Geschichten:Das Einhorn in Eslamsgrund - Ein Wort zuviel
Reichsstadt Eslamsgrund, 30. Efferd 1036 BF, am Mittag
Der Gong des nahen Praios-Tempels verklang. Gefasst und mit einem zuversichtlichen Lächeln trat Marwan Nandrash Alfessir in der Robe der Nandus-Geweihtenschaft auf den kleinen Balkon im ersten Stockwerk des Verlaghauses Andermann. Hinter ihm halb im Türrahmen stellten sich auf der Dornenseer Tempelvorsteher Roban Nando Elmenbarth, der Sprachengelehrte Olombo Patassa, die beiden Hesinde-Geweihten Answin von Prailind und Mariban Var‘gash, sowie dem Verlagsleiter Filandro Andermann, dessen Vater den Verlag einst fast in den Ruin getrieben hatte.
Unter ihnen herrschte hektisches Treiben auf dem Markt und die Anzahl der Kaufinteressierten überstieg die eigentliche Einwohnerzahl der stolzen Reichsstadt Eslamsgrund um fast das Vierfache. Marktschreier und Bauersfrauen, Handwerker und Händlerinnen priesen ihre Waren lautstark den Adligen Geweihten Patriziern an, die in Wams Robe Waffenrock nach günstigen Schnäppchen, nach Raritäten für das Kabinett, nach Wein Obst Schinken Hefezöpfen suchten und in großer Zahl fanden. Im Schlamm des Marktplatzes, am Rand der Kaufstände und Buden lümmelten sich Bettler und Gaukler in der Hoffnung von den üppigen Dukaten, die an diesem Tag die prallen Geldkatzen wechselten, ihren Kreuzer Heller Silbertaler abzubekommen. Niemandes Blick ging hoch zu dem kleinen Balkon, an dessen Seiten Schlange und Fuchs in einem wunderschönen Fresko miteinander balgten.
»Eslamsgrunder, Garetier, Freunde, hört mich an!«
Die Füße hielten nicht still, die Münder wurden nicht geschlossen, aber es richteten sich nach und nach hinauf die Augen zu dem Grün-Grauen und seinen weiterhobenen Armen und die Ohren zu der wohlklingenden Stimme mit der fremdländischen Sprachfärbung.
»Heilig ist das Wissen der Hesinde und heilig ist das Wort des Nandus! Wer einen Geist hat zum Denken, wer spürt, dass jenseits aller ausgetretenen Pfade der Götterdienste noch eine tiefere Wahrheit liegt! Wer in seinem tiefsten Wesen spürt, dass jenseits aller derischen Triebe und Reize noch eine viel tiefere Wahrheit liegt! Wer dies spürt, der höre mich an! Der schenke mir nur einen kurzen Augenblick der kostbaren Zeit! Denn heute, gerade heute, fordert die Göttin Hesinde jeden Gläubigen der Zwölfgötter auf, sein Leben zu prüfen! Jeder soll heute sein Wissen und seinen Glauben einer Prüfung unterziehen. Denn nur was geprüfet ist, kann erleuchtet werden!«
Innehalten erfüllt die Menschenmasse und ein Murmeln raunt über den Platz. Es zupft der Nachbar der Nachbarin am Ärmel und zeigt auf die Diener des in Eslamsgrund bekannten Halbgottes und die Diener seiner allwissenden Mutter. Ein Einhorn, sagen, flüstern, kichern sie. Das Einhorn, verbessern einige an unterschiedlichen Ecken des Platzes ihre Vorderleute. Hört dem Einhorn gut zu.
»Wie reich ist Garetien und das Herz des Reiches! Wie glücklich sein Volk, beneidet von den Völkern an seinen Rändern! Wie hart aber auch waren seine letzten Jahre, in denen Finsternis und Dunkelheit in das goldene Licht einzudringen vermochten! Wie schutzlos steht das Land um die Goldene Au gegen seine Feinde! Gegen Feinde, die immer abgewehrt doch niemals besiegt wurden, Feinde, die nicht müde werden, das Herz des Kontinents zu bedrängen und zu belagern! Ist es nicht, als ob das Land selber aufschreit und sich gegen eine schlechte Herrschaft wehrt?«
»So ist es!« Ein einzelner Ruf der Menge, die sich von dem Bann der Stimme immer enger stellt, den trennenden Raum zwischen dem anderen mit körperlichem Kontakt überwinden, dunkler schwärzer fester wird, je näher sie sich dem Balkon befindet. Dazwischen nur vereinzelte unsichere Blicke und grimmige Stirnfalten. Die Mehrheit spürt dagegen, dass hier heute jetzt etwas geschieht, von dem jeder einmal seinem Enkelkind berichten und sagen kann: Ich war dabei. Ich habe das Einhorn in Eslamsgrund gehört.
»Wenn das Land leidet, leiden nicht nur seine Menschen. Ein leidendes Land liegt in Agonie und ruft von selbst die Mächte hervor, unter welchem es leidet. All der Hunger und das Elend, die Willkür und die Angst vor der Zukunft sind nicht die Ursachen für das Leid des Landes! Sondern sie sind die Anzeichen einer schweren Epidemie, einer schwarzen, dunklen Krankheit, die das Land befallen hat! Und mit der das Land die Menschen straft, die in ihm leben. Wer aber kann das Land von seinem Leid befreien?«
Wer ist nicht angesprochen? Der Tobrier ohne Heimat. Der Hartsteener Landmann ohne Bindung zur Scholle. Der beunruhigte Kaufmann aus Almada. Der Invalide der Dämonenschlacht, des Mythraelsfelds, der Dreikaiserschlacht? Die Toten von Mühlingen, Gallstein, Höllenwall. Wer ist nicht angesprochen?
»Wo sind die wahren Herrscher dieser Lande, jene Männer und Frauen, unter deren Herrschaft das Korn gelb sich wiegt, der Handel für alle gerechte Preise bringt und der langersehnte Friede endlich Eingang in das geschundene Herz des Reiches findet? Warum leidet das Volk nur unter seinen Herrschern, warum leidet das Land unter den Gekrönten? Diese Frage ist nicht neu, denn sie wurde schon vor über tausend Jahren gestellt! Ein Volk stellte diese Frage, das einst an den Flüssen und auf den Auen lebte, wo nun Ihr das Blut dieses Landes seid. Lasst mich aus einer alten Schrift meines geistigen Lehrers, dem großen Trollforscher Hesindian Quandt zitieren.«
Und die Menschenmenge sieht das große schwere Buch in den Händen des Geweihten. Und hört die Stimme des Geweihten, der die Worte eines unbekannten Lehrers spricht, als wären es die seinen.
»Jene Orte, die noch heute als Steinkreise, Hünengräber oder Trollburgen in den Märchen des einfachen Volkes eine bedeutende Rolle spielen, waren immer auch Stätten der Herrschaft über das Land. Man findet daher wohl auch so viele Überreste der Trolle an genau jenen Orten, welche auch in unserer Zeit die Herrschaftssitze des Adels beherbergen. Unzählige Burgen wurden auf den Fundamenten von uralten Trollfestungen errichtet, von deren Existenz manchmal nur noch die gigantischen Steinbrocken der Fundamente Aufschluss geben. Es scheint fast, als ob die Bindung des Adels an das von ihnen beherrschte Land, nicht einem von den Zwölfen gegebenen Anspruch entstammte, sondern einfach weil sie die Plätze ihrer Vorgänger eingenommen haben, von denen sie nichts wissen und über die die Geschichte den Mantel des Vergessens geworfen hat.«
Eine Bewegung geht durch die Menge. Beifall brandet auf, erst an einzelnen Stellen, dann auf dem ganzen Platz. Zwei Worte gehen durch die Menge, werden rhythmisch immer wieder gerufen. Erst von zwei drei wenigen. Dann ergreift die ganze Masse das Fieber. Sie rufen. Einhorn. Sie rufen. Yesatan. Immer wieder. Yesatan. Eine Erinnerung, die niemals vergessen wurde, sondern im Gedärm der Stadt arbeitete, bis sie an diesem Tag den Durchbruch an das Licht des Tages erblickt.
Und in das Stocken des Geweihten, der die Wirkung seiner eigenen Worte nicht verstand, dröhnte die Kraft der Masse. Yesatan.
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