Geschichten:Brachenwichtel

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Gut Prutzenbogen, Boron 1042 BF

Es waren zahlreiche Menschen versammelt, um dem Edlen Andor vom Prutzenbogen das letzte Geleit zu geben. Auf dem Gut der Familie, wo sich nach der Beerdigung des Edlen auf dem nahe gelegenen Boronanger versammelt hatten, kamen sie ins Gespräch miteinander. Schnell stellte sich heraus, dass die meisten nicht hier waren, um dem trauernden Sohn und den weinenden Töchtern zu kondolieren oder um tatsächlich Boron die Ehre zu geben, der bekanntermaßen auch die Namen der hier Anwesenden schon auf der Liste hatte und womöglich besänftigt werden sollte. Nein – die meisten waren gekommen, um zu gucken, ob es nicht doch noch etwas zu holen gäbe. Denn bei fast allen hatte der notorisch spielsüchtige Andor Schulden gehabt.

Angeblich war Yasinthe von Droiß als Erste auf dem Gut gewesen und habe noch einen Schmuckdolch einstecken können, aber nun war wirklich nichts von Wert mehr da. Die Droiß auch nicht – wahrscheinlich mit ihrer Beute über alle Berge.

Horulf von Luring war nur aus taktischen Gründen hergekommen, auch um seinem neuen Sekretär die Ehre zu geben, jenem berüchtigten Gsevino vom Prutzenbogen, der schon seinem Bruder Praiodan gedient hatte. Vor allem aber geschah, was eigentlich immer geschah, wenn der Cantzler sich unter den Niederadel begab: Er wurde umlagert, ausgefragt, um gefallen angebettelt und bisweilen sogar beschimpft. Ahrenstedt und Ruchin flankierten ihn, hielten die eifrigen Edlen so gut ab, wie es ging. Eben drückte Ahrenstedt die alte Ritterin Malevinde von Greifenstolz beiseite, die schon wieder etwas wegen ihres Wappens mit ihm klären wollte, während Ruchin sich gutmütig von Orimanda von Albensteyn, der Vögtin des stinkreichen Alfenmohn, ins Gespräch verwickeln ließ.

Luring steuerte auf den Ausgang zu und bog vorher in einen stillen gang ab, der direkt zum aufgebahrten Leichnam führte. Mist! Er schüttelte nacheinander mit Leichenbittermine Adalart und Firinja vom Prutzenbogen sowie Junivera von Nesselregen die Hand, die sich für die Anteilnahme am Tod ihres Vaters tränenreich bedankten, und landete dann bei den Geschwistern des Verblichenen, dem strunzdämlichen Zordan und seiner faulen Schwester Phexiane, ehe er endlich das Handgelenk Gsevinos zu fassen bekam, des jüngsten Prutzenbogen-Bruders: „Gsevino, hier also stecktest du! Ich wollte dir nur mein tiefstes … komme ich durch diese Tür hier raus? Was ist dahinter? Ah – der alte Witwenflügel. Umso besser, komm mit.“

Luring, Ahrenstedt und Gsevino schlüpften in den dämmrigen Raum, der durch kleine Fenster spärlich erleuchtet war. Weiße Laken bedeckten ein paar Möbel, eine Tür führte auf den Hof zurück. „Uff“, entfuhr des dem Cantzler, „diese Hyänen – eine schlimmer als die andere!“ Mit Blick auf Gsevino führte er ertappt hinzu: „Die Gäste, meine ich.“

„Ist schon recht, Exzellenz, die Verwandtschaft kann man sich ja nicht aussuchen. Und die man sich aussucht, ist auch nicht immer die beste“, fügte er in Gedanken hinzu und dachte an seine Gattin, die nicht einmal heute an seiner Seite war. „Habt Dank, dass Ihr gekommen seid.“

„War doch selbstverständlich“, log Luring schamlos. „Ich wollte dich in dieser Stunde meiner Hilfe versichern. Wenn du jetzt wieder rausgehst, schick mir doch bitte mal deine Nichte Irida hinein, machst du das? Danke“.

Luring setzte sich auf die Kante eines undefinierbaren Möbelstücks, das unter seinem staubbedeckten Laken aussah wie ein eingeschneiter eitriger Krötenschemel – und der Cantzler wie eine Maraskantarantel. Sie warteten eine ganze Weile, doch die Ritterin Irida kam nicht. Stattdessen fand Turda Fuxfell hier ihren Herrn.

„Ewex, Ruchin ist uns abhanden gekommen. Nach der Albensteyn hat ihn Reglindis von Orvasberg abgefangen und dann die ungeritterte Uckelsbrückerin umwickelt. Die Orvasberg ist das sparsamste Huhn, das je in der Goldenen Au nach Körnern gepickt hat, hat aber dafür die größten Ohren“, meldete Turda

„Hier bricht das Bild, meine liebe Drossel. Die Ohren von Hühnern sind der Rede nicht wert.“

„Na ja, Ewex, dieses Huhn hat nun einmal Riesenohren. Ich hab sie ausgefragt, nachdem sie Ruchin freigegeben hatte. Der Niederadel der Kaisermark ist in Aufruhr wegen der Brachenwächter.“

„Ach ja, die Brachenwichtel“, stimmte Luring zu. „da sind ja ein paar erstaunliche Exemplare darunter.“

„Das auch, aber vor allem stößt der Orvasberg auf, was die für Geldsummen ausrufen, um ihre winzigen Lehen aufzupumpen. Nehmt nur den Neu-Auenwachter, über den sie etwas mehr wusste. Wahrscheinlich war sie mal wieder als Auge der Kammer irgendwo, wo Normalsterbliche nicht einmal Phex hingucken lassen wollen. Jedenfalls will der 23.000 Dukaten.“

Mit einem Pfiff unterbrach Ahrenstedt Turdas Ausführungen: „Dreiundzwanzigtausend in Gold? Heiliger Sankt Pfeffersack, das ist aber ein ordentlicher Haufen für eine kleine Scholle.“

„Ja, aber der Vairninger hat nur die Hälfte bekommen, erzählte die Orvasberg.“

„Na und – mit … äh … elfeinhalbtausend könnte ich schon eine Menge anfangen“, rechnete Ahrenstedt breit grinsend.

„Das will ich nicht wissen“, erwiderte Turda schnippisch, „zumal die Brachenwächter das Gold ja nicht in Luxus stechen wollen, sondern in Wehranlagen, in richtige Burgen sozusagen. Jedenfalls ist Vairningen stinksauer. Und angeblich nicht nur der. Yasinthe von Brachenhag, die ja vom rat der Stadt alimentiert wird, hat das anderthlabfache des Gefordeten bekommen …“

„Heiligster, nein allerheiligtser Sankt Peff…“

„Still jetzt. Die Brachenhag meinte, dass offenbar die Brachenwächter, die Verwandtschaft haben, ihren Etat selbst aufstocken sollen, während die anderen alles Geforderte erhielten.“

„Das heißt, die Garether Brachenwächter erhielten mehr als die anderen. Damit will Thorn Eisinger sie offenbar von den Rabenmund-Wichteln absondern und die der Stadt gefügig machen. Darum ist auch klar, warum Irida von Gryffingk nicht einmal mehr Guten Tag sagen kommt. Erst war sie Hausritterin des Raben, nun ist sie … schaut! Sie ist die einzige Hausritterin, die ein Brachenlehen bekommen hat! Die hält sich jetzt für die goldene Brachenwachtel.“ Luring ärgerte sich, dass er diese Informationen erst jetzt erhielt. „Wen betrifft das noch?“

Turda zuckte mit den Schultern: „das müsste man rausbekommen. Ostbrisken und Gramfelden sind ganz Rabenmund, die kriegen den vollen Hals. Moosbrisken, Zwingstein, Vulpershain und Praiosborn haben Verwandtschaft, die könnten zu denen mit dem halben Hals gehören.“

„Gut, ihr zwei. Das kriegt mal schön raus. Ahrenstedt: Du gehst nach Vulpershain und findest heraus, was der Koscher bekommt. Wahrscheinlich alles, denn seine Sippschaft dürfte kein Geld haben. Und du, Turda, gehst nach Praiosborn und stocherst bei der Rian. Und Ruchin werde ich zum langen Zerber schicken. Es wäre doch gelacht, wenn wir da nicht den einen oder anderen Unzufriedenen mit dem Dienst am Königreich ködern können!“ Luring erhob sich, klopfte sich den Krötenschemelstaub vom Rock und ließ sich von seinen Leuten aus dem Hof bugsieren.

Im Hinauslaufen raunte ihm Turda noch hinzu: „Ach ja, noch was. Der Verblichene ist keineswegs tragisch aus dem Leben gerissen worden, sondern hat sich selbst aufgehängt. Selbstmord.“