Geschichten:Odilberts Knappenjahre - Einer der ihren

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Reichsstadt Hartsteen, Praios 1036 BF

Die linke Hand sauber verbunden, mit der Rechten auf den feinen Gehstock gestützt stand der neue Graf von Hartsteen – der erste Hartsteen seit hundert Jahren – am Fenster des Stadthauses und blickte hinaus. Die Feierlichkeiten anlässlich seiner Erhebung waren vorüber, die Kaiserin war abgereist und mit ihr der überwiegende Teil des Adels. Auch die Bärenauer Ochs waren nun dabei, ihr Quartier abzubrechen. Alltag hielt auf den Straßen und Gassen unter ihm wieder Einzug, wo Knechte die im ‚Ritterstolz’ geleerten Fässer auf einen Wagen hievten, Hunde um einen Knochen balgten und ein Büttel den Bäcker Goldacker zu einem Termin beim Marktherrn begleitete.

„Vater?“, der junge Knappe in Reisekleidung blieb in einigem Abstand stehen. Einige Zeit verstrich, ohne dass sich der Hartsteener rührte und nur das Lachen und Fluchen der Knechte, das Rumpeln eines Fuhrwerks und wildes Bellen zu vernehmen war. Schließlich kam ein Wort leise, aber klar und deutlich über die Lippen des Grafen: „Sprich.“

Der Junge hatte geduldig gewartet. Er kannte die Eigenheiten seines Vaters: „Warum?“

„Was meinst du damit?“, langsam wandte sich Luidor seinem Sohn zu, seinem Ebenbild aus jüngeren Jahren. Etwas linkisch stand Odilbert da, ein heller Geist, der Mühe hatte, sich in seinem im letzten Jahr so schnell gewachsenen Körper zurecht zu finden.

„Warum sieben Schwerteltern in sieben Jahren? Warum hast du mich nicht an einen anderen Hof geschickt? Warum nicht nach Luring, oder an den Hof der Kaiserin?“, Odilberts Stimme schwankte zwischen der Welt der Kinder und der Welt der Erwachsenen. Seine Frage dagegen tat dies nicht und Luidor bedachte seinen Sohn mit einem durchdringenden Blick, bevor er antwortete.

„Dereinst wirst du die Aufgabe anvertraut bekommen, die Grafschaft Hartsteen zu führen. Damit du diesen Dienst im Lichte der Zwölfe und des Patrons dieser Lande erfüllen kannst, musst du das Land und die Menschen in ihm kennen und sie müssen dich kennen. Du musst einer der ihren sein – ein Hartsteener Ritter – damit wir und das Land eins bleiben, wie wir es immer waren. Am Hof in Luring oder gar am Kaiserhof wäre das nahezu unmöglich. Darum.“

Odilbert nickte: „Ich verstehe, Vater.“

„Gut. Und nun geh, götterbefohlen“, entließ der Hartsteener seinen Sohn. Für einen Moment sah es aus, als wolle der Junge noch einmal losstürmen und seinem Vater umarmen. Doch er beherrschte sich und neigte lediglich den Kopf: „Götterbefohlen, Vater“, was dieser seinerseits mit einem Nicken quittierte, ohne, dass sich eine Regung auf dem Gesicht zeigte.

Als Odilbert kurz darauf das Anwesen seiner Familie verließ, drehte er sich noch einmal um. Er legte die Hand auf die Fibel in Gestalt eines Igels, die seinen Mantel hielt, und grüßte dann ernst zum Fenster hinauf, an dem der Graf Luidor unbeweglich stand und wieder hinaussah. Zuerst schien er seinen Sohn nicht zu bemerken, doch dann grüßte er mit der verbundenen Linken zurück und für einen Moment schien es, als husche ein Lächeln über das Gesicht des Grafen von Hartsteen.



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Texte der Hauptreihe:
21. Pra 1036 BF zur mittäglichen Ingerimmstunde
Einer der ihren


Kapitel 1

Zwiegespräch
Autor: Steinfelde