Geschichten:Dornentriebe - Von Verlust und Rache

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Selinde von Löwenhaupt-Berg war letztlich froh darüber, sich einen Ruck sowie ihren Zweifeln nachgegeben zu haben und ihr Herz gegenüber Malina von Niederriet ausgeschüttet zu haben, was diese mit einer Mischung aus Entsetzen und Verständnis quittierte. Eine große Last war durch dieses lange Gespräch von ihr gefallen und nun sah die Baroness vieles klarer. Dennoch hatte es noch einer schlaflosen Nacht mit vielen Gedanken bedurft, bis Selinde endlich eine Entscheidung gefällt hatte. Zwei Tage später ritt sie des Nachmittags - entschlossen, aber auch nachdenklich ihr eigenes bisheriges Handeln reflektierend - zum altbekannten Gutshof vor den Toren der Stadt, wo wieder eine dieser Feiern stattfand, die die Löwenhaupterin früher mehr als jede andere Zerstreuung schätzte. Die herzliche Begrüßung Mithridas erwiderte sie kühl, ja fast schon abweisend und reagierte darauf mit den Worten:
"Wir müssen reden, Mithrida. Und zwar hier und jetzt. Gibt es einen Raum, in dem wir ungestört sein können?"
"Aber Selinde, meine liebste Selinde", entgegnete die Angesprochene mit samtweicher Stimme und einem sinnlichen Lächeln, "hat das denn nicht noch Zeit bis morgen? Du siehst sehr angespannt aus, erhole Dich doch erst mal ein wenig und lass es Dir gutgehen, danach sieht die Welt doch gleich wieder viel freundlicher aus!"
Weniger die Worte selbst, als die Art, wie sie vorgetragen wurden, verlangten der Baroness einiges an Selbstbeherrschung ab, um nicht in letzter Minute doch noch einzuknicken. Um eine nüchterne Ausdrucksweise bemüht, antwortete sie: "Nein. Es ist wichtig, es ist dringend. Also jetzt und gleich!"
Auf Mithridas Antlitz spiegelte sich Verblüffung. Sollte sie ihre 'Freundin' etwa unterschätzt haben? "Gut," meinte sie mit einem Achselzucken. "Lass uns nach unten in die Vorratskammer gehen, zwischen Salat und Schinken dürften wir ungestört sein."
Ohne weitere Worte zu wechseln, begaben sich die beiden Frauen in den entsprechenden Kellerraum, welcher lediglich von zwei Fackeln erleuchtet wurde. Die Vellbergerin schloss die Tür und ergriff sogleich das Wort:
"Es ist aus, Mithrida. Weder kann ich die seit einiger Zeit immer wilder werdenden Ausschweifungen gutheißen oder gar mittragen, noch bin ich gewillt, mich länger von Dir manipulieren zu lassen. Eine gute Bekannte hat mir jüngst die Augen geöffnet." Diese Worte auszusprechen, hatte Selinde große Überwindung gekostet, doch war sie nun gleichermaßen froh wie erleichtert, es endlich getan zu haben.
Ihre bisherige Freundin sah sie für einen kurzen Moment entgeistert an, bevor sie sich wieder im Griff hatte. Von wem sprach dieses blöde Weib bloß? Und wann nur hatte sie die Kontrolle über dieses bisher so naive Ding verloren? Doch diese Gedanken machten rasch Platz für das Hier und Jetzt. Selinde war es offensichtlich ernst, erkannte Mithrida rasch und entschloss sich, die Maske fallenzulassen. "Dann scher Dich zum Namenlosen, Miststück!", spie sie ihrer einstigen 'Freundin' entgegen, die ob dieser Worte wie von einem Peitschenhieb getroffen einen Schritt zurückwich . "Ich habe Dich aus Deiner selbstgefälligen Lethargie und grenzenlosen Langeweile gerissen und ließ Dich an Vergnügungen teilhaben, die Du Dir zuvor nicht einmal vorstellen konntest! Die letzten beiden Jahre hatte Dein stupides Leben endlich wieder einen Sinn und Du konntest der einzig wahren Herrin der Lust dienen. Und wie dankst Du es mir nun? Mit einem sardonischen Lächeln auf den Lippen fuhr sie mit nun zuckersüßer Stimme fort: "Und was willst Du nun machen, hm? Aller Welt erzählen, was für ein furchtbarer Mensch ich bin? Sie vor meinen Feiern warnen? Oder gar die Obrigkeit informieren? Vergiss nicht, meine Teuerste, dass sehr viele einflussreiche Menschen Dich oft an meiner Seite gesehen haben und Du bei nicht wenigen unserer kleinen Feste gar als Gastgeberin fungiertest. Wer würde Dir Deinen Sinneswandel also glauben? Und was würde Dein ach so hochmögender Vater wohl sagen, wenn er erführe, was sein nutzloses Töchterchen in letzter Zeit so alles getrieben hat und mit wem? Glaubst Du wirklich, Du könntest einfach so davonlaufen?"
Selinde war geradezu schockiert über Mithridas Worte und wie sie diese vortrug. Irgendwie hatte sie erwartet, dass diese erneut versuchen würde, sie einzuwickeln. Und dass die Baroness nun mit einem Schlag erkennen musste, WEM sie in der Vergangenheit unwissentlich gedient hatte, ließ ihr fast die Sinne schwinden. Erstaunlicherweise hatten diese Erkenntnisse bei der Adligen aber dazu geführt, dass ihr das eigene Schicksal nun vollkommen egal war. Schließlich war es wohl auch nur gerecht, wenn sie für ihre Taten - ob gewollt oder nicht - bezahlen müsse. Nur eine Frage beschäftigte die Vellbergerin noch, dann wäre für sie alles gesagt und geklärt.
"Mithrida", sprach sie mit tonloser Stimme und steinerner Miene, "hast Du mich je geliebt?"
Die Angesprochene stutzte kurz und brach dann in schallendes Gelächter aus. Selinde fühlte sich wie betäubt und als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Doch diese Eindrücke machten rasch einem wilden Zorn Platz, der sich nun Bahn brach und jeden anderen Gedanken verdrängte. Äußerlich unbewegt nahm sie eine der Fackeln aus der Halterung, drückte ihre einstige Geliebte gegen die Wand und stieß ihr die Flammen ins Gesicht, einige endlos scheinende Sekunden lang. Schreiend brach die Frau zusammen, große Teile ihres einst so makellosen Antlitzes und ein Auge jetzt stark verbrannt bzw. zerstört. Selinde zückte ihren Dolch und setzte ihn an Mithridas Kehle, was diese ob der starken Schmerzen jedoch kaum wahrnahm. Für einen kurzen Moment war die Baroness versucht, dem Ganzen hier und jetzt ein Ende zu bereiten, überlegte es sich jedoch anders und steckte den Dolch wieder weg. Stattdessen beugte sie sich zu der wimmernden Frau herunter und flüsterte ihr mit sanfter Stimme ins Ohr:
"Dich zu töten, meine Liebe, wäre ein zu kurzes Vergnügen. Dich so leiden und entstellt zu sehen, befriedigt mich weit mehr. Was bist Du ohne Deine Schönheit? Eine Frau, deren Anblick jeden anwidert. Eine Frau, die niemals mehr zu irgendwelchen Gesellschaften eingeladen werden wird, um dort dann irgendwelche Leute für ihre verabscheuungswürdige Herrin zu manipulieren. Eine Frau, die nicht einmal als billige Hafenhure wird arbeiten können. Oder noch einfacher: Ohne Deine Schönheit bist Du nichts, absolut nichts. Du bist tot, obwohl Du noch atmest und ich will, dass Du dies noch lange Zeit jeden Tag aufs Neue erkennen und darüber verzweifeln wirst. Leb´ wohl."
Selinde erhob sich und ging gemessenen Schrittes völlig entspannt die Treppe nach oben, ihr wimmerndes Opfer nicht weiter beachtend. Am oberen Ende der Treppe nahm sie einen großen Tumult wahr. Offenbar war auch die Garde diesem Treiben auf die Spur gekommen, wie die Wappenröcke der Angreifer nahelegten. Nur am Rande registrierte die Adlige, wie der Gutshof gestürmt wurde, einige der Gäste in teilweise buchstäblich nackter Panik zu fliehen oder sich zu verstecken versuchten, während einige Wenige sich zum Kampf stellten. Der Baroness war all dies einerlei. Beim Hinausgehen erkannte sie Malina, nickte ihr kurz zu, bevor sie sich widerstandslos einem Gardisten ergab. Mochte später kommen was wolle. Heute war sie mit sich und der Welt im Reinen.

Drei Tage später in Perricum in der Kaserne der Stadtwache.
"Ich habe gerade euren vorläufigen Bericht über die Erstürmung dieses Vorhofs der Niederhöllen gelesen, Weibel Hiram. Gute Arbeit! Ich bin nur überrascht, fast schon entsetzt, wie viele bekannte Namen aus Stadt und Umland in diesem Sumpf drinsteckten: Edle, Junker, einige unserer ach so ehrenwerten Ratsherren und -damen - sogar die Erbin eines Barons! Aber das soll nicht unser Problem sein; wie ich aus dem Markgrafenpalast gehört habe, wird man sich von dort aus um alles Weitere kümmern, man will wohl einen Skandal vermeiden. Nur noch eine Frage: Was habt Ihr mit den befreiten Lustsklaven", der Offizier verzog bei diesem Wort leicht angewidert den Mund, "gemacht? Ist für sie gesorgt?"
"Danke für das Lob, Herr Hauptmann. Einige waren so durch den Wind, dass wir sie den Noioniten übergeben mussten, die übrigen haben wir nach eingehender Befragung zum Treiben auf dem Gut freigelassen und jedem ein kleines Handgeld mit auf dem Weg gegeben, damit sie zu ihren Familien zurückkehren können. Ein Fall war übrigens besonders traurig. Irgend so ein kranker Mistkerl hatte einer der befreiten Frauen mehr als die Hälfte ihres Gesichts mitsamt des rechten Auges verbrannt. Die Ärmste sprach nach ihrer Befreiung kein Wort sondern stierte lediglich mit finsterem Blick - soweit man das erkennen konnte - vor sich hin. Als wir sie befragen und in die Stadt bringen wollten, war sie jedoch verschwunden."
"Ein Grund mehr, froh zu sein, dass wir dort kräftig aufgeräumt haben. Und was diese arme Seele angeht, von der ihr gerade spracht, Weibel, so wird es wohl bald eine Bettlerin mehr in unserer Stadt geben," schloss der Offizier gleichmütig, ja fast schon desinteressiert.