Geschichten:Natternbrut - Das Schweigen der Lämmer

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Burg Sturmwacht, Nacht zum 1. Rondra 1036 BF


»Und diesen versiegelten Brief hat der Baron von Nettersquell mir schließlich für euch mitgegeben«, schloss der fette Zwerg Arbalosch seinen Kurzbericht. Selinde von Spornstein hatte ihm schweigend zugehört und ausnahmslos zu jedem seiner Worte genickt.

Der Zwerg war sichtlich froh darüber das verdunkelte Zimmer schnell wieder verlassen zu dürfen, zumal er irgendwann bemerkt hatte, dass irgendetwas mit der von seinem Herrn zur Burgvögtin ernannten Ritterin nicht stimmen konnte. Er konnte dabei nicht sagen, ob es ihr stechender durchdringender Blick war, der wie aus den Augen eines Reptils zu stammen schien, oder der Umstand, dass sie, wenn sie überhaupt etwas äußerte, es zu dem im hinteren Teil des Zimmers sitzenden Mann sagte, über dessen Kinn ein dünner Speichelfaden floss und der, bis auf Laute von sich zu geben, die wie unterdrücktes Stöhnen klangen, auf nichts reagierte.

Die andern Zwerge, die hier auf der besetzten Burg ihren Dienst versahen, hatten ihm immer wieder erzählt, »dass die Vögtin und ihr Gatte offensichtlich nicht alle Erze beisammen hatten«. Sein Sippenvetter Bombolosch hatte ihm sogar vor wenigen Abenden beim Bier geschworen, dass er »beim Bart vom Angrosch« in den frühen Morgenstunden des Praiosfestes der Vögtin Gattin leblosen Körper hinunter zum Schlangenfluss habe schleppen und dort ins Schilf habe werfen müssen, während sie splitternackt im Madalicht das Blut eines jungen Igels getrunken hatte. Daraufhin habe er ein Rascheln vom Flussufer her gehört, sich aber schnell hinter einem Baum versteckt, weil er von der Stadt her Schritte gehört hatte und nicht gesehen werden wollte. Diese von den Drachen gerittenen Hartsteener, darüber waren sie sich alle Zwerge von Sturmwacht einig, waren ohne Ausnahme die übelsten Gesellen, die offenkundig von einem unstillbaren Hass auf das heilige Erzvolk des Angrosch beseelt waren.

Arbalosch schüttelte sich kurz. Der junge Hügelzwerg, der noch nicht einmal hundert Sommer zählte, machte sich sofort daran, die ihm aufgetragene Aufgabe anzugehen. Der Baron von Nettersquell hatte sie ihm gegenüber sehr deutlich beschrieben, und in grummelndem Rogolan teilte er seinen Kameraden die nächsten Arbeitsschritte mit. Gemeinsam verließen sie die Burg in Richtung des in nächtlicher Ruhe liegenden Marktes Nadriansfurt.

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Rondra-Tempel des Heiligen Nadrians, Markt Nadriansfurt, wenige Stunden später

Das hohe Alter war der sehnigen Geweihten nicht anzusehen, jede ihrer Bewegungen bei der Meditation mit dem Rondrakamm führte sie so präzise aus, wie sie es seit Jahren tat. Mit großen Augen folgte Rondrian Brin den Übungen seiner Schwertmutter, sich innerlich vor ihr wie ein tollpatschiger Goblin fühlend, dem die tieferen Geheimnisse ihres Glaubens an die Himmelsleuin sicherlich auf immer verschlossen würden bleiben müssen. Er diente seiner Großtante zwar erst seit wenigen Monden als Novize, und doch hatte er in diesen Wochen, so schien es ihm, an jedem Tag mehr gelernt als an allen anderen Tagen in der Knappenschaft bei Wolfaran von Ochs.

In den ersten Sonnenstrahlen, die als fahles Licht durch die Schießscharten des Tempels fielen, kniete sich die Geweihte nieder und stimmte mit kräftiger Stimme einen alten Choral an, in den Rondrian Brin ohne einen Moment zu zögern einfiel. Dir zu Ehren kämpfe und streite ich.

»Rondrian«, wandte sich seine Lehrmeisterin an ihn nach einem Moment der Stille, den sie dem Choral folgen ließ. »Rondrian, was ist heute anders als an den anderen Tagen, die du hier als Novize verbracht hast?«

Kleine Schweißperlen traten auf die Stirn des jungen Schallenbergers. Dies sollte offenbar eine wichtige Prüfungsfrage sein, bei der er auf keinen Fall scheitern wollte. »Hochwürden, noch nie habe ich mich der Herrin näher gefühlt und war mir sicherer, dass ich ihr mein Leben… verschreiben… äh. Für ihre Ideale einstehen und für das Gute auf Dere kämpfen werde?«

Seine Großtante verzog keine Miene, aber in ihren Augen blitzte es belustigt auf. Es passierte nicht oft, aber jedes Mal, wenn ihr Neffe eine Unsicherheit zeigte, fühlte sie sich an ihre eigene Zeit als Novizin während der Zeit der Kaiserzwillinge erinnert. »Das kann ich kaum beurteilen. Die Leuin vermag viel, aber nicht mich in den Kopf eines unreifen Burschen blicken zu lassen. Offensichtlich meine ich etwas anderes.«

Die Röte schoss Rondrian Brin in den Kopf, aber trotzdem versuchte er einen klaren Gedanken zu fassen. »Es ist das erste Mal, dass der Mond der Herrin anbricht, während ich in ihrem Tempel diene«, versuchte er es ein zweites Mal, dieses Mal mit einer festeren Stimme.

Leugrimma lachte kurz auf. »Auch wenn du natürlich Recht hast, um das Offensichtliche geht es mir nicht. Schärfe deine Sinne und versuche einmal nicht, durch Schwärmereien oder Schmeicheleien einen Eindruck zu erwecken, den du besser durch die Einheit mit deiner Umgebung erzeugen solltest.«

Rondrian senkte den Kopf. Er fühlte sich wie ein gescholtenes Kind in der Praiostagsschule, der sich auch nach dem zwölften Mal nicht merken konnte, welches Tier jedem einzelnen der Zwölfe heilig sei. Seine Gnaden hatte ihm damals den Sinnspruch gelehrt, den er ihm zwölf Mal fehlerfrei hatte herunterbeten müssen. Der Greif und die Leuin, der Delphin die Gans, der Rabe die Schlange… Seltsam, fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Hätte nicht längst der Hahn des Nachbarns seinen Morgenschrei geben müssen? Und hätten nicht längst die vier Lämmer, die die Nachbarin vorige Woche auf dem Markt in Hartsteen erworben hatte, mit ihrem Blöken und Mähen beginnen müssen?

»Ich höre überhaupt keine Tiere«, murmelte Rondrian leise in Gedanken vor sich hin.

»So ist es«, pflichte die Rondra-Geweihte ihm bei. »In Nadriansfurt ist es viel zu leise an diesem Morgen.«

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Dem Volke des Marktes Nadriansfurt ergeht folgender Erlass:
 
 
 
 
Seine Hochgeboren befiehlt hiermit ohne Verzögerung, dass eines jeden Bewohners seines Junkertums Sturmwacht ohne Ausnahme am ersten Tag des Rondramondes 1036 BF alljedes großes und kleines Nutzvieh als Sondersteuer abzugeben habe. Das Getier soll verladen werden auf die am Ufer befindlichen Kähne und ohne Verzögerung verladen werden nach der Stadt Nattergrund, wo das Nutzvieh an das Bauernvolk von Nettersquell verteilt werden mag. Zuwiderhandlungen werden mit den entsprechenden angemessenen Leibstrafen geahndet.
 
 
 
 
Gez. Rondradan von Rommilys-Nettersquell
Baron von Nettersquell
Junker von Sturmwacht



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1. Ron 1036 BF zur morgendlichen Firunstunde
Das Schweigen der Lämmer
Der Festung geborstenes Herz


Kapitel 4

Nadrians Grab
Autor: Hartsteen