Geschichten:Von Land und Leuten - Kuhfladenbingo
Der Winter hat sich weit in den Raschtulswall zurückgezogen. Vergessen sind die langen, kalten Nächte, an denen der Hauch Firuns um die Häuserecken pfeift. Natur und Mensch saugen begierig die wärmenden Strahlen der Praiosscheibe auf, und Peraines Segen lässt es in den Wiesen und Wälder erquicklich spriessen. Die Trübsal ist wie weggeblasen, und der Frühling zaubert den Einwohnerinnen und Einwohner der königlichen Vogtei ein Lächeln ins Gesicht. Sie danken den Göttern, im Schlund leben zu dürfen, abseits der Hektik der grossen Stadt, verschont von den schrecklichen Kriegen in den letzten Götterläufen. Immer genug zu essen, stets einen Humpen Bier oder einen Krug geharzten Weines zur Hand. Der Schlund, das bedeutet heile Welt. Und Langeweile.
Es ist an der Zeit, wieder Schwung in den Alltag zu bringen. Am besten mit einem grossen Volksfest. Traditionell steht als erstes das «Mardershöher Schwinget» auf dem Jahresprogramm. Neben dem Schwingen, einer Art Ringen, im Schlunder Dialekt auch «Hoselupf» genannt, dem Steinstossen, dem Gewichtstemmen, Fahnenschwingen und «Geissel chlöpfe» ist das «Chuehflade Bingo» der grosse Publikumsmagnet.
Eine grosse Menschenmasse drängelt sich zu diesem Tageshöhepunkt um ein 20 mal 20 Schritt umzäuntes Wiesenstück. Dieses wird mit Sägemehl fein säuberlich und mit höchster Präzision – dies ist im Schlund besonders wichtig – in 10 mal 10 Felder unterteilt. Jedes Feld erhält eine Nummer. Für den Einsatz eines Silberstücks können die Anwesenden auf ein Feld wetten. Gewinner ist derjenige, auf dessen Feld die Kuh ihren Fladen setzt. Als Gewinnprämie winkt ebendiese Kuh.
Ein vernehmliches Raunen geht durch die Menge, als das Braunvieh in das umzäunte Wiesenstück trottet.
«Jetzt lueg emol die Chueh ah. Die hätt ja gar keis Üter!», raunt ein Bauer zum anderen.
Der andere nickt ihm zustimmend zu. «Und bis uf d’Chnoche abgmageret isch sie au no. Das isch doch en Bschiss! Ich wott mis Gäld zrugg.»
Die beiden wollen in Richtung Einsatztisch aufbrechen, als zwei kräftige Senner sich ihnen in den Weg stellen. «Dumms Züüg. Das isch mini bescht Chueh im Stall. Ich laa mi doch vo dier nöd verbrüele. Vo eim, wo sälber chum z’frässe hät, du Hänfling.» Worauf die beiden Senner in schallendes Gelächter ausbrechen.
«Das nimmsch sofort zrugg.» gibt der Bauer zurück. «Schusch stopf ich dir dini fräch Schnurre.»
«Das wämmer z’erscht no gseh.» Und schon schlägt der Senner seine Faust direkt ins Gesicht des Bauern, dessen Nase unter einem lauten Knacken bricht.
Und so kommt es wie jedes Jahr. Schnell finden sich die streitlustigen Landwirte, Handwerker und Händler beim Geschehen ein und mischen kräftig mit. Die Kuh ist längst zur Nebensächlichkeit geworden, alle Augen sind auf den wilden Haufen gerichtet. Parteien sind keine auszumachen, jeder prügelt wie wild auf den anderen ein. Das Gemetzel ist jedoch meist von kurzer Dauer. Spätestens, wenn jeweils die Mardershöher Landwehr eingreift.
Mit blauen Augen, blutenden Nasen und dem einen oder anderen fehlenden Zahn, aber mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht, gehen die Kontrahenten Arm in Arm zusammen zur nächsten Festbank, erzählen sich den neusten Tratsch aus dem Dorf, wärmen alte Geschichten auf und trinken zusammen Bier bis zum Umfallen. Wenigstens für einen Tag ist die Langeweile wie weggeblasen.