Perricum:Von der Götterfurcht und Aberglauben
Die Tulamiden und Praios
Praios, der Höchste Richter, wird von den »Nebachoten”, wie sie sich vor zweitausend Jahren wie heute bezeichnen, als die höchste Instanz betrachtet, vor dessen allsehenden Augen man sich am Tage des Ablebens zu verantworten hat.
So entscheidet der Götterfürst, ob die unsterbliche Seele des Gestorbenen würdig ist, in eines der Paradiese einzutreten, ob sie der ewigen Verdammnis in den Niederhöllen verfällt oder ob sie noch nicht reif ist, in die Paradiese einzutreten und zurück nach Dere geschickt werden muss. Je nach Schuld des vorangegangenen Lebens, so ist der Nebachote überzeugt, kann die Wiedergeburt eine starke Minderung seines bisherigen gesellschaftlichen Standes sein. Aber es kann auch eine Aufwertung sein, wenn sich der Sterbliche im vorangegangenen Leben wacker geschlagen hat.
Wird die Seele vor dem Götterfürsten geprüft, muß sie zwölf Zyklen, jeder Gottheit entsprechend, ohne Makel durchlaufen haben, ganz nach den ehernen Gesetzen des Herrn Praios. Bis zum heutigen Tage ist diese Auffassung bei den Völkern, die die Nebachoten umgeben, verpönt, lange Zeit war sie sogar verboten, was jedoch wenig am Glauben der Nebachoten geändert hat. Nach wie vor hält der Nebachote an den von Praios peinlich überwachten Standesgrenzen fest: So ist jeder nach seinem Stand entsprechend zu behandeln, dies jedoch ohne die im restlichen Reich oft anzutreffende Grausamkeit oder Willkür – wie Nebachoten darüber urteilen. ›Denn seine Stellung zu missbrauchen, ist verwerflich und wird einem von Praios dermaleinst zur Last gelegt.‹ Diese Auffassung gilt für bettelnde Arme genauso wie für selbstgefällige Adlige. Ein Bettler verlässt sich darauf, dass ihm von seinen bemittelten Mitmenschen Almosen zugeführt werden, genauso wie sich der Höhergestellte auf die Gefolgschaft seiner Untertanen verlassen kann, so er seinem Stand entsprechend praiosgefällig regiert.
Die Redewendung »Praios wird die Seinen erkennen« hat beim Nebachoten daher eine viel tiefere Bedeutung. Er ist sich im klaren darüber, dass er mit dem von Hesinde gegebenen Verstand sein Leben zu meistern hat. Nur er allein ist für seine Taten verantwortlich. Sollte dies einmal wegen eines Umstandes nicht so sein, so kann er sich des weisen Urteils Praios gewiss sein – des Urteils über sich und dem, der sich an ihm Sterblichen versündigt hat. Dadurch besitzt er eine viel weiter gehende Schicksalsergebenheit als andere Aventurier: »Was nicht in meiner Macht liegt, liegt bei Herrn Praios – seinem Urteil.«
Die Verehrung des Herrn Praios
Entgegen dem restlichen Reich sowie vieler tulamidischer Fürstentümer gibt es im nebachotischen Perricum recht wenig Praiostempel oder gar -klöster. Dennoch spiegeln sie die unumstrittene Verehrung und Ehrfurcht der Bevökerung vor dem Götterfürsten wider.
Die Klöster und Tempel gleichen kaum einem anderen Baustil. Zwar erinnern ihre Türme an Minarette, fundamentiert und erbaut sind sie bis zum Boden des zweiten Stockwerks mit behauenen Quadern. Jedes weitere Stockwerk jedoch ist aus Holz erbaut. Die vielen Vergoldungen auf Holzfresken, Giebeln und Greifenbildnissen werden zumeist vom Adel finanziert. Die handwerkliche Unterstützung stammt aber aus der gemeinen Bevölkerung der Handwerker, die im Sinn haben, ihren Seelenzyklus zu vollenden, und sich für mehrere Monde in den Dienst eines Tempel begeben.
Gegenüber solcher äußerlichen Pracht verpflichten sich Mönche und Geweihte aber der Armut und verbringen ihre Zeit meist mit dem Niederschreiben theologischer Schriften. Diese Schriften aber werden nach der Vollendung in vorbereitete Nischen eingemauert und mündlich an einen Nachfolger weitergegeben. Nur alle Zwölf mal Zwölf Jahre zu einer bestimmten Sternenkonstellation werden die Schriften aus den Mauernischen hervorgebrochen und mit den Überlieferungen verglichen. Dieser Vorgang kann bis zu zehn
Jahren dauern. Beim Vergleichen der Schriften mit der Überlieferung erreichen die Mönche und Geweihten einen Zustand höchster Konzentration, der einer Trance gleicht, woraus die Geweihten ihre Überzeugung nehmen, dass die Überlieferung nicht von einem Menschen, sondern nur durch einen Menschen vorgetragen wird, die Eingebung jedoch vom Götterfürsten selbst stammt. In den Schriften werden häufig das Verhältnis der Zwölfgötterkirche zu anderen Religionen behandelt, wobei man peinlichst genau auf die Formulierung achtet, weiß man doch über den Argwohn der Stadt des Lichts bescheid. Denn dort glaubt man zu vermuten, dass Ketzerischeres sich in manchen Nischen verbirgt.
Der Nebachote und die Spiele der Götter
Aus den Schriften von Ildor dem Weisen:
»[...] Gelten für Ihn doch die ehernen Gesetze Praios’ als unumstößlich, so scheint es mitunter dennoch, als weiche er die Standesgrenzen auf vehemente Weise auf. So wird Tsa als die Göttin der Wiedergeburt des Jahres verehrt – aber auch als die Göttin der Wiedergeburt des Menschen. Entscheidet sich Praios, die Seele des Sterblichen zurückzuschicken, dann – so ist man allerorts überzeugt – weist er seine Schwester Tsa an, dies geschehen zu lassen. Dabei überlässt er es den milden Göttinnen Rahja und Tsa, in welchen Stamm die Seele geboren wird, nicht aber in welchen Stand. Die göttlichen Schwestern wollen nebst Praios jedoch ebenfalls an den Nebachoten den Glauben der Sterblichen prüfen. Hierzu scheinen sie ab und zu einen Hochgestellten im nächsten Leben seinen Verwandten als Untertan wiedererscheinen zu lassen, wobei die Liebe und Treue der Zurückgebliebenen gegenüber dem Verstorbenen sich zu bewähren hat. Denn: Hatte der Wiedergeborene im vergangenen Leben seine guten Züge, so werden ihm das seine Verwandten nicht vergessen haben. Und so kommt es vor, dass die Höhergestellten ihren verstorbenen Geliebten in einem Tagelöhner erkennen, was sie sofort der ansässigen Tsageweihtenschaft melden. Diese überprüft darauf die Richtigkeit der Annahmen, wobei der scheinbar wissend Wiedergeborene persönliche Dinge aus seinem letzten Leben wiederzuerkennen hat, um in seinen Stand wieder aufgenommen zu werden [...]. Oft glaubten die Garetier, dieser Aberglaube sei reinster Humbug. Jedoch gibt es Überlieferungen in den Tsatempeln, die bezeugen, dass ein Prüfling alle charakterlichen Merkmale eines Verstorbenen zeigte. Er soll die gleichen Mahlzeiten bevorzugt haben, das gleiche Pferd geliebt, die gleichen Weisheiten von sich gegeben und viele andere Dinge gezeigt haben, die ausschließlich den engsten Verwandten bekannt sein konnten [...].«
Aus der Predigt von Banar dem Wahnsinnigen:
»Und sehet: Dort ist Alveran, das Zwölftürmige. Hüterin des Allgöttlichen Paradieses – es birgt in seinen Mauern die Zwölf Hallen der göttergefälligen Tugenden –, in welche Sterbliche auserwählt und gerufen werden, wenn sie ihr Leben voller Demut dem Willen einer der zwölf Allerheiligsten unterordneten. Und von dort werden sie ausrücken zur jüngsten Schlacht um die Götterlästerer zu zertreten, und aus dem Allgöttlichen Paradies werden die Seelen dann gen Dere streben, um sie neu zu bevölkern [...].«
Tsa, Peraine und Rahja
Auszug aus den Schriften von Ildor dem Weisen:
»[...] Ähnlich wie bei den Araniern sind die Grenzen zwischen den göttlichen Geschwistern fließend. So ist der Fruchtbarkeitsritus, der alljährlich in den Baronien am südlichen Darpatufer zum Frühjahrshochwasser abgehalten wird, für Reisende wohl ein heilloses Durcheinander von Ritualen, die in die verschiedensten Kirchen zu gehören scheinen:
Die die Fluten des über die Ufer getretenen Flusses werden von den Bauern mit Strohflößen befahren. Vielerorts finden sie sich dann an einem bestimmten Punkt ein, wie beispielsweise in Gaoul Fár respective Gaulsfurten in Haselhain oder etwa bei einem Felsen, Rote Hand genannt, bei Gnitzenkuhl in der gleichnamigen Baronie. Dort werden dem Fluss, also Herrn Efferd, Opfergaben übergeben; zumeist Ernteüberschüsse aus dem letzten Götterlauf. Dabei bitten die Bauern den ›Fluss‹, die Felder mit fruchtbarem Schlamm zu bedecken, bitten Frau Rahja, in die Viecher zu fahren, um sie zum Paaren anzuregen, Frau Tsa, die Saat aufgehen und Tierchen groß werden zu lassen und am Ende Frau Peraine um eine gute Ernte.
Die von vielen Garetiern verurteilte Unzucht, die während dieser Zeit, außerhalb des Rahjamondes, in den Dörfern und Städten abgehalten wird, bei der sich die Nebachoten in den Verkleidungen von Pferden und Stieren dem anderen Geschlecht nähern, ist eine weitere Erscheinung dieses Fruchtbarkeitsfestes. Wohl stört sich der Garetier hierbei weniger an der Unzucht als solcher, als vielmehr an den archaischen Verkleidungen der Feiernden. Diese Riten stammen – so ist anzunehmen – wohl noch aus der Zeit, als die Vorfahren der Nebachoten in den Formen der Stute und des Stiers die Götter Rascha und Raschdulla, eben die der barbarischen Ferkinas, anbeteten.
Selbstverständlich will das heute keiner der Nebachoten mehr wissen. Wollte sie ein Fremder darauf aufmerksam machen, so würden sie ihn im harmlosesten Fall für verwirrt erklären, im schlimmsten Fall doch wohl eher einfach erschlagen ...
Allein der Tsa- und Rahjageweihtenschaft, die im tulamidischen Perricum in höchster Verehrung steht, ist es zu verdanken, dass die Gebräuche nach der Priesterkaiserzeit wieder aufgenommen werden durften [...].«
Auszug aus einem Brief von Rahjanda von Punin, Geliebte der Göttin, an ihren Heimattempel, Empfänger unbekannt:
»[...] Rahja, Tsa, Peraine – hier scheint alles Eins. Kürzlich wohnte ich einer Eheschließung durch die örtliche Tsageweihte bei. Nicht nur, dass die Trauung von den Brautleuten in den Farben Rahjas abgehalten wurde, während dieses Tsabundes, so sprachen die Brautleute auf einmal nach der Trauung vom tsagefälligen Beischlaf und Rahjas Frucht [...]. Und stellt Euch vor, Geliebter Bruder: Ich wurde kürzlich von einem Bauern gebeten, mir einmal seinen Ziegenbock anzusehen, der einfach nicht mehr in Stimmung kommen wollte, die Ziegen zu bespringen [...]. Ja, was hätte ich denn tun sollen? Mich mit dem Bock vor die Göttin begeben? [...].«
Nebachotischer Aberglaube - eine Stärke?
Ironischerweise bezieht der Adel seine Reichszugehörigkeit aus den Umständen der Eroberung Nebachots durch das alte Reich. Haben doch damals Praios und Rondra entschieden, das Königreich (Sultanat) untergehen zu lassen. Und Tsa fügte in ihrer Schaffenskraft etwas völlig Neues.
So ist man auf dem Lande überzeugt, dass Aranien eine auf götterlosen Pfaden befindliche Provinz ist, auch wenn es eine ähnliche Ansicht der Religion vertritt. Aber in entscheidenden theologischen Details irrt es. So versteht der Nebachote die Entstehung Orons als göttergewollte Strafe Araniens. Unter vorgehaltener Hand diskutiert man auch diverse Vergehen von Tobrien und Darpatien an den Göttern, wobei aber die Ansichten weit auseinandergehen.
Die Nebachoten sehen allerdings mit weinendem Auge ihren durch die Abspaltung verlorengegangenen Provinzen im Süden hinterher und sind ähnlich erpicht auf eine vollständige Rückeroberung Nebachots bis Baburin wie die Menschen in Punin auf die Rückeroberung Südalamadas. Dennoch sieht man es als Pflicht an, gegen die Götterfrevler zu ziehen, steht doch auch das gesamte Reich auf dem Prüfstand. Und in vielen Kriegerköpfen dröhnt schon das Horn zur letzten Schlacht, und sie predigen von der kommenden Schaffenskraft Tsas, die dann aus dem Reich etwas völlig neues erschaffen werde ...
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