Geschichten:Tsas Tränen - Neues aus Appelhof I

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Burg Allingsruh, Ende Travia 1030 BF


Der Aufbruch von Burg Allingsruh fand bereits vor der Morgendämmerung statt. Die vier Tiere schnauften voll bepackt mit den nötigsten Utensilien, die die Späher Luidors für die nächsten Tage brauchen sollten. In unauffälliger, wetterfester Kleidung trat Bodebert in den schlammigen Hof. Der Regen hatte über Nacht nicht nachgelassen, eher im Gegenteil. Es schien, als wäre zumindest der jähzornige Herr der Meere und Ozeane ihrer Sache nicht geneigt. Ein Blick Bodeberts ging zu Brinward, auf dessen Wegkenntnisse im Feidewald sich die Ritter völlig verlassen mussten. Dieser prüfte gerade seine Bogensehnen und Pfeilen und schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen.

Die Reiter planten abseits der bekannten Pfade zum Feidewald zu gelangen. Zu groß war die Gefahr, dass ein Gefolgsmann Geismars die ungewöhnliche Gruppe auf ihrem Weg nach Norden sähe und Bericht nach Festung Feidewald lieferte. Das Überraschungsmoment durfte zu keinem Zeitpunkt verspielt werden. Peridan und Felan kümmerten sich um ihre Ausrüstung. Dabei hatte Felan wenig zu ordnen, da er nur das Nötigste zu dieser Unternehmung mitgenommen hatte und gar nicht erst das Wenige über Nacht ausgepackt hatte. Frühzeitig war er also auch bereits bei seinem Ross erschienen, hatte es gesattelt und die Satteltaschen aufgeschnallt.

Peridan Leumar trug eine grimmige, entschlossene Miene zur Schau, die er zu einem Großteil seinem Bruder zu verdanken hatte. Brinian Rucus war einer der wenigen Menschen, die Peridan nahe standen. So nahe, dass sie eine gewisse Macht hatten. Macht zu verletzen, Macht zu enttäuschen, Macht, um in Rage zu versetzen. Während Peridan für das waghalsige Unternehmen gepackt hatte, hatte ein hitziges Wortgefecht zwischen den ungleichen Brüdern getobt.

„Wage es, hier Unruhe zu stiften; nur ein Wort, während ich unterwegs bin, und ich drehe dir höchstpersönlich mit Vergnügen den Hals um, wenn ich zurück bin“, waren die gebellten Abschiedsworte Peridans gewesen.

Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus, als er im Halbdunkel des Burghofes alles für die Abreise vorbereitete. Er war überzeugt, dass sie das Richtige taten, und er war herbe ernüchtert, dass Brinian ihn in dieser Sache nicht unterstützte. Mit grober Wucht warf er die Satteltaschen auf das breite Kreuz seines unwillig schnaubenden Pferdes und zurrte sie sorgsam fest.

Schließlich, die ersten Sonnenstrahlen lugten bereits hinter den finstern Waldgipfeln im Osten hervor, waren alle Vorbereitungen erledigt. Bevor die Gruppe die Burg verlies, hielt Bodebert eine kurze, leise Ansprache. Nacheinander rief er den Schutz des listigen Fuchses, der donnernden Löwin und des gerechten Gestirns an, für deren Ruhm und in deren Namen die Ritter ihr Unternehmen durchzuführen wagten. Nicht ein einziges Mal berief sich der Natzunger Baron auf den Grafen, den er für den rechtmäßigen hielt. Das hatte er am gestrigen Abend schon zur genüge getan.

Mit einem kurzen Nicken deutete er seinen Begleitern an, dass es nun Zeit wäre, die Pferde zu besteigen. Felan folgte der stummen Aufforderung ebenso schweigsam, wie es zu dieser frühen Morgenstunde für ihn nicht ungewöhnlich war, und saß auf. Der Weg war nicht kurz und würde gewiss anstrengend werden, da man sich durch unwegsames Gelände, abgelegene Waldpfade und Ackerwege würde schlagen müssen. Wenigstens hatte er dazu eher abgetragene Jagdkleidung angelegt, die ihm diese Tortur nicht übel nehmen würde, auch wenn er darin schon fast wie ein Wegelagerer aussehen mochte.

Peridan beobachtete den Schallenberger, dessen Gesichtsausdruck einem Firundiener alle Ehre gemacht hätte. Und nicht nur dieser, auch Bodebert, Brinward und er selbst sahen aus wie gemeine Strauchdiebe und Räuber. Und wie die Strauchdiebe würden sie sich ja auch anschleichen.

„Soll sich warm anziehen, soll er sich“, brummelte er seinen Begleitern zu, während er sich in den Sattel zog, und jeder seiner Begleiter wusste, wen der Allinger mit diesen Worten meinte. Keinen Moment später verließen vier unscheinbar wirkende Reiter den klobigen Kasten, der sich Allingsruh nannte.

Über schlammige Feldwege und rutschige Pfade kamen die Reiter besser voran, als sie gedacht hatten. Sie begegneten nur wenigen Menschen, die von der Gruppe kaum Notiz nahmen. Man fragte Reisende in diesen Tagen nicht nach ihrem Woher und Wohin. Im Nordwesten tauchten langsam die Erhebungen des Feidewaldes auf, der im Regen noch düsterer und abweisender wirkte. Die Felder wurden steiniger und kärger, als man sich dem Waldrand näherte. Die Dämmerung legte sich langsam über das Hartsteener Land.

Brinward, der die ganze Zeit schweigend an der Spitze geritten war, hob mit einem Mal die Hand und zügelte sein Pferd. Er zeigte auf den nahen Waldrand, wo sich im Dunkeln zwei Gebäude abzeichneten. Offenbar ein einsamer Köhler.

„Hier können wir rasten. Ich kenne den alten Schircho gut. Er wird keine Fragen stellen und sich um unsere Pferde kümmern, wenn wir morgen zu Fuß den Weg fortsetzen. Mit den Pferden können wir unmöglich durch den Wald.“

Bodebert nickte nur und stieg ab. Peridan folgte Bodeberts Beispiel und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Er hatte die vielen Stunden zu Pferd gründlich satt, zumal Efferd die Gruppe unterwegs reichlich mit seinen Gaben bedachte. Er war kein herumziehender Ritter, und, zugegeben, er hatte die letzten Jahre hindurch die Zurückgezogenheit auf Allingsruh geschätzt und sich gemeinsam mit Brinian durch das voluminöse Familienarchiv derer von Allingen gewühlt. Deren Geschichte reichte erstaunlich weit zurück, und es würde noch etwas dauern, bis Peridan sie überschauen konnte. Von den Geschehnissen in Hartsteen hatte er sich zwar immer eifrig berichten lassen, ohne jedoch großartig einzugreifen. Doch hatte er nun seine Entscheidung getroffen, wie es dem Familienoberhaupt eines der alteingesessenen Rittergeschlechter besser zu Gesichte stand als tatenlos auszuharren. Auch wenn Brinian dies nicht billigte und sich lieber zwischen Pergament, Papier und schweinsledernen Buchrücken versteckte.

"Wie weit werden wir's zu Fuß haben?" richtete der Allinger seine Frage an Brinward.

„Durch den Wald sind es etwa zwei Tagesmärsche, hoher Herr“, antwortete der Waldläufer. „Der Regen könnte allerdings ein Problem werden, die Bachläufe verwandeln sich hier schnell in rauschende Flüsse.“

Währenddessen war ein alter Greis aus der Hütte getreten und schaute die Reisenden griesgrämig an. Seine Kleidung war alt und zerrissen, und mit den wenigen langen, verfilzten Haaren wirkte der Mann eher wie ein Troll. Das unbestimmte Brummen, dass er den Reisenden entgegen grunzte, schien sein Gruß für Fremde zu sein. Kaum auf die Ankömmlinge achtend humpelte er wenige Schritte hinter seine Kate und erleichterte sich an den nächsten Baum. Felan verzog sein grimmiges Gesicht vor Ekel, schüttelte aber nur schweigend den Kopf, während er sein Pferd neben Bodeberts stellte.

„Wir können im Geräteschuppen nächtigen. Der Alte nutzt die Hütte schon seit Jahren nicht mehr, aber sie ist trocken“, teilte Brinward seinem Herren mit.

Bodebert nickte nur knapp. „Du willst doch nicht wahrhaftig sagen, dass wir in diesem verlausten Schuppen schlafen sollen?!“, entfuhr es Felan. „Im Vergleich zu Schirchos Kate ist es ein Palast, hoher Herr“, entgegnete der Waldläufer knapp. „Möge Travia uns gnädig sein...“, murmelte Felan bevor er den Schuppen betrat.

Früh am nächsten Morgen betraten sie den Feidewald. Peridan hatte das riesige Gehölz bisher nur von weitem auf seinen Reisen durch Hartsteen gesehen, sich ihm aber noch nie genähert. Allerlei Schauergeschichten hatte er von dem ausgedehnten Wald schon gehört und auch wenn er sie natürlich nicht alle glaubte, so fühlte er doch einen gewissen Respekt vor diesem Teil des einstigen großen Waldes, der den gesamten Kontinent bedeckt hatte. Es gab keine Wege oder Pfade durch das enge Unterholz, die wenigen Wildwechsel liefen in die Irre und mehr als ein Mal standen die Reisenden vor einer undurchdringlichen Wand aus lebenden Dornen und Ranken. Die dichte Krone der Bäume über ihnen verbarg den Himmel über ihnen und es schien, als herrschte hier eine ewige Dämmerung.

Dazu ging es steil bergan. Mehrere Male rutschte unter Felans Füßen der glitschige Humus weg und strauchelnd schaffte er es noch gerade, sich an einem herab hängendem Zweig festzuhalten. Peridan und Bodebert ging es nicht besser, die leise fluchend hinter dem sicher schreitenden Brinward versuchten, das Tempo des Waldläufers zu halten.

Gegen Mittag erreichten sie einen breiten Bachlauf, der rasend von oben hinab toste. Brinward hob die Hand zum Zeichen der Vorsicht und versuchte vergeblich einen Weg um das Hindernis zu finden. Doch das Gestrüpp jenseits des Baches war so dicht gewachsen und der Strom den Berg hinab so stark, dass er schließlich den Kopf schüttelte und ihnen den Rückweg anzeigte. „Wisst ihr überhaupt wo ihr uns hinführt?“, fragte der Schallenberger missmutig. Doch Brinward grunzte nur unbestimmt zur Antwort, was des Ritters Laune nicht gerade hob.

Während Felan dem Waldläufer auf schnellstem Fuße folgte, war hinter Peridan mit einem Mal ein deutliches „Platsch!“ gefolgt von einem vernehmbaren „Efferdverflucht!!!“ zu hören. Als der Allinger sich umwandte, dem die letzten Tage ordentlich zugesetzt hatten, wurde er des fülligen Windischgrützers ansichtig, der längelang im Matsch gelandet war. Offensichtlich war er auf dem schmierigen Untergrund ausgeglitten und hatte nun Bekanntschaft mit der braun-schwarzen Pampe des schlammigen Waldbodens gemacht. Der auf Peridans Zwerchfell einwirkende Lachreflex war ungeheuer stark, und er konnte es sich nur schwerlich verkneifen, lauthals über den großen menschlichen Käfer loszuprusten, der auf dem Rücken gelandet war und sich nun verzweifelt herumrudernd wieder aufzurichten mühte. Sein voluminöser Leib in Verbindung mit dem glitschigen, aufgelösten Erdreich war ihm dabei keine große Hilfe. In diesem Moment hatte Bodebert jegliche Baronswürde verloren. Auch Brinward und Felan, die den kleinen Unfall in der Zwischenzeit nun auch bemerkt hatten, schienen nicht zu wissen, ob sie fluchen oder lachen sollten. Drei Hände streckten sich dem Grützer entgegen, der schließlich gehörig schnaufend und über und über mit Schlamm beschmiert wieder auf die Beine fand.

Während ihrer Rast am Nachmittag saßen sie schweigend beisammen. Felan wusste kaum noch wo sie waren und es erschien ihm, als liefen sie im Kreis. Verdrießlich kaute er am Brot, das in dem Beutel wenigstens trocken geblieben war. Im Gegensatz zu ihm, denn obwohl die Baumkronen den steten Regen abhielten, waren die Reisenden bis auf die Haut durchnässt. Doch schien ihm das zumindest weniger auszumachen als dem dicken und inzwischen auch dreckigen Windischgrützer oder dem schwitzendem Allinger, und das entlockte ihm ein schwaches Grinsen, als sie sich später weiterschleppten.

Peridan hasste diesen widerwärtigen Wald. Undurchdringlich, matschig, unheimlich schwer gangbar und offenbar äußerst feindlich gegen ihre kleine Gruppe eingestellt. Man stolperte über Dickicht und Dornicht, rutschte beständig auf dem weichen Untergrund und fand schlecht Halt, dann wieder mussten Bachläufe umgangen werden, weil sie laut Brinward nicht überquert werden konnten. Wie angenehm waren doch die Tage in Allingsruh gewesen…! Warum hatte er sich auch zu dieser verrückten Unternehmung hinreißen lassen? Einige Momente, in dem Peridan die Antwort auf diese Frage nicht so recht wahrhaben wollte, kaute er auf seiner Unterlippe herum.

„Weil es sonst überhaupt keiner machen würde“, sagte er dann vor sich hin. Ob Bodebert, Felan oder Brinward dies hörten, juckte ihn nicht im mindesten.

Als die Dämmerung immer finsterer wurde, beschlossen sie ihr Nachtlager aufzuschlagen.

„Werden wir heute zur Abwechslung statt in einer dreckigen Hütte direkt im Dreck schlafen? Bei Rondra, das habe ich nicht mehr gemacht seit ich meine Knappschaft angetreten hatte...“, brummelte Felan vor sich hin.

Peridan musste dem Schallenberger zustimmen, er konnte dem Gedanken an eine Nacht außerhalb schützender vier Wände ebenfalls wenig abgewinnen.

„Gewöhnt Euch die nächsten Tage lieber daran“, meinte der Windischgrützer in seine Richtung. „Glaubt mir, Schallenberg, auch ich wäre jetzt viel lieber an einem windgeschützten Ort auf einer guten Matratze oder einem Feldbett vor Natzungen.“

„Das glaube ich Euch sogar!“, ließ Felan seiner Laune freien Lauf, erntete von seinen Mitreisenden aber statt einer Antwort ein vielsagendes Grinsen.

„Schallenberg, ihr solltet Euer Firunsgesicht ablegen, es steht Euch nicht besonders…“, hob Peridan gutmütig an und wollte noch etwas hinzufügen. Aber dazu kam er schon nicht mehr.

„Achtung!“, schrie Brinward dazwischen. „Auf die Bäume, sofort!“

Schon hörten die Ritter ein lautes Krachen im nahen Unterholz. Bodebert schwang sich auf den tiefhängenden Ast einer Blautanne und hatte innerhalb kürzester Zeit an Höhe gewonnen, und der nicht minder erschrockene Allinger tat es ihm nach einem Moment des Stutzens schleunigst nach.

Felan dachte nicht weiter nach und folgte der Aufforderung Brinwards fast ebenso schnell und erklomm einen nebenstehenden Baum. Er brachte sich auf Augenhöhe mit Bodebert und spähte durch die Zweige auf den Boden.

Augenblicke später brach ein großes schwarzes Tier auf die kleine Lichtung. Es maß sicherlich gute anderthalb bis zwei Meter vom Boden zur Schulter. Aus kleinen, böse funkelnden Augen schaute es hinauf zu den Adligen, mit seinen schwarzen, gewaltigen Hauern schlug es einige Male gegen die Tanne, so dass sich Peridan kaum halten konnte. Bei Firun, ein gigantischer Eber!

Die Adeligen saßen nun schon einige Augenblicke auf den Bäumen, da konnte sich Peridan ob der unweigerlich komischen Situation aber plötzlich nicht mehr beherrschen. Idra würde ihm niemals glauben, was er hier tat!

Er lachte und rief zu Felan hinüber: „Ritter Felan, jetzt weiß ich, warum ihr den Luchs im Wappen tragt. Kaum ist wer so schnell einen Baum hinauf wie ein Schallenberger heute!“

„Jaja spottet nur“,antwortete der, “zumal ich gerade dem Windischgrützer vorschlagen wollte, einen Bären ins Wappen zu nehmen, da er sich so gut aufs Klettern versteht.“

Bodebert lachte aber nur grimmig. „Schaut lieber, was dieses Vieh gerade mit unserem Essen macht!“ Die Gefährten lenkten den Blick nach unten.

Im glimmenden Schein des Lagerfeuers sahen die vier Reisenden ohnmächtig mit an, wie ihre gesamten Vorräte im gierigen Schlund des Tieres verschwanden und ihre Sachen von der triefigen Schnauze durchwühlt wurden.

„Verfluchtes Schwein! Als hätte es der Widersacher selbst geschickt, um uns Steine in den Weg zu legen!“, fluchte Felan. „Lass deine dreckigen Pfoten von meiner Tasche!“

Doch der Eber kümmerte sich nicht um das Rufen des Schallenbergers. Erst tief in der Nacht, gesättigt und offenbar gelangweilt, verschwand das Untier wieder im Unterholz.


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