Geschichten:Olimone Lindenpfad - Zertaubra'dharza: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 22. September 2017, 20:37 Uhr

Im verschneiten Kasterforst, Anfang Firun 1038 BF

Lautlos spannte Adhemar seinen Bogen. Der Junge hatte die Zungenspitze zwischen die Zähne gesteckt und visierte hochkonzentriert den jungen Rehbock an, der auf der Lichtung äste. Seine Schwester und er hatten nun schon die vierte Nacht hier auf der Pirsch gelegen, und endlich sollte es doch gelingen. Der kleine Bogenschütze war feingliedrig, aber groß für seine zehn Jahre. Seine braunen Haare hingen in die hohe Stirn, die Augen waren von einem verstörend hellen Blau, die Wangen von der Kälte gerötet. Das Vergnügen der Jagd hatte ihn jüngst ergriffen, wobei es vor allem die sorgfältige Planung und die geduldige Umsetzung derselben waren, die ihm Freude bereiteten. Ob das Töten dazugehörte, würde sich erweisen müssen. Adhemar hatte bis jetzt noch nie getötet, von Küchenschaben und diesem armen Frosch im vorletzten Sommer abgesehen.

Seine Schwester beobachtete ihn mit ebensolcher Konzentration, wie der Junge den Rehbock, Sie war gar nicht seine Schwester, aber das Adhemar das Mündel des Grafen war und Lechmin die Tochter desselben, hatten sie angefangen, voneinander als Bruder und Schwester zu denken. Lechmins Wagen waren ebenfalls gerötet, ihre Lippen vor Aufregung leicht geöffnet. Man sah, dass sie sich darauf vorbereitete, gleich stolz auf den Jungen sein zu können - oder ihn trösten zu müssen.

Plötzlich ertönte eine süße Melodie durch die kahlen Zweige und über den verschneiten Waldboden, die Adhemar, Lechmin und das Reh aufblicken ließen. »Bah'iya!«, schloss die Melodie in glockenheller Kadenz, und der Rehbock sprang in das Dickicht, aus dem er gekommen war.

Adhemar ließ seinen Bogen nicht sinken, sondern schwenkte ihn nach rechts, von wo die Melodie gekommen war. Dort stand eine hochaufgeschossene Gestalt, in weiße Winterpelze gehüllt. eine Flöte in der Linken, die leere Rechte halb erhoben. Silberweißes, langes Haar floss glatt über schmale Schultern, grüne Augen blickten schräg über hohe Wangenknochen aus der Ewigkeit in diese Zeit. Lechmin legte ihre Hand auf Adhemars und drückte den Bogen hinunter. Einerseits bewunderte sie seine Zielstrebigkeit und dass er auf die Störung mutig und wehrhaft reagierte. Andererseits war das offensichtlich eine Vertreterin des Elfenvolkes, und diesen musste man hier, in den letzten Überresten des alten Reichsforstes stets mit Respekt gegenübertreten. Lechmin erhob sich und trat der Elfe entgegen, ihrerseits die rechte Hand erhoben: »Sanyasala! Taladha Lechmin.« Adhemar rappelte sich erschrocken hoch und piepste mit aufgerissenen Augen: »Sanisala!«

Die Elfe näherte sich den beiden und schien sogar zu lächeln. Sie legte ihren Kopf leicht schräg und antwortete: »Sanya bha, Lechmina. Sanya bha, yar'min. Feydha Olimoné.« Jetzt lächelte sie.

»Sie hat dich ›kleiner Bogenschütze‹ genannt, Adhemar«, gab Lechmin zu verstehen und lächelte ihrerseits. Adhemar staunte immer noch die Elfe an.

»Rongra'var'jah«, lächelte Olimone, indem sie mit ihrem zarten Zeigefinger über die Wange Lechmins strich. Diese sammelte ihre Isdirakenntnisse zusammen: ›Jah - Kind von. Var - Wächter. Rongra - Waldlöwe. Sie meint Vater!‹ »Ja, ich meine: aî. Ich bin die Tochter von … ähh …«

»Dany'ama.« Olimone legte die Hand auf das Herz, wartete einen innigen Moment, der Lechmin irritierte, dann wandte sie sich Adhemar zu und beugte sich auf Augenhöhe herab: »Ich bin Olimoné Lindenpfad, tala'min. Ich freue mich, dich zu sehen. Ich kenne dich schon lange.«

»Woher?«, fragte Adhemar fast tonlos und mit großen Augen.

»Die Amsel hat von dir gesungen. Der Fuchs hat deine Fährte gesucht. Der Winterwind trägt Kunde über dich.«

»Wie …?« Adhemar blickte sich fragend zu Lechmin um, die ihre Stirn kraus zog: »Wie meinst du das, Olimone? Über wen spricht man?«

»Das Land. Schon lang. Seit fialgraa, Orken, Rakula entlang kommen. Über ihn. Und varra'yaa. Die vor ihm sind. Dany'ama. Odi'ama. Rongr'ama. Adhama. Herd'ama. Die Tiere des Walde, die Triebe der Bäume, die Blätter der Zweige, das Murmeln der Bäche, der Wind auf den Halmen. Wir warten eola. Immer schon. Immer wieder. Ich sehe Firun'ya'za. Ich sehe Alderan'za. Ich sehe Drego'ra. Und ich weine.«

Lechmin schloss hörbar den Mund. »Moment: Du kennst meine Familie?«

Olimone nickte fröhlich.

»Dany'ama - das ist Danos. Rongr'ama - das ist Rondger, mein Großvater? Und Firun'ya'za - Firunjan von Luring? Der lebte vor zweihundet Jahren!« Immer noch nickte Olimone. Bei Firunjans Namen hingegen wich die Fröhlichkeit aus ihrem Antlitz. »Und Drego? Drego kennst du auch?«

Olimone schüttelte den Kopf: »Ar. Nein. Ich höre von dharza um Drego. Ich sehe dharza. Zertaubra'dharza. Bah'iya!«

»Soll Drego sich in Acht nehmen oder sollen wir uns vor Drego in Acht nehmen?«

»Aî«, nickte die Elfe.

»Was denn nun? Drego ist mein Bruder! Ist er in Gefahr?« Lechmin wirkte höchst alarmiert. Seit Monden schon rumorte es auf Burg Luringen. Seit Monden hörte sie ihre Mutter seufzen, wenn Drego und seine Freunde ihre Streiche spielten. Sie hörte Onkel Odo über das lichtscheue Pack fluchen, hörte die Ritter tuscheln, wenn es um Dregos Freunde ging. Erinnerte sich, wie eindringlich ihr Vater mit ihr und Ederlinde gesprochen hatte. Ihr Vater, der sich kaum noch auf Luringen aufhielt, sondern Tage, ja Wochen auf Rubreth aufhielt oder durch das Gnadental marschierte, ihr Vater, dessen Gedanken ich nur noch um die Heerfahrt nach Tobrien drehten. ›Haffax oder einer der Seinen könnte er Dreizehnte sein‹, solche Dinge sagte ihr Vater ständig. Onkel Praiodan stänkerte auch schon heftig am Hof - kurzum, da lag einiges im Argen. Aber war es bedrohlich? »Ist Drego in Gefahr?«

Olimone legte den Kopf schräg und blickte Lechmin lange in die Augen.

»Vielleicht. Vielleicht ist er die Gefahr?«, orakelte die Elfe. »Nurd'dhao!«



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Texte der Hauptreihe:
7. Fir 1038 BF
Zertaubra'dharza


Kapitel 1

Tanz der Blätter
Autor: BB