Geschichten:Greifendämmerung - Personalfragen sind Machtfragen
Beratungszimmer des Reichsforster Grafen in Alderans Turm, Rahja 1035 BF
Der Regent der Grafschaft beugte sich mit angestrengtem Blick über die Listen, die in dem Pergamentfolianten die seriellen Informationen der Herrschaft reihten. Drego von Luring runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen, strich sich mit der Linken über die Brauen, schüttelte schließlich den Kopf und schob aufseufzend den Folianten beiseite.
»Das soll die Aufgabe eines Grafen sein? Zehntrollen studieren? Fuder und Scheffel zählen? Sterbegelder, Wehrgelder, Weingelder und Was-weiß-ich-Gelder zur Kenntnis nehmen? Sprich, Schwester, hat Vater das etwa getan?«
Ederlinde hatte schweigend bei ihrem Bruder gesessen, seit sie ihn vor einer Stunde endlich aus dem Zwinger hatte lotsen könne, wo Drego seine Hundezucht bestaunt hatte. ›Hundezucht‹ war noch zu viel gesagt, denn immerhin waren das halbe Dutzend Wehrheimer Bluthunde vor allem blutjung, aber die Welpen schafften es, des Regenten Aufmerksamkeit vollständig zu bannen. Nun, heute nicht. Es regnete, und Ederlinde hatte sofort begriffen, dass das schlechte Wetter ihr wichtigster Verbündeter war, um ihren Bruder in das Regieren einzuführen. Und zu einigen Entscheidungen zu drängen. Sie konnte doch schlecht die Unterschrift ihres Bruders fälschen!
»Hat Vater diese Listen etwa selbst gelesen, Linde?« Drego schob nun auch den Stuhl zurück, der laut auf den Steinfliesen kratzte, um noch mehr Abstand zu der »staubigen Arbeit« zu bekommen.
Ederlinde seufzte leise: »Ja, Drego. Er selbstverständlich alle Listen gelesen und alles selbst gemacht, als Großvater ihn in die Geschäfte eingebunden hat. Onkel Odo erzählt gern, dass Vater auch lieber draußen gewesen wäre, bei den Rössern und Rittern, aber er musste in dieser Kammer sitzen und Listen lesen. Ja.«
Bei der Nennung Onkel Odos entließ Drego zischend die Luft durch seine Lippen. Er hörte seiner Schwester kaum zu, sondern wand den Kopf zum schmalen Turmfenster, hinter dem der Sommerregen gleichmäßig fiel.
»Hörst du, Drego? Vater hat das auch alles gemacht, das gehört nun mal dazu!«
»Also ich habe Vater so gut wie nie hier gesehen. Er hat doch Onkel Horulf den ganzen Kleinkram machen lassen.« Drego nahm eine Schreibfeder in die Hand und strich mit der anderen über die geschwungene Federfahne in Richtung des Strichs, dann aber in die Gegenrichtung, und die Federäste verwandelten sich in zackige Unordnung.
»Das ist richtig, Drego. Onkel Horulf - und auch ich - haben das meistens gemacht, aber Vater hat keinen Monatsersten verstreichen lassen, ohne alles nachzuprüfen. Und er konnte das, weil er es eben gelernt hatte. Genau das sollst du jetzt auch: es lernen. Danach kannst du wieder zu deinen Kläffern gehen.«
»Das sind keine Kläffer, Linde, sondern die ›Grafenmeute‹. Das werden mal erstklassige Rassehunde!«
»Die meinte ich nicht, Drego, sondern deine Bande von Tunichtguten.« Ederlinde war ein bisschen zornig geworden. Eine leichte Röte legte sich über ihr blasses Gesicht. Sie war angeschlagen und übermüdet. Sie musste einerseits ihren Bruder ständig antreiben, dann ihren eigenen Gatten beschwichtigen, der sich am liebsten stets eingemischt hätte. Darüber hinaus musste sie der Mutter die Sorgen erleichtern, die sie sich um den Vater und den Sohn machte. Sie musste Ederlinde sich zwischen Onkel Odo und Dregos Bande stellen, damit nicht die Fetzen flogen, und momentan musste sie auch noch Onkel Horulf vertreten, der mit vielen Vasallen zum Großen Kabinett nach Grambusch geritten war. Die Nachrichten von dort waren auch nicht gerade ermutigend - Schroeckh zurückgetreten! Ein Durcheinander war das! Ederlinde erhob sich, weil sie vor der Tür das Nahen mehrere Personen vernahm.
Die Tür sprang auf und Onkel Odo kam herein. Er brachte die Gewitterwolken mit, die draußen die Grafenfestung umlagerten, sowie zwei der eben erwähnten Kläffer: Junker Emmeran von Erlenfall und den Bürgerlichen, Rudon Langenlob. Die beiden erschienen im Schlepptau des langen Odo, sahen ihrerseits aber ebenfalls zornig aus. Eben wollte Erlenfall den Mund auftun, da schnappte Odo zu:
»Klappe halten. Drego, dieses Früchtchen hier hat Nachricht aus Auenwacht erhalten und will sie mir nicht geben.« Dabei deutete er auf den Junker, der sich reckte und zum Trotz aufrichtete.
»Früchtchen? Herr Odo, ich muss schon bitten!«
»Auenwacht?«, fragten Drego und Ederlinde dazwischen - er, weil er ad hoc damit nichts anzufangen wusste, Ederlinde aus dem genauen Gegenteil.
»Ja, Auenwacht«, bestätigte Odo, der sich vor seinem Neffen aufgebaut hatte, »von dort kam ein Bote, der aber gleich weiter geritten ist. Er gab diesem Nichtsnutz da die Botschaft an den Regenten.«
Diesmal war Langenlob gemeint, der aber keine Miene verzog und den Ton des langen Odo einfach abtropfen ließ.
»Wo ist die Botschaft?«, schaltete sich Ederlinde zur Sache kommend ein. Erlenfall gab ihr das Pergament, dessen Siegel Ederlinde sofort aufbrach. Drego intervenierte gar nicht, auch wenn von rechts wegen er die Botschaft zuerst hätte lesen solen, aber er beugte sich neugierig zu seiner Schwester hinüber: »Und? Was steht drin, was Gutes?«
»Wie man es nimmt, Bruder, wie man es nimmt.« Sie gab die Botschaft an Odo weiter, der sie sofort las, während sich Ederlinde zu ihrem Bruder wandte: »Onkel Horulf wird nicht zurück an den Grafenhof kommen, Bruder.«
»Ist ihm etwas passiert?«, fragte Drego mit leicht ängstlichem Tonfall nach. Er mochte den überkorrekten Seneschall nicht, aber es lag nicht in Dregos Natur, sich über das Missgeschick oder gar das Unglück oder den Tod eines anderen zu freuen.
»Wie man es nimmt. Er ist neuer Staatsrat, sofern die Königin ihn bestätigt. Horulf hat sich auf dem Großen Kabinett gegen seine Konkurrenten durchgesetzt.«
»Unfassbar«, krächzte Odo. »Das ist wie eine Familienkrankheit: Sibelian, Praiodan und jetzt Horulf. Was fällt denen ein, Luringans Felsen im Stich zu lassen?«
Drego ließ seinen Blick zwischen Schwester und Onkel hin- und hereilen: »Was heißt das?«
»Das heißt, dass Onkel Horulf nun in die große Politik einsteigen wird und dem Zedernkabinett vorsteht. Er wird nicht gleichzeitig Seneschall und Landrichter der Grafschaft bleiben können. Du brauchst Ersatz, Drego.«
Der Regent der Grafschaft nickte, blickte jedoch überfordert auf die Listen, die ihm jetzt vergleichsweise harmlos erschienen. ›Personalfragen sind Machtfragen‹. Genau das hatte ihm Rudon Langenlob erst gestern Abend erzählt, als sie beide auf dem Balkon das Fässchen geleert hatten. Was für ein Zufall, dass sich Drego erst am Vorabend darüber Gedanken gemacht hatte, was wohl wäre, wenn … und wer dann wie … Drego fühlte sich beinahe vorbereitet, Rudon sei dank!
»Drego? Wir sollten uns beraten - am besten wenn Horulf das nächste Mal hier ist, wen du zum neuen Seneschall ernennen kannst«, holte Ederlinde den Bruder ins Geschehen zurück.
»Das ist einfach, Schwesterchen«, gab Drego lächelnd zurück. »Du musst natürlich Seneschallin werden. Und zum Landrichter machen wir unseren guten Junker Erlenfall hier. Machen wir alles per Urkunde am 1. Praios!
Odos Kiefer knackte.
◅ | Der Sonne geweiht |
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