden musste, wie er mit einem Kind umgehen sollte, dass doch nicht seines war. Die Götter hatte ein einsehen gehabt und ihn von dieser Entscheidung freigesprochen. „Die Götter haben weise entschieden“, schloss er und nickte ernst.''


„Du liegst seit Tagen nur in deinem Bett, kannst kaum aufstehen, noch weniger essen und davon nichts bei dir behalten. Das geht so nicht weiter.“
''Die Peraine-Geweihte blickte ihn fassungslos an und schüttelte ihren Kopf. Mit anklagender Stimme erklärte sie: „Hochgeboren, wie könnt Ihr von einer weisen Entscheidung der Götter sprechen? Es war Eure Entscheidung! Eure allein! Und dadurch das Ihr nichts entschieden habt und untätig wart haben die Götter nun ihre weise Entscheidung gefällt das Ungeborene nicht allein übers Nirgendmeer zu schicken.“''


„Dann hilf mir“, flehte die Reichsritterin mit halbgeöffneten Augen während sie mit ihren Fingern nach ihrer Schwester zu greifen versuchte, doch ihr fehlte die Kraft auch nur ihre Finger auszustrecken, „Bitte, ''blühende Narzisse'', bitte.“
''Ein kalter Schauer ergriff von ihm Besitz, seine Hände begannen zu zittern, ungläubig schüttelte er seinen Kopf, dann stürzte er an das Bett seiner Liebsten nur um...''
 
Nun trat die Angesprochene an das Bett ihrer Schwester heran und deckte sie zu, wobei sie nahezu beiläufig anmerkte: „Wir müssen [[Garetien:Lindegard Tempeltreu|Schwester Lindegard]] bitten zu kommen.“
 
„Nein“, erwiderte Ailsa da so energisch sie konnte und schüttelte schwach ihren Kopf, „Nein.“
 
„Doch“, nun setzte sie sich zu ihr und strich ihr erneut das feuchte Haar aus der Stirn, „Doch. Es führt kein Weg daran vorbei.“
 
„Aber... aber warum hilfst du mir denn nicht, ''blühende Narzisse''? Warum nur?“, mit glitzernden Augen schaute sie die Geweihte an.
 
„Ich bin eine Dienerin des [[Boron-Kirche|Schweigsamen]]“, erklärte sie mit ruhiger und leiser Stimme, „So lange dieses Kind nicht tot ist kann ich nichts tun. Wir brauchen jemanden, der sich nicht nur mit den Lebenden beschäftigt sondern auch jemanden, der sich mit Schwangerschaft und Geburt auskennt. Lindegard ist die beste Wahl.“
 
„Sie ist [[Garetien:Drego von Altjachtern|Dregos]] Hofkaplanin!“, entfuhr es der Ritterin entsetzt, „Sie wird ihm alles verraten. Alles.“
 
„Nein“, nun schüttelte Nurinai den Kopf, „Gewiss nicht, ''weiße Lilie'', gewiss nicht. Sie wird dir helfen und sie wird schweigen, weil wir sie darum bitten.“
 
„Das kannst du nicht wissen“, raunte sie, „Sie ist ihm loyal, nicht mir.“
 
„Sie ist vor allem ihrer [[Peraine-Kirche|Herrin]] loyal und jenen, denen sie beisteht. Sie ist eine Geweihte, was denkst du eigentlich von uns? Wenn man uns bittet zu schweigen, dann müssen wir schweigen. Außerdem was hätte sie davon, dich zu verraten?“
 
Noch immer schüttelte Ailsa unwillig den Kopf: „Ich will sie nicht hier haben.“
 
Nun seufzte die Geweihte: „Ist dir überhaupt klar, dass du da möglicherweise das Todesurteil über dein [[Garetien:Ederlinde Etilia von Altjachtern|Kind]] sprichst? Du brauchst dringend jemanden, der dir hilft. Jemand, der etwas davon versteht. Jetzt sei doch einmal vernünftig. Ein einziges Mal. Soll dein Kind leben oder sterben?“
 
Fassungslos schaute die Reichsritterin nun ihre Schwester an.
 
„Also?“
 
„Leben“
 
„Dann schicken wir nach Schwester Lindegard.“
 
„Gut.“
 
== Vorläufig ==
[[Garetien:Burg Praiosborn|Burg Praiosborn]], Ende Hesinde 1045 BF
 
„Ich mache mir ernsthaft Sorgen“, erklärte [[Garetien:Lindegard Tempeltreu|Lindegard Tempeltreu]] mit fester Stimme nachdem sie die Reichsritterin gründlich untersucht hatte, „Was Ihr mir erzählt, dass klingt wirklich nicht gut. Wie lange geht das schon so?“
 
„Es war eine geraume Zeit mal besser“, erwiderte [[Garetien:Ailsa ni Rian|Ailsa]] mit brüchiger Stimme, „Seit Beginn des Winters ist die Übelkeit dann wiedergekommen und das schlimmer als zuvor.“
 
Einfühlsam nickte die Hofkaplanin: „Ich kann Euch nur dringend raten mich nach [[Garetien:Burg Scharfenstein|Scharfenstein]] zu begleiten. Dort kann ich mich jederzeit um Euch kümmern, der Peraine-Tempel ist nicht weit und Euer Gatte...
 
„[[Garetien:Drego von Altjachtern|Drego]] weiß es nicht“, fiel ihr Ailsa ins Wort.
 
„Oh?“, entfuhr es Lindegard sichtlich fassungslos, „Aber... aber... aber warum das denn nicht?“
 
Die Reichsritterin blickte betreten drein, machte aber keine Anstalten etwas zu sagen. Die Hofkaplanin blickte hilfesuchend zu den Schwestern der Baronin.
 
„Na“, meinte [[Garetien:Scanlail ni Rian|Scanlail ni Rían]] da mit leicht spöttischem Unterton, „Denkt mal scharf nach.“
 
„Halt den Mund, ''thorwalsche Rose''“, zischte Ailsa.
 
„Ich habe überhaupt nichts gesagt. Ich hab nur gesagt, dass sie mal scharf...“
 
„Klappe zu“, polterte [[Garetien:Nurinai ni Rian|Nurinai ni Rían]] da energisch und brachte damit ihre beiden älteren Schwestern zur Räson, „Ihr werdet ihm nichts sagen.“
 
„Ähm“, Lindegard stutzte. Sie zog ihre Stirn kraus. „Ja. Also... also wenn Ihr das so wünscht, dann... dann werde ich natürlich schweigen, aber... ich... ich verstehe nicht warum.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Warum solltet Ihr Eurem Gatten und Vater des Kindes Tsas erneuten Segen vorenthalten?“
 
Da lachte die Skaldin: „Erstaunlich, wie schnell ihr zum Kern des Probl...“
 
„SCHNAUZE“, schrie Ailsa wütend und warf ein Kissen nach ihrer Schwester.
 
„Oh, jetzt habe ich aber Angst“, foppte Scanlail sie da.
 
„Ich hasse dich!“, entfuhr es der Reichsritterin, „Du bist echt das Letzte.“
 
„Ja, ja“, winkte die Angesprochene da ab, „Ich dich auch. Ich dich auch.“
 
Nurinai verdrehte nur genervt die Augen.
 
Und die Hofkaplanin begriff plötzlich was das Problem war und ihr entfuhr ein: „Oh Herrin [[Peraine-Kirche|Peraine]] steh mir bei.“ Dann war es einen Moment still. „Ich hallte es trotzdem für besser, wenn ihr mit mir nach Scharfenstein kommt. Ja, ich könnte hier bleiben, aber meine Mittel hier sind begrenzt und zudem weiß ich in [[Garetien:Baronie Schwarztannen|Schwarztannen]] ganz genau wo ich Hilfe finde, wenn ich mit meinem Können am Ende bin.“
 
„Nein“, erwiderte die Baronin entschieden, „Ich gehe nicht zurück. Ich will das nicht.“
 
Lindegard seufzte: „Gut. Dann... dann werden wir es so versuchen.“ Sie schluckte. „Ich werde Euch das ein oder andere da lassen und Euer Gnaden darin unterweisen, wie es anzuwenden ist. Wenn es jedoch nicht besser wird oder gar noch schlimmer, dann muss euer Weg nach [[Garetien:Burg Scharfenstein|Scharfenstein]] führen ansonsten fürchte ich, dass nur Golgari auf Euer Kind und vielleicht auch sogar auf Euch wartet.“
 
== Heimkehr ==
[[Garetien:Burg Scharfenstein|Burg Scharfenstein]], Firun 1045 BF
 
Es ging nicht lange gut, dann sah selbst [[Garetien:Ailsa ni Rian|Ailsa]] ein, dass ihr ganzer Starrsinn nicht half und es besser war sich zu fügen und bei Drego zu kreuze zu kriechen. Die Reise nach Scharfenstein war eine unfassbare Tortur, aber es gelang. Unglücklicherweise war der erste, der sie aufsuchte ihr Gatte...


{{Trenner Garetien}}
{{Trenner Garetien}}


„''Orknäschen''?“, rief [[Garetien:Drego von Altjachtern|Drego von Altjachtern]] und eilte eilig in das Zimmer hinein, „''Orknäschen''! Da bist du ja endlich! Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue. Oh, ''Orknäschen'', mein liebes ''Orknäschen'', jetzt bist du endlich wieder hier. Endlich.
... schweißgebadet und schreiend zu erwachen. Drego von Altjachtern setzte sich auf und rang um Atem und noch mehr um Fassung. Kaum einen Wimpernschlag nachdem er von diesem entsetzlichen Traum aus dem Schlaf gerissen worden war, klopfte es an der Tür und [[Garetien:Jast Helmbald von Schwippingen|Jast]] trat herein: „Hochgeboren, braucht Ihr etwas?“
 
Die Reichsritterin saß auf dem Bett und blickte auf. [[Garetien:Stordan Raulfried von Gerbachsroth|Stordan]] und [[Garetien:Lorine von Boltansroden|Lorine]] zogen ihre gerade die Stiefel aus. Die Schneeflocken auf ihrem Umhang begannen zu schmelzen.
 
„Ich habe die [[Garetien:Drego Danos von Altjachtern|Kin]][[Garetien:Luned Lechmin ni Rian|der]] mitgebracht“, erklärte sie ihrem Gatten erschöpft.
 
„Du bist ja ganz blass“, stellte er fest, „Geht es dir immer noch nicht besser?“
 
„Hat [[Garetien:Lindegard Tempeltreu|Schwester Lindegard]] mit dir gesprochen?“
 
Nun schluckte er: „Sie hat nur gesagt, dass es dir gerade nicht gut geht. Mehr wollte sie mir nicht sagen. Auch nicht, was genau mit dir ist.“
 
„Drego“, sie schluckte schwer, „Wir müssen reden. Setz dich zu mir. Lorine und Stordan lasst uns allein.“ Die Pagen ginge. Schwerfällig setzte sich Drego neben sie auf das Bett. Sie trug noch immer ihren schweren Umhang.
 
„Was ist mit dir, ''Orknäschen''?“


„Ich bin schwanger.
„Wo ist ''Orknäschen''?“, wollte er wissen.


Erst breitete sich ein erfreutes Lächeln auf seinem Gesicht aus, dann jedoch verfinsterte sich zunehmend seine Miene. „Das kann nicht sein“, erwiderte er kopfschüttelnd und fügte mit schriller werdenden Stimme hinzu: „Seit der Geburt unserer Kinder hast du mich immerzu abgewiesen.“
„Ähm“, der Knappe schien einen Moment irritiert, „Ihr habt sie am Morgen nach Esenfeld zu meiner [[Garetien:Rondrara von Treleneck|Mutter]] bringen lassen, Hochgeboren.“


„Ja“, sie wandte ihren Blick von ihm ab. Vor diesem Augenblick hatte sie sich seit Monden gefürchtet und immer gehofft, er würde nie kommen. Nun war es so weit und es war noch entsetzlicher als sie es sich ausgemalt hatte. Sie wusste, dass er sie liebte. Aus tiefem Herzen liebte er sie und sie musste ihm jetzt das Herz brechen.
„Ja“, stimmte Baron Drego ihm tonlos zu, „Dann... dann... dann bringt mir Schwester Lindegard. Sofort.


„Aber... aber... aber das hieße doch...“ Er konnte nicht aussprechen, was doch jeder von ihnen wusste.
„Ja“, erwiderte der Knappe da, „Sehr wohl.“


„Ja“, bestätigte sie, „Das heißt es.“
Doch nach einiger Zeit kam er ohne die Geweihten zurück: „Schwester Lindegard ist nach [[Garetien:Wehrhof Esenfeld|Esenfeld]] zu Eurer Gattin aufgebrochen. Meine Mutter hat nach ihr geschickt.“


„Wer?“, verlangte er zu wissen, „Wer war es?“
„Dann... dann bring mir Euer Gnaden Rían“, verlangte er.


Sie schüttelte ihren Kopf.
„Welche?“


„Du sagst mir jetzt sofort seinen Namen“, er packte sie an ihrer Schulter, „Sag ihn mir. SOFORT!
Er verdrehte die Augen: „Euer Gnaden [[Garetien:Elerea ni Rian|Elerea ni Rian]].“


Doch wieder schüttelte sie ihren Kopf.
„Hält sich derzeit wahrscheinlich in ihrem [[Garetien:Tempel zu Ehren der Heiligen Thalionmel zu Schwarztannen|Heimattempel]] in Schwarztannen auf“, konnte er nur vermuten, „Auf Scharfenstein ist sie jedenfalls nicht. Doch zu dieser nachtschlafenden Zeit sind die Stadttore [[Garetien:Stadt Schwarztannen|Schwarztannens]] geschlossen. Soll ich Euer Gnaden [[Garetien:Nurinai ni Rian|Nurinai ni Rían]] wecken?“


„Ich habe ein Recht es zu wissen. Ich habe die Pflicht es zu wissen. Ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen. Ich muss ihn zur Rechenschaft ziehen. Du bist MEINE FRAU. MEINE.“
„Nein“, entschied er, „Nein. Es wird auch so gehen. Gehen müssen. Ich möchte beten, geh jetzt.“


„Nein.“
== Bitte ==
Gegeben im Tsa 1045, Esenfeld


Da packte er sie noch fester, schüttelte sie und verlangte erneut und dieses Mal noch energischer und unnachgiebiger: „Sag ihn mir.“
{{Brief
|Adressat=An Euer Hochgeboren [[Garetien:Drego von Altjachtern|Drego von Altjachtern]], Baron zu [[Garetien:Baronie Schwarztannen|Schwarztannen]], [[Garetien:Burg Scharfenstein|Burg Scharfenstein]]<br/><br/>
Liebster Drego,


„Du tust mir weh!“, wimmerte sie, „Geh jetzt. Geh bevor du etwas tust, was du bereuen wirst.
|Text=so gerne ich unsere Kinder auch sehe und sie um mich habe, so sehr muss ich Dich nun darum bitten, sie nicht mehr zu mir bringen zu lassen. Nicht nur, dass der Weg für sie aufgrund ihres Alters doch recht beschwerlich ist, sondern ich kann mich derzeit auch nicht richtig um sie kümmern. Sie lernen gerade die Welt zu entdecken und ich bin ihnen dabei mehr Last als Hilfe. Abgesehen davon ist es mein Wunsch, dass sie sich nicht so an mich erinnern. Trotz der Ruhe und Pflege die mir hier zuteilt wird bessert mein Zustand sich leider bisher nicht. Ich bete zu den Göttern, dass sie mir beistehen. Mehr bleibt mir nicht zu tun. Die Zeit wird zeigen, ob die Götter mich erhören werden. Bis dahin gib gut auf unsere Kinder acht.


Abrupt ließ er sie los, als wäre sie ein ekelerregende Spinen, die er versehentlich mit den Fingern gepackt hatte: „Ich... ich... ich wollte nicht... Ich...“
|Absender=[[Garetien:Ailsa ni Rian|Ailsa ni Rían]]<br/>Reichsritterin zu Praiosborn


„Ja, ich weiß“, erwiderte sie und strich sich eine einzelne Träne von ihrer Wange. Es schmerzte sie ihn so zu sehen. Das hatte sie so doch nicht gewollt. Nein, ganz gewiss hatte sie das so nicht gewollte und deswegen sagte sie etwas, was ihr zum Vorteil gereichen sollte: „Ich auch nicht, Drego. Ich auch nicht. Geh jetzt bitte, ich muss mich hinlegen. Mir ist nicht gut.“
}}


=Weitere Ideen=
=Weitere Ideen=
Zeile 376: Zeile 414:
*Die Krähe und ihr falsches Täubchen
*Die Krähe und ihr falsches Täubchen
*Hühnerbeinchen für Drego
*Hühnerbeinchen für Drego
-->

Aktuelle Version vom 25. Oktober 2025, 19:56 Uhr

Hier entstehen meine Briefspieltexte und werden sorgsam verwahrt, bis ich weiß, wohin sie sollen.
Es ist ausdrücklich erlaubt, Rechtschreibfehler sowie Fehler der Zeichensetzung zu korrigieren, genauso wie verloren gegangene Buchstaben richtig zu ergänzen und überzählige einzusammeln - dies gilt auch für meine anderen Texte.

Custōsa

Gedanken

Zurückzublicken und die eigenen Taten zu beurteilen, ist den Menschen wohl zu tiefst zu eigen. Damit einher geht natürlich, was man mit dem heutigen Wissen als hätte ändern können. Hätte man dieses eine damals bereits gewusst, hätte man alles zum Besseren wenden können, die Welt wäre eine ganz andere, eine bessere. Ja, dieser Blick zurück. Wie verlockend er doch ist. Wie verheißend! Und wie töricht zu gleich. Wie die Menschen nur glauben können, eine einzige Entscheidung von ihnen hätte den Lauf der Dinge ändern können? Sind sie doch nicht mehr als ein winziger Wassertropfen im sommerlichen Morgendunst. Kaum sichtbar, wenig mehr als ein hauchdünner Schleier, durch den man in die Welt blickt, der kaum etwas verhüllt und der ebenso schnell und abrupt verschwindet, wie er gekommen ist. Das Ende unausweichlich und unabdingbar. Und obwohl sie sich ihrer eigenen Bestimmung bewusst sind, nämlich der, dass sie alle sterben werden, verhalten sie sich nicht so. Sie geben nicht acht. Sie riskieren. Angetrieben vom Gefühl, dass sie mehr verdient haben. Mehr als andere. Weitaus mehr. Von Hass und Ehrgeiz, Neid und Eifersucht zerfressen, vergessen sie ihre eigene Sterblichkeit und riskieren, das einzige, das sie wirklich ihr eigen nennen können: Ihr Leben. Interessant, nicht wahr?

Aus dem Vorwort der »Wege der Wächterinnen«

Esenfeld

Fremder

ZSF01: Ein Fremder kommt nach Esenfeld

Wehrhof Esenfeld, Rahja 904 BF

»Es ist Zeit«, hob der Fremde an und bedachte die Frau ihm gegenüber aus seinen kalten, blauen Augen voller Abscheu. Der Mann saß hoch zu Ross. Es war ein harter Mann von kräftiger Statur, dabei ungewöhnlich groß und mit noch immer dichtem schwarzen Haar. Über einem Kettenhemd trug er einen Wappenrock in Schwarz und gelb, den Farben der Baronie Schwarztannen. Ein Schwert in einer kunstvollen Scheide hing an seiner linken Seite. Seine Begleiter waren ebenfalls gerüstet und bewaffnet. Grimmig schauten sie drein. Der Bannerträger, der das Wappen der Familie Schwarztannen führte, blickte zum wolkenverhangenen Horizont hinauf. Ein einzelner Regentropfen verirrte sich auf seine Wange. Ein Sturm zog auf. Noch jedoch war es unerträglich heiß und schwül.

»Einen weiteren Götterlauf«, erwiderte sie ihm und blickt ihn mit ihren weichen, braunen Augen wie ein verhuschtes Reh an. Ihr dunkelblondes Haare fiel sanft um ihr Gesicht. »Nur noch einen. Es wird der letzte sein. Ich bitte dich, Ardo, nur noch dieses eine Mal.«

»Nein«, erwiderte der Ritter barsch und ließ seine Rechte durch die Luft schnellen, »Nichts da.«

»Im Namen der Götter«, hob sie nun an und beugte beide Knie, ihr Haupt hielt sie dabei gesenkt, »Im Namen der Sturmherrin, ich flehe dich an. Lass mir meine Kinder. Es ist ein einziger weiterer Götterlauf, um den ich dich bitte. Nur einen noch. Danach sind sie dein. Ich schwöre es.« Bei den letzten Worten blickte sie auf. Ihre Blicke trafen sich. »Vor dem Gerechten.«

Er lachte nur: »Vorbei sind die Zeiten, da der Blick eines scheuen Rehs mich milde stimmte.«

»Sie sind noch zu jung«, beharrte sie, »Gib ihnen noch einen weiteren Götterlauf, Ardo.«

»Wozu?«, spie er nur hervor, »Was solltest ausgerechnet du, ihnen geben können?«

»Die Liebe einer Mutter«, kam ihre Antwort prompt, »Und wenn eine die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern versteht, dann gewiss die Leuin höchst selbst.«

»Liebe gewinnt keinen einzigen Kampf, sie macht einen nur...«, er hielt einen Moment inne und blickte sie mit seinen harten Augen an, »... weich.«

Erste Regentropfen begannen zu fallen.

»Die Kinder brauchen endlich ihren Vater!«

Nun lachte sie: »Ihren Vater? Ihren VATER?« Ihre Stimme überschlug sich. Leise begann Donner über sie hinwegzugrollen. »Vor Götterläufen hätten sie dich gebraucht. Vor Götterlaufen! Meine Brüder sind mehr Vater als du...«

Da stieß er seinem Pferd die Haken in die Flanken. Es preschte nach vorne. Und er trat ihr mit seinem Stiefel mit voller Wucht ins Gesicht. Sie kippte zur Seite. Blieb reglos liegen. Nur ihre Augen bewegten sich noch. Folgten ihm. Er wendete das Pferd, brachte es zum Stehen. Heftiger Regen setzte ein. Ergoss sich. Linderte die Hitze. Wusch das warme Blut von ihrem Gesicht. Mächtiger Donner fegte über sie hinweg. Das Banner, die goldene Hand auf Rot, begann in der aufgekommenen Brise hart zu flackern.

»Lasst sie liegen«, befahl er. Und alle gehorchten. Die beiden Knaben begriffen, dass er der gestrenge Herr sein musste, von dem ihnen ihre Mutter immer erzählt, ja sie eindringlich gewarnt hatte. Er war der Ritter zu Esenfeld. Er war ihr Vater.

Vater

ZSF02: Die beiden Knaben lernen ihren Vater kennen.

Wehrhof Esenfeld, Rahja 904 BF

Ardo von Schwarztannen stieg vom Pferd ab. Seine Gefolgsleute taten es ihm gleich. Knechte kamen herbeigeeilt, kümmerten sich um die Pferde, während Regen und Wind über sie hinwegpeitschten. Donner grollte markerschütternd. Wütende Blitze zuckte vom Himmel herab. Erhellten den inzwischen stockfinster gewordenen Innenhof Esenfelds. Die Männer, der Ritter zu Esenfeld allen voran, drängten in den Wehrhof hinein. Die beiden Knaben, die noch immer stocksteif unweit der Tür standen, fassten sich unbewusst an den Händen, der kleinere der beiden drängte sich an seinen größeren Bruder. Beide hatten sie das pechschwarze Haar ihres Vaters und die weichen, tiefbraunen Augen ihrer Mutter. Hinter ihnen standen zwei junge Männer. Sie ähnelten der noch immer am Boden und im Regen liegenden Frau: dunkelblondes Haar und rehbraune Augen. Ihre Gesichter, totenblass und ausdruckslos, ihre Tränen hatte der Regen verborgen. Beinahe unbemerkt, zogen sie sich zurück. Ließen ihre Hände von den Schultern der Knaben gleiten und verschwanden im Haus.

Mit festen Schritten ging der Hausherr auf die Knaben zu. Fixierte sie mit seinen harten, blauen Augen. »Was steht ihr noch hier rum?«, blaffte er sie an, »Sorgt dafür, dass meine Männer etwas Vernünftiges zu Essen und Trinken bekommen, so lange Efferd uns zürnt.« 

Ungläubig blickten die beiden noch immer dicht aneinander gedrängten Knaben, der eine mehr als einen Kopf kleiner als der andere, zu dem Fremden auf. »Rondra«, wisperte der jüngere der beiden. Die linke Augenbraue des Ritters zuckte steil nach oben, seine Hand schnellte nach hinten und dann auf die Wange des Knaben. Der schrie entsetzt auf, drückte sich in die Arme seines großen Bruders. Tränen schossen ihm in die Augen.

»Erheb' noch ein einziges Mal das Wort gegen deinen Vater und du liegst da draußen neben deiner ... Mutter«, drohte er mit erhobener Hand. Es war jene Hand, mit der er den Knaben gerade eben geschlagen hatte.

»Ja, hoher Herr«, erwiderte der ältere der beiden, während er noch immer seinen heftig, schluchzenden Bruder in seinen Armen hielt, »Geht doch schon einmal hinein. Wir werden Euch sogleich bewirten.«

Wieder lag der harte und kalte Blick des Mannes auf den beiden Knaben. Und ohne seine Söhne eines weiteren Blickes zu würdigen, ging der Ritter zu Esenfeld an ihnen vorbei. Seine Männer folgten.

»Ich werde dich beschützen, Moribert«, wisperte der größere Knabe, dem noch immer weinenden kleineren zu als die Männer außer Hörweite waren, »Bleib einfach immer hinter mir, dann kann er dir nichts tun.« Er fuhr seinem Bruder über das kurze, schwarze Haar. Die beiden trennten sich. Moribert tropfte noch immer Blut aus der Nase. Der Regen wusch es fort. »Gishelm«, wimmerte der jedoch nur erstickt, »Ist das wirklich unser Vater?« Sein Blick glitt zu der noch immer reglos im Regen liegenden Frau. Ihrer Mutter. Ihre Augen waren noch immer geöffnet. Hatten die beiden Knaben fixiert. Gishelm atmete schwer und senkte den Blick.

Brüder

ZSF03: Der Vater hasst die Mutter der Knaben.

Wehrhof Esenfeld, Rahja 904 BF

Der Herr zu Esenfeld blieb über Nacht, denn der Zorn Efferds – viel eher Rondras, wenn man dem leisen Wispern der Bediensteten hinter vorgehaltener Hand glaubte – verzog sich nicht so schnell. Lange grollte es bedrohlich. Der Himmel in ein giftiges dunkles Grün getaucht. Und Blitz und Blitz zuckte herab. Einer setzte sogar die große, mächtige Eiche im Innenhof Esenfels in Brand. Erst da erlaubte der Herr, die Hausherrin endlich fortzuschaffen und das auch nur, weil sie im Weg lag, nicht etwa aus ... Mitleid.

Und erst als die Herrschaft schlief, war einer der Brüder der Frau aufgebrochen, um einen Geweihten der Herrin Peraine aus Salzungen zu holen. Indes saß der andere an ihrem Bett, hielt die reglose und kalte Hand seiner Schwester in der eigenen und musterte ihr ausdrucksloses, blasses Gesicht den Tränen nahe. Moribert krabbelte dem Mann auf seinen Schoß und schmiegte sich dicht an ihn. Den noch freien Arm legte er um den Knaben und hauchte ihm anschließend einen Kuss aufs Haar. Gishelm indes trat neben seinen Onkel an das Bett seiner Mutter.

»Ist das wirklich unser Vater?«, hob Gishelm hoffnungsvoll an, »Sag, dass er es nicht ist, Salvin. Sag es! Bitte!«

Der Mann schluckte schwer und schüttelte traurig seinen Kopf: »Er ist euer Vater.« Er nickte langsam. Gänsehaut jagte Gishelms Rücken hinab. »Ardo von Schwarztannen ist euer Vater. Und du, Gishelm, bist sein Erbe.«

»Ich will nicht, dass er mein Vater ist!«, entfuhr es dem Knaben da, »Ich will nicht sein Sohn sein. Auch nicht sein ... Erbe.«

Verständnisvoll nickte Salvin.

»Kannst du nicht unser Vater sein?«

»Nein«, nun nickte er, »Das geht nicht. Ihr seid seine Kinder. Es gibt keine Zweifel. Ihr seid sein Fleisch und Blut.«

Einige Tränen liefen dem Knaben über das Gesicht und trotzig erwiderte er: »Ich will das aber nicht. Ich will nicht, dass dieser Mann mein Vater ist. Ich will das nicht.«

»Ich weiß, Gishelm, und ich verstehe dich. Sehr gut sogar.« Seit der Geburt der Knaben war Salvin, wie auch sein Zwillingsbruder Salentin, immerzu um sie gewesen. Hatten sie abends in den Schlaf gewiegt, ihnen Lieder vorgesungen, Geschichten erzählt, waren bei ihren ersten Schritten, ja bei ihren ersten Worten dabei gewesen. Sie hatten gemeinsam mit ihnen Esenfeld entdeckt. Waren in Bäume geklettert und hatten im Mühlbach geplantscht und im Wald getobt. Und wenn die Beine der Kinder zu schwer waren von den vielen Abenteuern, dann hatten sie sie nach Hause getragen. Sie waren immerzu für die Knaben da gewesen. Immer. Jederzeit.

»Hasst er uns?«, riss Gishelm seinen Onkel aus seinen Gedanken. Unruhig verlagerte der Knabe das Gewicht von einem auf das andere Bein. Einen Moment blickte der Mann auf den Knaben in seinen Armen. Der ruhige und regelmäßige Atem verriet, dass er eingeschlafen war. »Hasst er uns?«, wiederholte der ältere der Knaben.

»Nein«, versicherte der Mann sanftmütig, »Nein, er hasst euch nicht. Nicht seine Söhne. Seine Erben. Nein, gewiss nicht. Ich denke sogar...« Er hielt einen Moment inne. Wirkte angespannt. »... dass er euch liebt. Auf seine ... hm ... eigene Art.« Salvin zog seine Augenbrauen nach oben. »Sicherlich.« Der Mann seufzte schwer. »Er liebt euch.« Nun fuhr er dem kleineren der Knaben zärtlich übers Haar. »Wer könnte euch beide denn auch nicht lieben?«

Doch Gishelm beruhigte das nicht: »Hasst er ... hasst er Mutter?«

Salvin konnte nicht anders, er konnte nur nicken. Und dann, nach einem erschreckend langen Augenblick, in dem er schwieg und seine Schwester ernst betrachtete, hauchte er so leise, dass man es gerade so verstehen konnte: »Es war nicht immer so, Gishelm. Er war nicht immer so ... grausam. Sie waren einander sehr zugetan. Ungleich, doch irgendwie glücklich. Doch dann ist Algerte etwas Schreckliches passiert. Etwas Entsetzliches.«

Gänsehaut erfasste den gesamten Körper des Knaben. So hatte er seinen Onkel noch nie sprechen hören. So voller Schmerz. Voller Grauen. Und weil Salvin nicht mehr sagte, wusste der Knabe, dass es etwas wirklich Schreckliches gewesen sein muss. Etwas, dass ihm die Kehle zuschnürte.

Geweihte

ZSF04: Eine Geweihte der Peraine kommt (unerwartet) nach Esenfeld.

Wehrhof Esenfeld, Rahja 904 BF

Im Morgengrauen kam Salentin mit einer Geweihten der Herrin Peraine aus Salzungen wieder. Das Missfiel dem Hausherren zwar zu tiefst, aber er wusste sehr wohl, dass man einen Diener der Zwölfe nicht ohne weiteres abwies und so bat er sie herein: »Peraine mit Euch, Euer Hochwürden.« Demütig beugte er sein Haupt, trat zurück und ließ die Geweihte herein. »Habt Dank für Euer Kommen, auch wenn es nicht notwendig gewesen wäre, dass ihr persönlich erscheint.« 

Die ältere Geweihte nickte sanftmütig. Eine Strähne ihres kurzen, grauen Haares fiel ihr ins Gesicht. Sie strich es sich wieder zurück. »Sorgte Euch nicht, Hochgeboren. Wie ein jeder von uns, bin auch ich nur eine Dienerin und deswegen diene ich«, erwiderte sie und fügte unnötigerweise noch hinzu: »So wie auch Ihr nur ein Diener unter dem Angesicht der Götter seid.«

Ardo von Schwarztannen blickte die Geweihte schweigend und nahezu reglos an. In seinen Augen funkelte Zorn. Unangenehme Stille breitete sich aus.

»Seid doch so gut«, ergriff nun die Geweihte wieder das Wort, »und bringt mich zu eurer werten Gattin, damit ich sie mir ansehen kann.«

Der Hausherr nickte nur mürrisch, bot der Hochgeweihten aber sogar seinen Arm an und schritt mit ihr voran. Und während sie miteinander gingen, wollte sie von ihm: »Ist meine gute Freundin Algerte wieder einmal gestürzt, Hochgeboren?«

»Ein bedauerlicher Unfall«, erwiderte er ihr trocken und vermied es sie anzusehen, »Wieder einmal, Hochwürden, wieder einmal.«

»Hm«, macht die Geweihte da nur und legte die Finger ihrer freien Hand an ihr Kinn, »Meine gute Freundin ist seit damals einfach nicht mehr sie selbst.« Sie seufzte schwer, ließ ihre Hand sinken und schaute betrübt drein. »Entsetzlich.« Sie hielt einen Moment inne. »Phex sei Dank hat sie eure beiden Söhne an der Seite. Sie liebt sie sehr. Vor allem da...« Sie verstummte.

Der Hausherr schwieg.

»Vermutlich werdet Ihr nicht lang bleiben können, Hochgeboren?«, fuhr sie fort und ein merkwürdiger Glanz trat in ihre Augen.

»Ich bedauere, aber Ihr habt recht«, erwiderte er ihr nickend, »Ich bin nur gekommen um meine Söhne zu holen.«

Die Geweihte blieb abrupt stehen und schaute ihn lange, ohne ein einziges Wort zu sagen, an. Stoisch hielt er ihrem Blick stand. Kalte und unergründlich waren seine blauen Augen.

»Hochwürden«, ergriff er nun das Wort, »Ich muss mich jetzt nun wirklich empfehlen. Mein Bruder erwartet mich dringend auf Burg Scharfenstein mit seinem neuen Pagen

»Ich verstehe«, damit löste sie sich aus seinem Arm, »Werdet Ihr beide Knaben mit Euch nehmen?«

»Sicherlich. Es ist Zeit, dass sie das Leben am Hofe kennenlernen.« Er reckte sein Kinn trotzig nach oben.

»Auch Moribert? Er scheint mir noch recht jung.«

»Beide«, entgegnete er ihr nur mit unnachgiebigen Blick, »Tut, was Eure Herrin von Euch verlangt. Peraine mit Euch, Hochwürden. Ich muss nun gehen.« Damit verabschiedete er sich. »Bereitet die Abreise vor«, hallte seine Stimme durch Esenfeld während seine Schritte sich entfernten. Die Geweihte blieb an der Tür zum Zimmer der Hausherrin stehen.

Gefehlte

ZF05: Die Geweihte der Herrin Peraine sieht einen Ausweg.

Wehrhof Esenfeld, Rahja 904 BF

»Was ist genau vorgefallen?«, wollte die Geweihte von den beiden Brüdern der Hausherrin wissen als sie am Bett der verletzten stand und auf den blutigen Verband um deren Kopf blickte.

Die jungen Männer schauten betreten drein und blickten zu Boden. Kein Wort verließ ihre zitternden Lippen. Die beide wussten, dass ein jedes Wort ihnen das Leben nur noch schwerer machte. Dabei war es schon schwer genug. Der Hausherr ließ sie auf Schritt und Tritt überwachen und sie für jede noch so kleine Verfehlung hart bestrafen. Und jede ihrer Verfehlungen war auch eine Verfehlung ihrer Schwester, seiner Frau.

Die Geweihte seufzte.

»War er es?«, wollte die Geweihte nach Abreise mit strengem Blick wissen, »Hat er sie so zugerichtet? Mal wieder?«

Die beiden Brüder schauten auf die Füße der Geweihten. Kein einziges Wort kam über ihre Lippen.

»Bei Peraine!«, seufzte sie. »Schon gut«, sie winkte ab, »Ich habe schon verstanden. Es ist ja nicht so, als wäre ich das erste Mal hier.« Nachdenklich begann sie sich ihre Schläfe zu massieren. »Warum nur, Algerte? Warum nur?« Sie prüfte ihre Atmung. Ihre Reflexe. Zog die Augenlider nach oben. Da begann sie mit gekonnten Fingergriffen den Verband um den Kopf der Hausherrin zu lösen, die Wunde in Augenschein zu nehmen, sie zu säubern, zu nähen und neu zu verbinden. Die Brüder der Hausherrin gingen ihr dabei zur Hand. »War sie die ganze Zeit über bewusstlos?«

Die Brüder nickten stumm.

»Das ist vielleicht kein gutes Zeichen«, erklärte sie. Die Männer blickten zu ihr. Die Geweihte wusch sich die Hände. Trocknete sie an einem Tuch. »Wir werden abwarten müssen. Ich werde bleiben. Den Beistand der Herrin Peraine erbitten. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei. Ich .... « Sie schluckte. »Ich habe Angst, dass...«

»Was sollen wir denn tun, Peralina?«, wandte sich Salvin sichtlich verzweifelt an die Geweihte.

»Ihr?«, sie schüttelte den Kopf, »Ihr tut alles, was in eurer Macht steht. Dies jedoch...« Sie deutet mit einer Geste um sich herum. »... steht nicht in Eurer Macht.« Energisch nickte sie. »Es ist an der Zeit, dass sie endlich Schutz bei den Zwölfen sucht.« Mit ernster Miene betrachtete sie die Brüder. »Unter ihrem Schutz wird er es nicht wagen, Hand an sie zu legen, ganz gleich wie viel Schuld sie zuvor auf sich geladen hat. Sie werden Schützen ihre Hand über sie halten. In jedem Kloster, in jedem ihrer Tempel wäre sie sicher.«

»Eingesperrt wäre sie«, meldete sich Salentin zu Wort, »Könnte diesen Ort nie wieder verlassen, ohne seinen Zorn zu spüren zu bekommen. Und das schlimmer als jemals zuvor. Nie wieder ihre Söh... Kinder sehen.«

»Leben muss bewahrt werden. Um jeden Preis. So lehrt es meine Herrin. Und genau das gilt auch für Algerte.« Sie hielt einen Moment inne. »Ihr Tod nutzt nur einem.«

Die Brüder nickten betrübt.

»Aber welcher Tempel würde ihr Schutz gewähren?«, warf nun Salvin ein, »Ganz Schwarztannen weiß, was damals geschehen ist. Die Menschen haben sich die Mäuler über unsere Schwester zerrissen. Noch heute...« Seine zitternde Stimme brach. »Sie tun es noch heute.«

Peralina zuckte mit den Schultern: »Bis heute kann ich nicht sagen, wem ich wirklich Glauben schenken kann.« Sie seufzte schwermütig. »So gerne ich ihr Glaube will, das Urteil war eindeutig.« Nun nickte sie. »Es gibt nur eine Kirche, die hier in der Baronie einen Tempel ihr eigen nennt und wenig auf die Ereignisse auf Dere gibt. Eine einzige.«

Weißer Rabe

Dunkelheit

Als sie erwachte, war es still um sie herum. Still und dunkel. Die Luft war von Weihrauch erfüllt. Sie versuchte, sich zu orientieren. Zu begreifen, wo sie war. Aber sie wusste es nicht. Es war zu dunkel. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Glieder waren so unendlich schwer. So versuchte sie ihren Kopf zu heben, doch auch das schaffte sie nicht. Schmerzerfüllt sank sie zurück in das weiche Kissen und atmete angestrengt ein und aus. Ihr Kopf schmerzte. Sie biss die Zähne zusammen. Und erst da bemerkte sie: Sie war nicht allein.

Sie lag in einem Bett, das begriff sie jetzt. Und an ihrem Bett, da saß jemand. Auf der Bettkante saß jemand. Eine Gestalt. Dunkel zeichneten sich ihre Umrisse gegen die sie umgebende Finsternis ab. Ein Schatten. Mehr nicht. Ohne Gesicht. Bestehend aus Dunkelheit. Aus Finsternis. Doch sie hatte keine Angst. Keine Furcht.

Der Schatten beugte sich über sie. Eine Hand oder vielleicht doch eher ein Flügel streifte über ihre Stirn. Ganz weich und anschmiegsam. Da wurden ihre Lieder so schwer, dass sie einfach zufielen. Der Schmerz wich zurück. Und ihr Bewusstsein auch.

»Dem Raben gebührt, was des Raben ist«, raunte eine leise Stimme.

Vergessen

Immer wieder erwachte sie. Und immer wieder sank sie in die Bewusstlosigkeit zurück. Aber mehr und mehr nahm sie die Welt um sich herum wahr. Geweihte des Schweigsamen kamen, wuschen ihren kraftlosen Körper, wechselten die Verbände an ihrem Kopf, flößten ihr Brühe ein. Sie sprachen kaum, beantworteten ihre Fragen nur spärlich, beteten aber für sie und mit ihr, meist schweigend. Und so seltsam sie das auch zu beginn fand, so erfüllten sie die Gebete mehr und mehr.

Irgendwann jedoch kam eine Geweihte der Herrin Peraine. Eine älter Frau mit grauem Haar. Ein leichter Geruch von Knoblauch hing in der Luft. Vermischte sich mit dem Weihrauch. Die Geweihte setzte sich an ihr Bett, nahm die Hand der Verwundeten in ihre und blickte sie dann lange an.

»Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du noch am Leben bist«, eine einzelne Träne rollte der Geweihten die Wange hinab. Sie wischte sie nicht fort. Sie tropfte auf ihre Robe und hinterließ einen kleinen nassen Fleck.

»Wo bin ich?«, hob die Verwundete an.

»Im Schoß des Ewigen«, erklärte die Geweihte und blickte gütig auf die Frau hinab. In ihren alten Augen lag Wärme und Zuversicht. »In einem seiner Tempel.«

Langsam nickte sie: »Was ist passiert?«

»Du warst dem Tod sehr nahe«, erklärte die Geweihte, »Sehr nahe. Aber Golgari, so sagten uns seine Diener, hatte noch nicht entschieden. Und so kämpften wir um dein Leben. Und sie halfen uns.«

»Wir?«

»Die Zwillinge und...«

»Salvin und Salentin«, fiel sie ihr ins Wort.

Die Geweihte kniff ihre Augen zusammen: »So ist es.«

»Sie sind die Zwillinge der Gutsverwalterin. Ich weiß.« Sie nickte. »Wie geht es meiner Mutter?« Sie versuchte sich aufzusetzen. Die Geweihte half ihr. Schob ihr ein Kissen in den Rücken. Und setzte sich dann wieder. »Hm«, machte sie im Anschluss, »Kennst du ... deinen Namen?«

»Algerte«, die Angesprochene und zog ihre Stirn fragend kraus, »Mein Name ist Algerte Phexlieb von Waldfang. Und mein Vater gab mir den Namen Phexlieb, weil ich im Phex geboren bin. Am Tag des Glücks. Am Tag des Phex. Mutter hielt es erst für einen Scherz, aber es war keiner.«

Erneut nickte die Geweihte nachdenklich.

»Warum bin ich nicht in seinem Tempel?«, wollte sie verwundert wissen, »Ich sollte ihm dienen.«

»Hm«, machte die Geweihte erneut, »Erinnerst du dich an mich?«

Sie zog die Stirn kraus. Musterte die Geweihte kritisch: »Kennen wir uns?«

»Ich bin Peralina Tempeltreu«, stellte sie sich vor, aber Algerte schüttelte nur Kopf. Peralina nickte noch nachdenklicher. »Kannst du mir sagen, wer der Kaiser des Mittelreiches ist?«

»Valpo von Almada

Schutz

»Wer ist der Kaiser?«, wollte Algerte von der Geweihten wissen, nachdem diese sich um ihre Wunde gekümmert und auf die Kante ihres Bettes gesetzt hatte um zu beten.

Die Geweihte hob langsam ihren Kopf, schob mit einer eleganten Bewegung die Kapuze ihrer schwarzen Robe zurück und offenbarte ihr rotes Haar. Sie hob ihren Blick. Jung wirkte ihr Gesicht. Doch ihre blau-grünen Augen offenbarte, dass sie nicht mehr so jung sein konnte. Andächtig faltete sie ihre Hände und legte diese in ihren Schoß. »Es gibt viele«, erwiderte die Geweihte ruhig, »und doch keinen einzigen.«

»Hm«, machte Algerte, »Wie du das sagst.« Sie schüttelte den Kopf. »Dann ist das Reich ohne Herren. Aber du sagt das so, als würde es dich nicht ... im geringsten kümmern.«

»Es kümmert den Ewigen nicht«, erklärte sie langsam nickend, »Und damit kümmert es auch mich nicht. Dem Ewigen schert vieles nicht. Ihm ist gleich, was für Titel wir uns geben, welche Länder wir beanspruchen oder auch nur was wir besitzen. Vor ihm sind wir alle gleich. Ein jeder von uns.« Sie hielt einen Moment inne. »Eines Tages werden wir ihm alle gegenüber treten. Uns alle ereilt dasselbe Schicksal.«

Algerte blickte sie lange an: »Aber das bedeutet ... das heißt ja ... es ist Zeit vergangen, an die ich mich nicht erinnere?«

»Eine Gnade des Herrn des Vergessen«, kam die Antwort der Geweihten prompt, »um die dich viele beneiden.«

»Was willst du mir damit sagen?«

»Gewiss hatte der Ewige einen guten Grund dir das Geschenk des Vergessen zu schenken, denn das ist es, ein Geschenk. Sein Geschenk. Er gewährt es nicht vielen. Und er gewährt es nicht ohne Grund«, langsam nickte sie, »Er hat noch etwas mit dir vor. Du bedeutest ihm etwas.«

»Wird er es mir ... sagen?«, wollte sie wissen, »Wird er mir mitteilen, was er mit mir vorhat? Was ich für ihn tun soll?«

Sie zuckte mit den Schultern: »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wer vermag das schon zu sagen? Dem Raben gebührt, was des Raben ist.« Und für die Geweihte war damit alles gesagt.

»Und die Welt dort draußen?«

»Verlasse den Tempel des Ewigen nicht, Algerte«, riet die Geweihte und blickte plötzlich sehr ernst drein, »Der Ewige schützt dich. Er gibt auf dich acht. Aber er kann das nur in seinem Schoß tun. Du musst wissen, die Welt dort draußen ist gefährlich. Auch wir gehen nur hinaus, wenn uns sein Ruf ereilt.« Damit erhob sie sich und wollte bereits das Zimmer verlassen als Algerte noch einmal das Wort ergriff: »Wie ist dein Name?«

»Etilinae«, sie wandte sich zu der anderen um, »Er machte ihn mir zum Geschenk. Wirst auch du sein Geschenk annehmen?«