Geschichten:Wolfspfade – Seytnachter Unbehagen
Stadt Seytnach, Baronie Schwanenbruch, Firun 1041 BF:
Es war eigentlich nur ein Katzensprung von Seytfurt nach Seytnach. Genau genommen lag nur der Gobelbach zwischen dem herrschaftlichen Gut seiner Familie und der benachbarten Stadt. Brin von Eulenstein hätte also bequem zu Fuß gehen, oder auch sein Pferd nehmen können. Aber nein, es musste die Kutsche sein. Nicht wegen der winterlichen Kälte, mit der der grimmige Firun das Land noch fest in seinem Griff hatte, sondern es ging ihm ums Prinzip. Der Stadtrat von Seytnach hatte Brin eine Vorladung zukommen lassen. Dabei ging es nicht um seine Eigenschaft als Ritter von Seytfurt - wobei es da auch schon öfters Streitigkeiten mit dem Stadtrat gab – nein, er wurde als Landvogt vom Sertiser Forst geladen. Dieses Amt wurde erst vor weniger als 20 Götterläufen geschaffen und Brins Mutter Garhelt wurde die erste Amtsträgerin. Die Hauptaufgabe bestand darin, bei Streitigkeiten zwischen den Menschen und denen im Sertiser Forst lebenden Elfen zu vermitteln. Unter seiner Mutter war das Verhältnis zwischen den Rassen zumindest annehmbar. Beide Seiten versuchten sich aus dem Weg zu gehen und Garhelt achtete mit Nachdruck darauf, dass die Menschen die von ihr auferlegten Regeln befolgten. So durfte eine Meile hinter dem Waldrand kein Holz mehr geschlagen werden und auch die Jäger durften nicht tiefer in den Wald. Doch Brins Mutter war im Tobrien-Feldzug gefallen und oblag es seit gut einem Götterlauf Brin über die fragile Koexistenz zwischen Menschen und Elfen zu wachen. Eigentlich etwas, was ihm nicht lag – sich um die Belange anderer kümmern. Er selbst war ihm stets der Nächste. Auch wollte er sich nicht um irgendeinen blöden Forst kümmern. Dass nun wieder vermehrt Holzfäller und Wilderer durch den Sertiser Forst streiften, interessierte ihn nicht. Er war ein Lebemann, der es verstand, die Einkünfte seines Gutes durch mal mehr, mal weniger zwielichtige Geschäfte zu vergrößern, sodass er zu den wohlhabendsten Rittern Waldsteins gehörte.
Die Kutsche es Eulensteiners hielt am Marktplatz vor dem Rathaus der Stadt. Der Schneematsch quoll an den Seiten von Brins Stiefeln empor, als dieser die verschneite Straße betrat. Sein Blick streifte linker Hand den Peraine-Tempel von Seytnach. Wohl einer der berühmtesten Tempel in ganz Waldstein, dachte sich der Ritter. Auf den Stufen vor dem Tempel hatte der spätere Graf Boronian von Silz seinen Amtsvorgänger Graf Hilbert von Gesselingen mitsamt seiner Gemahlin erschlagen. Es war einer der tragischen Höhepunkte der sogenannten Vesper von Hirschfurt, die den Untergang der Grafenfamilie Gesselingen markierte und den blutigen Aufstieg des Hauses Silz.
Schnellen Schrittes ließ sich Brin von Eulenstein durch das kleine Rathaus führen. Die Stadt, die einst der Hauptort der Baronie gewesen war, hatte schon bessere Zeiten erlebt. Die nahe Stadt Schwanenbruch, günstig an der Reichsstraße gelegen, hatte Seytnach mittlerweile weit in den Schatten gestellt.
In edlen Pels angetan und perfekt frisiert, betrat der Ritter von Seytfurt den düsteren Ratssaal, ihm gegenüber saßen die Ratsherren und -frauen auf einer langen Bank. Bürgermeister Borfried Haller saß erhöht an einem Pult. Der greise Mann blickte den Ankömmling mit schmalen Augen an. „Herr von Eulenstein, der hohe Rat der Stadt Seytnacht hat Euch geladen, um unseren Protest auszudrücken.“
Noch nicht mal eine standesgemäße Begrüßung, dachte sich Brin im Stillen, wo war er denn hier gelandet.
„Eure selige Mutter hatte uns die Gefahren des Waldes vom Leibe gehalten, so wie es ihr von der Gräfin aufgetragener Auftrag war.“
Gräfin? Weder seine Mutter noch Bürgermeister Haller hatte die Gräfin je zu Gesicht bekommen.
„Und Ihr? Es verschwinden unsere Holzfäller im Wald, unsere Jäger kommen nicht zurück. In diesem Winter wagen sich mehr Wölfe aus dem Wald als je zuvor. Sie reißen unser Vieh, verstümmeln unsere Schäfer und Viehhirten. Doch Ihr unternehmt nichts dagegen!“
Langweiliges Geschwurbel. Dann sollen sie ihre Holzfäller und Jäger nicht in den Wald schicken.
„Wir erwarten von Euch, Euren Pflichten nachzukommen!“
Hat er Pflichten gesagt? Böses Wort!
„Sonst sehen wir uns gezwungen, uns an die gräfliche Administration zu wenden!“
Eine Drohung? Wer ist dieser Mann?
„Verehrte Ratsherren und -frauen. Die Situation, die ihr beschreibt, ist äußerst unamüsant. Da der Stadtrat offenkundig nicht in der Lage ist, für die Sicherheit seiner eigenen Bürger zu sorgen, werde ich diesen Missstand nach bestem Wissen zu beheben trachten. Meine Familie war stets ein Freund eurer Stadt. Und nun entschuldigt mich, wichtige Angelegenheiten erfordern meine Anwesenheit.“ Mit einem breiten Lächeln nickte Brin von Eulenstein dem etwas verdutzt dreinschauenden Bürgermeister Haller zu und entfernte sich.
In seiner Kutsche angekommen, gefroren Brins Gesichtszüge. Diese nichtsnutzigen Narren, dachte er sich. Aber wie es schien, müsste er sich nun wirklich um die Ausübung seines Amtes kümmern. Sehr bedauerlich, wie er empfand