Geschichten:Abseits des Conventes: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 4. Oktober 2006, 11:33 Uhr
Abseits des Conventes
Einige der Pferde hoben den Kopf als sie, friedlich Büschel um Büschel rupften, eine Bewegung am Rande ihres Gesichtsfelds wahrnahmen.
Es war nur ein einzelner Mensch, der nach wenig Gewicht aussah. Außerdem schien er sie nicht zu beachten und wirkte unsicher, nicht, als ob er eine Gefahr darstelle. Ein oder zwei schnaubten zufrieden, die großen Köpfe senkten sich wieder, um weitere Gräser zwischen den gelben Zähnen zu zermalmen.
Er war ohne Ziel gelaufen und der Zufall und die Vertrautheit des Weges, den er in den Tagen zuvor gelegentlich schon genommen hatte, hatten ihn in einem Bogen zu den Koppeln des herzoglichen Gestüts geführt. Seine Schritte waren unsicher, als hätte er viel zu viel getrunken und die Schmutzspuren auf seiner Weste und seiner Hose, ebenso wie sein zerrauftes Haar trugen dazu bei, dass er eher den Anblick eines verwirrten bot als den eines jungen Edlen.
In einer Staubschicht hatten Ströme von Tränen und Rotz Spuren hinterlassen. Seine Lippen bewegten sich unablässig, doch was er sprach, war kaum verständlich, bald ein Flüstern, bald bloßes, stammelndes Lallen, zuweilen verkrampftes Schluchzen.
"Warum?"
Es gab so viele Fragen, für die dieses eine Wort stand. Warum war er hier in Elenvina? Warum hatte das alles geschehen müssen? Warum gab es so wenige Berichte, denen er trauen konnte?
"In das Licht, das das Himmelsgewölbe durchströmt..."
Das Reich war geborsten. Das Reich, dem der Schwur und die Treue seiner Familie seit Menschengedenken gegolten hatte. Wer trägt die Krone, nun, da kein Berufener mehr steht?
"...in die tobenden Gewitter..."
Das Heer war bei Wehrheim geschlagen worden. Wehrheim war geschleift. Und mit ihnen... Orlan? Sigman?
"...in die stillen Tiefen des Wassers,..."
Die Reichsbehüterin, eine der Lichtgestalten in diesen dunklen Zeiten, ein Bindeglied zwischen Albernia und dem Reich... im Leib eines widernatürlichen blasphemischen Feindes? Wer verspricht Loyalität, wenn er alle, die mit ihm streiten würden, als Feinde sieht?
"...in das Knistern und Flackern der Herdfeuer,..."
Das Heiligtum war erloschen. Darpatien erobert. Und Merisa von Rabenmund? Und Oldebor von Weyringhaus? Zuletzt in Gareth, natürlich. Vielleicht brannte schon ein neues Feuer, verschlang brüllend ein ums andere Gebäude der Kaiserstadt. Er konnte den fettigen Qualm auf der Zunge schmecken.
"...in das Schweigen..."
Wer wird fallen? Wer war noch nicht gefallen? Wen tragen schwarze Schwingen über das Nirgendmeer - wer kehrt zurück, nachdem er gefallen ist?
"...in das Wissen der Jahrhunderte..."
Wo soll noch Hilfe zu finden sein? Welchen tröstenden Worten, gesprochen, geschrieben oder nicht, war noch kein Hohn geworden? Wer konnte nun noch zur Feder, zur Laute greifen?
"...in die Kälte des Winters..."
Warum fror ihn inmitten des Sommers? Woher nahmen sie alle die Kälte, den kühlen Kopf, zu beraten und abzustimmen?
"...in den neuen Tag..."
Es gab welche, die von Hoffnung sprachen, die vor aller Augen aufstanden und von Hoffnung sprachen! Hatten sie denn nicht zugehört? Wo war er seit Sonnenaufgang gewesen?
"...in den Nebel..."
Hatte sie jedes Glück verlassen?
"...in die Ackerkrume..."
Verfiel denn alles, was er je gewesen war? Der Rythmus des Lebens - Aussat, Wachstum, Ernte - wo war er gerissen, auf den Kopf gestellt, hinfällig geworden? Was nutzte nun Güte und wem sollte welche Frucht noch nützen?
"...in die Glut..."
Er spürte, dass die Luft um ihn heiß war, dass er schwitzte, obwohl er zitterte. Dieser Sommer hätte niemals kommen dürfen.
"...in das Wiehern der Rösser frage ich: Warum?"
Rohaja. Rohaja. Rohaja.
Alles um ihn drehte sich. Nein, er drehte sich, die Beine knickten unter ihm weg, er fiel schwer auf Brust und Gesicht. Mechanisch rollte er auf den Rücken. Durch die Tränen sah er einen dunklen Rand, die Baumwipfel, er sah einen hellen Himmel über sich, hellgraue Wolken, durch die sich dünn die noch hellere Kontur der Praiosscheibe abzeichnete.
Sein Tränenfluss stockte. Er blinzelte und das Bild wurde klarer. Durch die Schleier war der vollkommene Kreis sichtbar, reinweiß ohne zu blenden. Sein Schluchzen verebbte. Die Wolken zogen langsam weiter, vor dem strahlenden Kreis hinweg, wurden dünner, noch dünner...
Und da war es. Klar, wie er es nie gesehen, nie geglaubt hätte. Aber es stand vor ihm. Er hätte blind sein müssen, um es nicht zu erkennen.
Gareth. Rohaja. Das Kostbarste, das sie noch zu bieten hatten. Der Ritter im Wald, Tag für Tag, viele Menschenleben lang - er erkannte.
Und schrie.
Die Götter nahmen das Opfer nicht an.
Die Götter nahmen das Opfer.
Das Licht der Sonne brach durch die Wolken, übergoss das Land mit hellem Glanz, der sich in den goldenen Kuppeln der Wehrhalle von Elenvina triumphierend widerspiegelte. Seine Edelwohlgeboren Lassan von Weyringhaus-Rabenmund j. H. rannte und stolperte blind vorwärts, ohne zu wissen, in welche Richtung.
Dabei schrie er noch immer.
Denn er hatte das Wesen der Götter geschaut.
(M. Ott)