Geschichten:Weiß wie Schnee – Die Weiße Rabe

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Hexenwald, Travia 1044

Über mir kreiste ein Rabe. Ein weißer Rabe. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen weißen Raben gesehen. Und nun kreiste er über mir. Ich schaute ihm lange zu. Verharrte. Und als ich da so stand und ihn beobachtete, hatte ich das Gefühl, auch er beobachte mich. Eine seltsame Magie ging von ihm aus. Eine wilde Magie. Ungezähmt wie die Natur selbst. Mich schauderte, als diese Art der Magie mein Innerstes für einen kurzen Moment berührte und sich dann wieder zurückzog. Ich keuchte. Fühlte plötzlich jede einzelne Faser meines Körpers schmerzen.

Der Rabe zog noch eine Bahn am Waldrand entlang, dann flog er in den Hexenwald hinein. Und ich folgte. Aus den Augen verlor ich ihn jedoch nicht. Er schien regelrecht auf mich zu warten. Saß mal hier und mal dort auf einem Ast. Immer weiter und weiter drang ich in den Wald hinein, bis die Bäume vor mir einer kleinen Lichtung wichen. Dort wuchs saftig grünes Gras. Es schimmerte wie angelaufenes Kupfer im Licht der untergehenden Praiosscheibe. Ein Reh nutzte die letzten Stunden des dahinschwindenden Tages und äste friedlich zusammen mit seinem Kitz. Das Muttertier hob seinen Blick, als ich näher kam, musterte mich, entschied dann, dass ich keine Gefahr darstellte und wandte sich wieder dem zu, was unter meinen Füßen lag. Es war nicht die Reaktion des Tieres allein, die mich verblüffte, es war auch der Umstand das Reh und Kitz weiß waren. Weiß wie Schnee.

Das Krächzen des Raben riss mich aus meinen Gedanken. Wieder spürte ich die Magie nach mir greifen. Und erneut zog sie sich nach einer kurzen Berührung zurück. Mein Blick fiel auf eine kleine Hütte, die sich am Rande der Lichtung in den nahen Wald schmiegte. Sie fügte sich perfekt in ihre Umgebung ein. Der Rabe erhob sich und flog auf sie zu. Ich folgte ihm, wie zuvor auch. Die Tür stand einen Spalt offen. Unter dem kleinen Vordach hingen eine Vielzahl von Kräuterbündeln. Einige frisch, die anderen bereits trocken. Ein würziger, herber Geruch ging von ihnen aus. Ich sog ihn ein. Und er erinnerte mich an etwas oder… an jemanden? Zu Beginn hatte mich die Magie geführt, aber nun? Nun war mir, als ob ich mich an jemanden erinnerte und als ob es jene vage Erinnerung sei – nicht mehr als ein dunkler Schatten in der Dämmerung – die mich dort hinein zu ziehen versuchte.

Ich öffnete die Tür einen Spalt weiter. In der Hütte sah es ebenso aus, wie hier draußen. Gebündelte Kräuter hingen von der Decke herab. Ein noch würzigerer und noch herberer Geruch drang mir in die Nase, verstärkte die Erinnerung und damit das Verlangen, hinein zu gehen. So trat ich ein. Drinnen sah es kärglich aus. Ein Tisch mit zwei Stühlen, dahinter eine verrußte, offene Feuerstelle. Der weiße Rabe saß auf dem Ast eines toten Baumes ohne Rinde, der zwischen den gestampften Boden der Hütte und der hölzernen Decke gezwängt worden war. Mit seinen hellblauen, leuchtenden Augen schaute er mich direkt an, musterte mich. Mir jagte ein kalter Schauer den Rücken hinab, denn sein Blick drang tief im meine Seele, bis auf den Grund meiner Seele. Nackt und hilflos fühlte ich mich. Und die wilde Magie drang tiefer in mich hinein, immer weiter und weiter und weiter, wühlte sich durch meinen Kopf, durch meine Erinnerungen, erforschte die Tiefe meines Seins. Plötzlich erhob sich der weiße Rabe krächzend und das magische Band zerriss.

„Endlich“, hauchte da eine sanfte Frauenstimme zu meiner Linken. Erschrocken wandte ich mich ihr zu, sah den Raben auf ihrer Schulter sitzen. Es war eine kleine Frau von äußerst zierlichen Wuchs, ihr langes, weißes Haar trug sie zu einem dicken Zopf geflochten, die hellblauen Augen ähnelten denen ihres Raben und auch ihre Haut war so weiß wie sein Gefieder. Um ihren Körper hatte sie eine Decke gewickelt. Sie machte einen wiegenden, bedächtigen Schritt auf mich zu und gab den Blick auf die mit allerlei weißen Fellen geschmückte Bettstatt hinter ihr frei. „Endlich“, raunte sie mir erneut zu, „Ich habe so lange auf dich gewartet. So lange.“ Sanft legte sie ihren Kopf schräg. Fixierte mich mit ihren hellblauen Augen. Wieder begann Magie in mich hinein zu sickern. Sie ähnelte der wilden, ungezähmten Magie, die von dem Raben ausgegangen war, doch diese war noch stärker, drang noch tiefer. Ich schauderte. Konnte ihren Atem auf meiner Haut spüren. Selbst unter meiner Kleidung konnte ich ihn spüren. Gänsehaut breitete sich über meinen gesamten Körper aus. „Denn ich wusste, dass du kommen wirst. Ich habe es gesehen. Vor vielen Götterläufen habe ich es schon gesehen. So lange habe ich auf dich gewartet.“

Vollkommen unerwartet ließ sie die Decke zu Boden gleiten und offenbarte ihren splitternackten, bleichen, aber makellosen jungen Körper. Ganz dicht trat sie an mich heran. Ich schluckte, wusste nicht so recht wie mir eigentlich geschah. Ihr süßlich, lieblicher Geruch stieg mir in die Nase, vernebelte mir die Sinne, raubte mir meinen Verstand. Mein Atem ging schnell. Ich begann die Kontrolle über mich selbst zu verlieren, immer mehr und mehr entglitt sie mir und ich geriet in den Sog dieser Fremden. Dieser schönen, anmutigen, nackten Fremden. Mit Bestimmtheit legte sie ihren Zeigefinger gegen meine Lippen und als ihre Haut meine berührte, da entfuhr mir ein wohliges Seufzen.

„Ich werde ‚Die Weiße Rabe‘ genannt“, raunte sie mir leise zu, „Alle nennen sie mich so. Dabei trug ich früher mal einen anderen Namen. Ich habe ihn vergessen. So wie ich viel über die Zeit vergessen habe. Dich jedoch habe ich nicht vergessen. All die Götterläufe nicht. All die Götterläufe habe ich auf dich gewartet und nun, nun bist du endlich hier, Ortal ay Fasar.“ Erwartungsvoll blickte sie mich an. „Und jetzt, jetzt wirst du endlich erhalten, worauf du die ganzen Götterläufe gewartet hast...“ Ein lustvolles Stöhnen entrann meiner Kehle, dann schwanden mir meine Sinne gänzlich...