Geschichten:Wissensdurst - Bildungsbürgertum

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Der Wagen ratterte schlingernd auf dem Kopfsteinpflaster vorbei, während der Knabe schwitzend sein Schwert über den Kopf schwang, die Zähne zusammengebissen und einen Ausdruck auf dem Gesicht, als plane er, sein Gegenüber ungerammt in den Boden zu spitzen. Den aufeinander gepressten Lippen entfuhr ein Grunzlaut, während er nach vorne stürzte und die Waffe mit martialischer Gewalt herabsausen ließ... zumindest mit der martialischen Gewalt, zu der ein schmächtiger Dreizehnjähriger fähig war, was letztlich zumindest einen Anfang darstellte. Das Metall prallte hart auf, wurde aber kontrolliert abgelenkt und wischte seitlich nach unten, während die gegnerische Waffe einen Bogen beschrieb und mit voller Wucht gegen die Schulter des Jungen prallte... gut, so viel Wucht, wie ein voll ausgebildeter und meisterlicher Kämpfer zuließ, um seinen Schüler nicht zu verletzen aber mit einem äußerst schmerzhaften blauen Fleck darauf hinzuweisen, dass er in Zukunft würde vorsichtiger sein müssen.

Trotzdem traf der Schlag weit schmerzhafter, als er gemeint war. Vielleicht eben weil der Junge wusste, dass sein Lehrmeister nicht alle verfügbare Kraft und Schnelligkeit eingesetzt hatte, um ihn zu schonen. Oder aber weil sein Lehrmeister noch nicht einmal erhitzt war. Oder weil er gegen das Langschwert mit einem einfachen Stab aus Steineichenholz kämpfte, der lediglich an den Enden mit einer metallenen Ummantelung versehen war, um ihn auszubalancieren und ihm mehr Schwung zu verschaffen. Oder auch nur deshalb, weil sein Lehrmeister blind war und ihn trotzdem wie ein Welpen zusammenprügelte.

Nasar, Hauptmann der Bannstrahler und 'Beschirmer der Ordnung Greifenlande zu Greifenfurt' verharrte locker mit gebeugten Knien, den Stab ausbalanciert vor sich in der Luft, die nutzlosen Augen geschlossen, alle Sinne bis zum Äußersten angespannt. Sein Knappe seufzte und hob erneut das Schwert, ließ es aber wieder sinken, als er den Gesichtsausdruck seines Meisters wahrnahm. Dieser hatte den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und es schien fast, als wittere er. Hjalmar stand lange genug in den Diensten Nasars, um die Zeichen zu deuten. Flink sah er sich auf dem Übungshof vor dem Greifenfurter Bannstrahlerturm nach allen Seiten um, während er aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie sein Meister den Stab sachte auf den Boden stellte, als diene er lediglich dazu, einem Blinden Krücke und Auge zu sein.

Einmal hatte er Nasar deshalb zur Rede stellen wollen, immerhin konnte man dieses Verhalten ja durchaus als Täuschung auffassen, doch der hagere Mann hatte nur in sich hinein gelächelt und einen dieser kryptischen Sprüche vorgebracht, die sein Knappe, Lehrling und Schüler mehr zu fürchten gelernt hatte als alles Andere. Denn meistens hatten die Rätselworte keine offensichtliche Lösung, blieben aber trotzdem oder gerade deshalb wie beste Pechackerner Schmiere im Gedächtnis kleben und beschäftigten einen, bis man es vermeindlich geknackt hatte, nur um auf Nachfrage in einer Richtung erweitert zu werden, an die man noch überhaupt nicht gedacht hatte.

Damals hatte Nasar gemeint, er täusche sein Gegenüber ja gar nicht. Dieses sehe im Gegenteil letztlich aus sich selbst heraus nur das, was es sehen wolle. Und weil seine Phantasie nicht ausreiche, in dem Stab eines Blinden etwas anderes zu sehen als eine Gehhilfe, müsse er doch nicht auf weitere Verwendungsmöglichkeiten aufmerksam machen. Schließlich stelle Praios auch lediglich seine Sonnenstrahlen zur Verfügung, damit man die Welt im rechten Licht betrachten könne. Wie man aber das, was man sehe, interpretiere und wie man hierauf seine Handlungen ausrichte, dies schreibe der Götterfürst niemandem vor sondern belasse es jedem Einzelnen, aus eigenen Fehlern und eigener Betrachtung zu lernen.

Hjalmar hatte sich sein Leben als Knappe wahrlich anders vorgestellt. Und auch seinen Lehrmeister hätte er sicherlich nicht ausgesucht. Und doch war da etwas an diesem asketischen Mann mit der spiegelnden Glatze und den milchweißen Augen, das ihn genauso fesselte wie die Rätselsprüche oder die Frage, warum dieser Blinde trotz allem in der Lage war, jede seiner Bewegungen vorauszuahnen, ehe er selbst sich dieser überhaupt bewusst war.

In dem langen Jahr, welches er nun schon hier im Bannstrahlerturm weilte, hatte der Knabe gelernt, den Ahnungen seines Herrn zu vertrauen und in dessen kleinsten Gesten zu lesen. So konnte er dessen Aufmerksamkeit ohne Probleme hin zu einer Gestalt folgen, die sich, einen augenscheinlich schweren Tornister auf dem Rücken, quer über den Hof zögerlich näherte, während sie suchend nach links und rechts blickte. Woher sein Meister geahnt hatte, dass sich dieser Mann... "Wenn du genau hinhörst, so haben alle Waffengänge, die hier ausgefochten werden, ihren ihnen eigenen Rhythmus und Tanz, an denen ich ohne Weiteres unterscheiden kann, wer sich da gerade einen Übungskampf liefert. Das leichte Hinken dort hinten zum Beispiel wird Pranjane sein, der schwere Schritt dort drüben, gepaart mit dem heiseren Keuchen beim Schlag Ucurion. Und wenn du diese Übungen als Symphonie ansiehst, wie ich es tue, dann kannst du hören, wenn sich plötzlich die Töne ein wenig verschieben, weil die Kämpfer jemandem ausweichen müssen, der ihren Weg kreuzt. Der Jemand ist somit ernst genug zu nehmen, dass man ihm Platz macht, aber nicht bedrohlich oder ungewöhnlich genug, dass man den Kampf abbricht." Nasar raunte seinem Knappen die Erklärung zu, als habe er die Gedanken des Jungen lesen können. Hjalmar lief eine Gänsehaut über den Rücken. Jeder wusste, dass Nasar immer wieder Visionen von seinem Herrn empfing, doch wenn es nach Hjalmar ging, wäre dies überhaupt nicht nötig gewesen, um den Ruf des Bannstrahlers zu festigen, mit den blinden Augen weit mehr zu schauen als ein Sehender. Ihm war es grausig unheimlich, wie sein Lehrherr scheinbar mühelos auch noch seinen intimsten Gedanken zu lesen verstand.

Der Mann, der sich ihnen nun auf direktem Wege näherte, trug die Kleidung eines Geweihten der Nanduskirche, wenn Hjalmar in seinem Wissen um Götter und Kulte nicht vehement falsch lag. Dazu passte auch die dicke Lederrolle, die sich der Mann neben seinem Ranzen umgehangen hatte und die sicherlich einen fulminanten Stapel an Pergamenten enthielt, sowie die Schreibfeder, die er sich hinter sein Ohr geklemmt hatte und die bei jedem seiner nun plötzlich energischen Schritte munter auf und ab wippte. Augenscheinlich hatte der Fremde in ihnen sein Ziel gefunden.

Endlich hatte der Mann sie beide erreicht und nickte dem Knappen freundlich zu, während er sich gleichzeitig sammelte, um nach einem kleinen Räuspern den Hauptmann der Bannstrahler anzusprechen: "Thamos von Idaijon mein Name, Geweihter des Nandus, Sucher und Finder, Gelehrter im Namen der Kirche. Verzeiht, aber seid ihr zufällig Nasar, der 'Beschirmer der Ordnung Greifenlande zu Greifenfurt'? Und wäre es, wenn dem so wäre, möglich, dass Ihr mir eine kleine Zeit unter vier Augen gewährt?" Hjalmar zuckte ein wenig unter dem Redeschwall des hoch gewachsenen Mannes zusammen. Sein Herr neigte zu gegenteiligem Verhalten und sprach, wenn überhaupt, überlegt, langsam und nie mehr als wirklich nötig... es sei denn, er hatte ein neues Rätselwort für seinen Knappen.

"Nun, um ehrlich zu sein: nein, ja und letztlich schwer zu sagen." Hjalmar biss sich verzweifelt auf die Unterlippe, um nicht über das gesamte sommersprossige Gesicht zu grinsen, während er zu Boden starrte. Der Nandusgeweihte stockte in seiner Bewegung und - so weit es Hjalmar aus seiner zum Beobachten doch recht ungünstigen Lage heraus beurteilen konnte, starrte den Bannstrahler ungehörig lang an. Sicherlich kräuselte sich auch seine Oberlippe und wahrscheinlich stellte er irgendetwas mit einer seiner Augenbrauen an.

Schneller als der Knappe erwartet hätte, fing sich der Geweihte wieder und räusperte sich. "Ihr meint?" "Ich bin Nasar, dabei spielt kein Zufall mit. Und wir können uns gerne zu einer Tasse Tee und einem Gespräch zurückziehen, so Ihr dieses andachtet, wobei ich meines Knappen bedürfte, um die notwendigen Schritte der Teezubereitung durchzuführen, was sechs Augen bedeuten würde, wobei es einer genauen Definition bedürfte, ob man die meinigen ob ihres Zustandes tatsächlich noch als Augen im eigentlichen Sinne bezeichnen kann. Dies wiederum würde die Anzahl der Augen auf die geforderte Zahl von vier zurücksetzen." Kurz zögerte Thamos von Idaijon, dann nickte er zum Einverständnis, nur um direkt im Anschluss dies noch einmal verbal nachzuschieben. Immerhin war er von der Blindheit seines Gegenübers überzeugt.

Auch hierzu hatte Nasar seinem Schützling einiges an Ausführungen zuteil werden lassen mit der Quintessenz, dass Blindheit letztlich überhaupt nichts mit den Augen sondern vielmehr mit Geisteskraft zu tun habe, doch der Knappe war erfahren genug, um dahingehend einfach den Mund zu halten, die Herren zu begleiten und seine Ohren gespitzt zu halten. Er wusste schon jetzt, dass Nasar nach dem Weggange des Fremden eine genaue Einschätzung Hjalmars fordern würde, inklusive genauer Beschreibungen, wie und aus welchen Beobachtungen heraus er zu seinen Überlegungen gekommen sei.


Der Tee war schnell bereitet und zog in einer großen bauchigen Kanne, während Hjalmar Teegläser bereitstellte und ein wenig Rosinen in kleine Schüsselchen füllte. Er hielt sich im Hintergrund, während die beiden Gesprächspartner sich zuerst eine geraume Weile anschwiegen, wie sich das für eine ordentliche Konversation gehörte. Während der nun folgenden ersten Schlucke sprach man über Belanglosigkeiten und tauschte sich über Straßenverhältnisse und Reiseanekdoten aus. Endlich aber stellte jener Thamos sein Teeglas aus der Hand und blickte vor sich, als suche er den Anfang eines Gesprächsfadens. "Wir beide haben uns den Göttern verschrieben. Ihr dem Götterfürsten, ich dem Sohn zweier Götter. Unserer beider Kirchen eint zudem der Glaube daran, dass die Menschen ausgebildet werden sollen, die Gebote der Götter und deren Weisungen zu verstehen und zu begreifen. Sie sollen - verzeiht mir diese Floskel - zur Erleuchtung geführt werden."

Hjalmar zuckte innerlich zusammen. Abgesehen davon, dass er dem Geschwafel des Geweihten nur mit Mühe folgen konnte, schien dieser in dem Versuch, die gemeinsamen Interessen herauszustellen, wesentliche Unterschiede beider Kirchen schmählichst zu vernachlässigen. Er sprach über die Bedeutung von Wissen als Grundlage der Beurteilung von menschlichen Handlungen, nur um sogleich thematisch zur Notwendigkeit zu springen, Artefakte und alte Schriften sicherzustellen, dass sie nicht in unwissende Hände gerieten. Und dann verwies er plötzlich auf die stadtbekannte Rivalität zwischen Nasar und dem Illuminatus der Mark und der Möglichkeit Nasars, jenem ein wenig Ungemach zu bereiten, wobei alles in rechtlich einwandfreien Bahnen bliebe. Er solle Thamos lediglich beauftragen, im Namen des Bannstrahls Artefakte und Schriften sicherzustellen, welche er nach einer eigenen Abschrift Nasar übergeben wolle, damit dieser sie in die Obhut der Kirche nach Auraleth verbringen und sich so das Lob der Kirche und ein wenig Neid seitens des Dergelsteiners erhaschen könne.

Hjalmar mühte sich, ein ausdrucksloses Gesicht zur Schau zu tragen. Die Vorgehensweise des Nandusgeweihten widersprach so entschieden der Politik, welche Nasar hier im Bannstrahlerturm verfolgte, dass es schlimmer nicht sein konnte. Wie konnte Thamos auch nur im entferntesten annehmen, Nasar werde sich in ein derartiges Spiel einlassen. Dann plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte sich mit einigen der alten Kämpen hier in Greifenfurt über seinen Herrn unterhalten und von diesen Bannstrahlern sagen lassen, dass Nasar vor seiner Erblindung bei einem Steinmonument namens Peraines Nadel ein von Standesdünkel und Ehrgeiz zerfressener Mensch gewesen sei, dass aber die Versehrung der Augen und die plötzlich einsetzenden Visionen Nasar zur Gänze gewandelt hätten. Wahrlich, insgeheim war Hjalmar heilfroh darüber, diesem neuen Nasar zu dienen und nicht seinem Vorgänger.

Nachdem der Hauptmann der Bannstrahler sich die erschöpfend langen Ausführungen des Nandusgeweihten schweigend angehört hatte, entschuldigte er sich in kurzen Worten, um abschließend die Bitte rundheraus abzulehnen. "Wir unterstehen letztlich trotz aller Rivalität, die man uns andichten mag, dem Illuminatus von Greifenfurt. Ihm sollte Eure Bitte gelten, zumal sein Sigulum euch Tür und Tor weiter öffnen dürfte und auch die Gesichter der hier Lebenden weniger mit Furcht und mehr mit götterergebener Freude zieren dürfte, als dies meine Unterschrift jemals könnte."

Kurz befürchtete Hjalmar, Thamos, dessen Gesicht sich unter den kurzen aber klaren Worten Nasars stark gerötet hatte, könne es an der notwendigen Zurückhaltung mangeln lassen und tatsächlich schien der Nandusgeweihte kurz mit sich zu ringen, während er sich erhob. Dann jedoch bedankte er sich fast unfreundlich knapp und verließ das Zimmer des Hauptmannes.

Hjalmar wollte schon seinen Herrn ansprechen, als dieser plötzlich zusammenzuckte, seine Hände vor die Augen presste und aufkeuchte. Sein ganzer Körper erbebte, während er in kurzen Stößen die Luft einsog und nachgerade wieder ausspieh. Dann, eine Ewigkeit schien vergangen, obwohl sicherlich nur ein paar Sekunden verstrichen waren, fiel der ausgemergelte Mann in sich zusammen, gerade eben noch aufgefangen durch den schmächtigen Jungen, welcher just zu diesem Zwecke das gerade abgewaschene Teeglas aus der Hand hatte fallen lassen. Wie von Ferne vernahm er die flüsternde Stimme seines Herren und doch prägten sich die Worte in seinem Geist ein, als seien sie hineingemeißelt: "Ein Stein, groß wie ein Berg, darauf der Greif. Und um ihn herum, wie wimmelnde Ameisen, Schwarzpelze. Dunkle Wogen, aus denen der Fels zerklüftet sticht, Welle um Welle brechend, doch endlos der Ozean. Und die Flanken des Greifen zieren die Banner der Mark wie das Banner der Donnerherrin. Doch der Stein färbt sich rot und es ist nicht der stinkende Brodem des Orken... Kämpft, Brüder, kämpft für die Götter. Kämpft für die Greifen. Denn die Orken, die Orken kommen!!!"


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20. Bor 1036 BF
Bildungsbürgertum
Bücherwürmer


Kapitel 3

Bücherverbrennung
Autor: Wertlingen