Geschichten:Die guten alten Zeiten: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 15. September 2014, 15:18 Uhr


Kaiserlich Raulsmark, Peraine 1032 BF


Oldebor von Weyringhaus, Burggraf von Kaiserlich Raulsmark, stand auf dem Erkertürmchen seines Landschlosses Rohalsweil, auf die Brüstung gelehnt, und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Die untergehende Praiosscheibe färbte die Wolken in glühendes Gold, die milde Frühlingsbrise ließ die Blätter der Bäume leise wispern.

Der Burggraf seufzte tief. In den guten alten Zeiten hätte man um diese Stunde Lampions und Fackeln auf der Wiese vor dem Schloss entzündet und fröhliche Feste bis in die späte Nacht gefeiert. Nicht einmal ein Jahrzwölft war es her, dass er dort unten seinen achtundvierzigsten Tsatag begangen hatte - doch es schien wie eine halbe Ewigkeit.

Mit einem traurigen Kopfschütteln betrachtete er das Krüglein des besten Weines, den er hatte finden können. Ein Geschenk seines teuren Vetters aus Almada, des Landvogtes von Punin - doch nun hatte die hohe Politik einen Keil in das freundschaftliche Verhältnis zu Ansvin von Al'Muktur getrieben: wo sich kaiserliche Geschwister entzweit hatten, konnten adlige Vettern nicht ungerührt bleiben. "Ein Wein für besondere Anlässe", hatte der gute Landvogt in seinem letzten Brief geschrieben.

"Wann, wenn nicht jetzt?" fragte Oldebor in die Abendluft hinein - niemand war zugegen, der seinen Worten hätte lauschen können. Er entkorkte das Krüglein - gerade einmal zwei Becher mochte es fassen - und goss die samtigrote Flüssigkeit in seinen liebsten Weinpokal. Er führte den Kelch zu den Lippen, doch noch trank er nicht - erst ließ er sich die mannigfaltigen Düfte und Aromen des kostbaren Tropfens in die Nase steigen.

Die guten alten Zeiten ... Fröhliche Feste waren im Landschloss Rohalsweil schon lange nicht mehr gefeiert worden. Ein Hagel aus Felsbrocken von der Fliegenden Festung hatte das verspielte Schlösschen schwer getroffen. Eine Hälfte des Gebäudes, in dem der Burggraf selbst und so manches seiner Kinder das Licht Deres erblickt hatten, lag in Trümmern. In der anderen Hälfte hatten Plünderer gehaust und schier unaussprechliche Dinge getan.

Der Burggraf benetzte die Lippen mit dem köstlichen Wein.

Die guten alten Zeiten ... Von dem schlanken Erkertürmchen aus konnte man bei gutem Wetter bis Gareth sehen. Selbst in der Nacht war die Metropole nie völlig dunkel - Tausende von Lichtern warfen ihren Schein an den dunklen Himmel und schufen eine schimmernde Kuppel. Die andere, die gleißende Kuppel aber - sie fehlte, und ihr Fehlen stach wie ein Dorn ins Auge des Burggrafen. Die Stadt des Lichtes war zerborsten, das Ewige Licht verloschen. Der Gong im Praiostempel von Hallklee, geschaffen vom Heiligen Owilmar, tönte nicht mehr: durch den Willen des Götterfürsten war er stets von selbst erklungen, wenn in Gareth der Große Gong geschlagen worden war. Nun waren beide verstummt.

Der Burggraf nahm den ersten Schluck.

Die guten alten Zeiten ... In Wehrheim hatte er seine Ausbildung absolviert. Nun stand von der Akademie - ach, von der ganzen Stadt! - kein Stein mehr auf dem anderen. Dämonenwerk aus den tiefsten Niederhöllen hatte die Stätte seiner Jugend zerstört. Seine Kinder hatten diese Schule noch besucht. Für seine Enkel würden sich ihre Tore nicht mehr öffnen.

Der Burggraf trank in tiefen Zügen.

Die guten alten Zeiten ... Treue Weggefährten aus vergangenen Tagen waren nicht mehr an seiner Seite. Praiodan von Luring war gefallen, sein Amt nun usurpiert von einem unsäglichen Schwachkopf. Die Sitzungen des Zedernkabinettes eine einzige Qual unter der Leitung eines Toren.

Der Burggraf leerte den Kelch und füllte ihn sogleich erneut.

Die guten alten Zeiten ... Wenn die Sitzungen dieses Zedernkabinettes denn überhaupt noch stattfanden! Kaiserin Rohaja, in der Schlacht verschollen, doch im Triumph zurückgekehrt, hörte nicht mehr auf den Rat ihrer treuesten Vasallen. Statt dessen hatte sie die einfachen Bürger um sich geschart und dem Pöbel die Macht über die größte Stadt ihres Reiches anvertraut. Oder was davon übrig geblieben war - vom Reich, von der Stadt, von der Macht.

Der Burggraf rollte den Wein in seinem Munde.

Die guten alten Zeiten ... Sechs Kinder hatte er mit seiner geliebten Gattin Merisa großgezogen. Der Nachwuchs war ihnen wohlgeraten, die meisten gut und standesgemäß vermählt. Auch auf eine erfreulich große Enkelschar konnte Oldebor schon voller Wohlwollen blicken. Sigman, sein Ältester, hatte sich ohne Zweifel bewährt - als Verwalter eines großen Gutes wie auch als Kämpfer im Schlachtgetümmel. Er könnte ein würdiges Haupt des Hauses Weyringhaus werden.

Der Burggraf ließ den Wein die Kehle hinabrinnen.

Die guten alten Zeiten ... "Die Boronanger sind voll von Leuten, die sich für unersetzlich hielten", sprach er zu sich selbst. Seine Leibmedica hatte diese Worte stets benutzt, wenn sie ihn warnen wollte, sich nicht allzu sehr zu übernehmen, sich nicht zu verausgaben, seine Kraft nicht bis zum allerletzten Tropfen aufzubrauchen. Nun war der Krug leer, der Pokal ausgetrunken.

Der Burggraf starrte trübsinnig hinein.

Die guten alten Zeiten ... "Daran gibt es nichts zu rütteln, teurer Oldebor", sprach er zu sich selbst. Mit einem wehmütigen Lächeln setzte er hinzu: "Die guten alten Zeiten sind vorbei."

Er stellte den Weinpokal auf der Brüstung des Türmchens ab. Dann aber straffte der Burggraf sich. Die Ausbildung in Wehrheim mochte seit langen Jahren vorbei sein, doch sie war nicht vergessen. Sein Körper würde ihm noch gehorchen, ganz gewiss. Er legte die linke Hand auf das Mäuerchen und atmete noch einmal tief ein.

Der Schatten zeichnete sich vor dem Nachthimmel ab. Kein Laut war zu hören, als er seine Bahn beschrieb. Nur die milde Frühlingsbrise ließ die Blätter der Bäume leise wispern. Auf dem Pflaster vor der Burg endete der tiefe Fall.

Der Weinkrug zersprang in tausend Scherben.

Oben auf dem Turm lauschte der Burggraf zufrieden und strich sein Wams wieder glatt. Es war doch noch einiges an Kraft in seinem Arm!

"Dann muss ich jetzt in diesen neuen Zeiten leben", setzte er sein Selbstgespräch fort, während er sich der schmalen Turmtreppe zuwandte. "Und sie zu guten Zeiten machen."




Briefspiel.png Sieger im Wettbewerb Jahr der Geschichten

Dieser Briefspieltext wurde von den Spielern Garetiens, Greifenfurts und Perricums aus über 2.500 Briefspieltexten ausgewählt.