Geschichten:Reise in den Schlund

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Die Reichsstraße barst fast vor buntgekleideten Rittern, gemeinen Soldaten, Pferdefuhrwerken, Gauklertruppen, reisenden Bauern und sonstigen zwielichtigem Gesindel. Ab Gareth etwa hatte sich die Reisegeschwindigkeit drastisch verringert, was unter anderem auch daran lag, dass die schon zu Friedenszeiten mangelhaften Straßen nach dem Bekanntwerden des drohenden Krieges komplett unbenutzbar erschienen. An mehreren Stellen waren provisorische Brücken eingebrochen und die notdürftigen Baumaßnahmen dauerten zumeist mehrere kostbare Stunden. Aber mit seiner Kutsche war der Reichsvogt Hilbert von Hartsteen auf sie angewiesen.

Alleine und nur von einem Södner begleitet war er aus Sertis aufgebrochen und in Richtung Burg Oberhartsteen gereist. Zuvor hatte er noch alles nötige in die Wege geleitet, damit das Ausheben der Truppen zügig und reibungslos von Statten gehen konnte. Das hieß, er hatte Tumanjan, seinem Secretarius, Medicus und Vogt aufgetragen, was er eh schon zu tun gedachte. 'Eigentlich ist dieser tulamidische Dämon ein besserer Reichsvogt als ich', schoss es dem Adligen durch den Kopf. Aber schnell schüttelte er wie zur Antwort den Kopf und murmelte vor sich hin: "Er hat weder Familie noch Blut. Er ist ein Lakai, nichts weiter. Und ein zäher Brocken dazu."

Die Route, welche Hilbert gewählt hatte, lief nicht, wie üblich, durch Hartsteen und die prächtige Stadt gleichen Namens, sondern südlich der Natter durch die Schlunder Gebiete Erlenstamm und Nettersquell. Er würde zwar einen Umweg von mehreren Tagen in Kauf nehmen müssen bei dieser Planung, aber wenig Lust verspürte er bei der Vorstellung an der Ruine der alten Grafenburg vorbei zu reiten, welche in seiner blühenden Phantasie noch schwelend und rauchend über der Natter drohte. Er ließ es sich so nicht nehmen, die gemütlichen Gasthäuser der Schlunder Lande in Anspruch zu nehmen, und so mancher Wirt begrüßte ihn als Mitglied eines uralten Adligengeschlechts, welches daeinst den Landesherren gestellt hatte. Vom drohenden Krieg war hier nur wenig zu spüren, die Bauern gingen gemächlich ihrer Arbeit nach und die wenigen Städter unterschieden sich in ihrer Ruhe und Gemütlichkeit nur wenig von dem Menschenschlag in der nördlichen Grafschaft.

Mehr als eine Woche war vergangen, als Hilbert endlich die stolzen Mauern Oberhartsteens in der Baronie Hartsteen erblickte. Die Flagge der Familie und der Baronie standen auf Halbmast und überall blickte er in betretene Gesichter. Mit knappen Worten befahl Hilbert einem Knecht, sich um die Tiere und seinen Begleiter zu kümmern, während er sich eilig in die privaten Gemächer seines Vetters Luidor von Hartsteen, den designierten Baron von Hartsteen und das zukünftige Familienoberhaupt, begab.

Ein Diener ließ ihn lange in einem Vorzimmer warten. Ungeduldig schritt Hilbert auf und ab, und hielt kurz inne, als eine der reichverzierten Flügeltüren geöffnet wurde. Doch anstelle des Bediensteten empfing ihn die Frau Luidors, eine gebürtige Ehrenstein ä.H.

"Wir freuen uns sehr, dass Du den weiten Weg nicht gescheut hast, zumal in diesen Tagen..."

Hilbert winkte ab. "Nein, das ist jetzt unwichtig. Der Alte hat mir geschrieben, dass ihr hier seid. Und ich bin sofort aufgebrochen, um zu sehen, ob ich etwas tun kann."

"Luidor liegt mit Wundfieber nieder. Ein Höllenwaller Söldling hat ihm einen verfluchten Bolzen in den rechten Oberschenkel geschossen. Aber der Medicus sagte, dass das schlimmste überstanden sei."

"Wie geht es Danos und Odilbert?"

"Der Kleine ist bei uns. Er hat das ganze besser überstanden, als ich gedacht hätte. Er meinte, der unrechtmäßige Graf griffe an, um die wahren Grafen zu vernichten."

"Schlau für seine fünf Götterläufe..."

"Und Danos ist unterwegs nach Wehrheim."

Hilbert blickte betreten zu Boden, scharrte mit den Füßen und schwieg. "Wir haben keine Nachricht von ihm, wir wissen ja nicht einmal, ob die Heere schon aufeinander geprallt sind, oder nicht."

"Das Reich wird siegen. Die Götter sind schließlich mit uns!" beeilte sich Hilbert zu sagen. Aber mehr als eine Phrase war dies nicht, und mit einem Stich fühlte er es.

"Luidor empfängt Dich gleich, er macht sich nur ein wenig frisch. Ein Diener wird Dich holen" verabschiedete sich die stolze Frau.

Nachdem Hilbert lange Zeit gewartet hatte, brachte ein Diener schließlich die Nachricht, dass sein Vetter Luidor ihn zu sehen wünsche. Es ging durch einige private Gemächer, welche auch schon unter Alwenes Regentschaft nur den engsten Besuchern vorbehalten waren. Man hatte beim Umbau der Burg vor etwa 300 Jahren mehr Komfortabilität dadurch erreicht, dass man die Innenräume umgestaltet hatte. Zwar war noch immer das Hauptgebäude der Burg der hohe Burgfried, von dessen Spitze man weit in die Schlunder und Hartsteener Lander blicken konnte, doch die Wohnstätte der Barone von Hartsteen hatten einen leichten Anflug von Eleganz bekommen, als die Eslamiden der Familie bereits deutlich machte, dass ihre Zeit vorrüber sei.

Nussholz-Tafelwände mit zierlichen Schnitzereien gaben den Gemächern einen Hauch von Verspieltheit. Hilbert allerdings würdigte den Szenen, die ein unbekannter Künstler mit viel Mühe und Kleinarbeit erschaffen hatte, nur einen flüchtigen Blick und trat gefasst in das riesige Schlafgemach seines Vetters, und dem baldigen Familienpatriarchen ein.

Müde und schwerfällig erhob sich Luidor von seinem Lager. "Ah, Hilbert! Die Zwölfe Dir zum Gruße! Es freut, Dich zu sehen!"

Während er sprach, humpelte Luidor auf ein kleines Tischchen zu, auf dem übereinander mehrere Briefe und beschriebene Bögen Papier lagen. Der Kranke ließ sich auf einem weichen Sessel nieder und bot Hilbert mit der Linken, Platz zu nehmen auf einem niedrigen Schemel. Hilbert folgte der Auforderung.

"Die Begebenheiten überschlagen sich, Hilbert. Die Schlacht muss nun etwa zu dieser Zeit geschlagen worden sein, und bis wir hierhin Nachricht bekommen, wird es mindestens zwei oder drei Tage dauern. Wenn wir überhaupt noch Nachricht bekommen werden..."

"Sollte die Schlacht etwa so schlecht ausgegangen sein?", fragte Hilbert leicht übergebeugt seinen Vetter.

"Solange wir nichts wissen, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Doch selbst wenn wir die Schlacht verloren haben, so gilt es einen Krieg zu führen und nicht über Verluste zu jammern. Die große Schwäche des Reiches ist seine Zerstrittenheit. Die Schwarzen Landen haben wohl getan, so lange zu warten, bis die Unfähigkeit der Raulschen offenbar wurde. Daran ändern wir jetzt nichts mehr, es gilt an die Zukunft zu denken."

Mit diesen Worten zog er einen schmaleren Bogen Pergament unter dem großen Haufen vor, der mit seiner zierlichen Handschrift komplett zugeschrieben worden war.

"Die nahe Zukunft liegt in Elenvina. Würde mich diese unnötige Wunde nicht hindern", er wies verächtlich auf sein Bein, "so würde ich nach Elenvina reisen. Doch so muss ich die Familienangelegenheiten in Deine Hand legen. Du musst Dir bewußt sein, dass Du dort Einfluss für das Wohl der Familie Hartsteen nehmen kann, so wie für das Reich. Suche Bündnisse mit geeigneten Partnern und versuche die Position der Hartsteens zu stärken."

"Muss nicht aber zuerst an das Reich gedacht werden?", fragte Hilbert ruhig.

"Sei besorgt, Wir denken stets an das Reich. Wir sind mit ihm entstanden und werden mit ihm untergehen. Das Haus Gareth ist derzeit so schwach wie kaum jemals zuvor. Und die Entscheidungsträger des Reiches schwächen es von Tag zu Tag, so dass sich die Frage stellt, welches Haus die Kraft besitzt, dieses ehrwürdige Reich in diesen schweren Tagen umsichtig und klug zu führen."

Hilbert folgte den Worten Luidors gebannt. Es war das erste Mal, dass er in die inneren Familienangelegenheiten einbezogen wurde. Das erste Mal gab die Familie ihm einen wichtigen Auftrag.

"Hier steht kurz beschrieben, wie ich die Situation einschätze. Du wirst vielleicht an der einen oder anderen Stelle denken, ich sähe es zu negativ. Allein es gilt, sich dem voranschreitenden Verfall entgegen zu stellen. Lokal haben Wir damit bereits begonnen. Der Schutz des familiären Lehens, auch wenn er derzeit von Feilschern und Marketendern verwüstet wird, ist die wichtigste Aufgabe derer von Hartsteen. In dieser Burg existiert noch immer die Urkunde Rauls des Großen, in welcher er Serapha Rondrigunde, aus welche später die Familie Hartsteen entspringen soll, den Auftrag gab, den Flecken Land östlich von Gareth bis hin zur Rommilyser Mark zu beschützen, denn damals drohte der Ork die Ordnung zu stürzen, so wie er es auch heute tut. Dieser Befehl ist Primat. Die echten Hartsteener Ritter sammeln sich zur Stunde in Hutt und sollen Sorge tragen, dass keinem Bauern und keinem Marktflecken Gefahr droht."

Luidor verzog das Gesicht vor Schmerzen und fasste sich an sein Bein.

"Es verlief nicht alles nach Plan, allein wir sind erst am Anfang der Geschichte. Diese Tage und Stunden bestimmen allein über den Fortbestand der ehrwürdigen Familie. Du sollst, als höchster Vertreter der Familie dort, mit dafür Sorge tragen, dassdas Reich nicht zerfällt. Stärke dem Haus vom Groszen Flusz den Rücken und versuche den Reichserzkanzler zu sprechen. Auf seiner Seite hast Du zu stehen. Jetzt geh und vergiss nicht, dass viel, wenn nicht alles, von Deinen Taten in Elenvina abhängt!"

Mit einem deutlichem Zeichen gab Luidor Hilbert zu verstehen, dass die Audienz vorbei sei, und der zukünftige Patriarch zu Bette gehen gedachte.

Mit vielen Gedanken verließ Hilbert das Schlafgemach und ließ sich auf sein Gästezimmer bringen. Am morgigen Tag würde er gen Sertis reisen, und seine Frau Alena abholen, um rechtzeitig zum großen Konvent des mittelreichschen Adels in der Herzogenstadt zu sein.


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