Geschichten:Der König im Dunkeln - Erdloch und Blut

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„So lauf Alwine, lauf.“

Fröhlich rief Waltrift diese Worte hinein ins dichte Gehölz des Feidewaldes und rannte hinter seiner kleinen Schwester her, die trotz ihres zarten Alters von sieben Götterläufen so flink und behände war, dass sie durch unbändiges Hakenschlagen und gewitzte Richtungswechsel ihrem vier Jahre älteren Bruder ein ums andere Mal entkommen konnte.

Der Vater und die Mutter liebten es nicht, wenn sich ihre beiden Sprösslinge in den Wald zum Spielen begaben, doch zur Saatzeit hatten sie alle Hände voll zu tun, und konnten nicht immer auf ihre beiden Kinder aufpassen. Gefährlich sei’s im Walde, warnten die besorgten Bauersleute immer wieder, doch ihre Kinder achteten es nicht. Vielmehr waren die Gedanken an Raubritter, Gelichter und Getier noch mehr Ansporn, um wildes Spiel im düsteren Feidewald zu treiben. Auch fühlten sich beide Kinder schon recht groß und überaus mutig, und insbesondere Waltrift wurde nicht müde, der ängstlichen Mutter aufzuzeigen, dass er es bösem Gelichter schon zu zeigen imstande war.

Der Junge hielt inne, als ihm plötzlich gewahrte, dass seine Schwester mit einem Male verschwunden war. Nur für einen kurzen Augenblick hatte er sie aus den Augen gelassen, um sich eine Abkürzung zu suchen und sie doch noch zu fangen. Und nun war sie fort.

Gewisslich versteckte sie sich irgendwo im Gehölz, dachte Waltrift bei sich, und so schaute er sich lauernd um.

“Alwine“, flötete er, auf eine verräterische Reaktion seiner Schwester hoffend. „Ich weiß, wo Du bist. Pass auf, ich finde Dich.“

Doch nichts rührte sich.

Irgendwo krächzte eine Krähe im Geäst der Bäume und schlagartig wurde dem Jungen seltsam zumute.

“Alwine?“ Sein Fragen klang nun eher sorgenvoll, doch noch immer rührte sich nichts im schattigen Gehölz, durch das nur hier und da die Strahlen der Praiosscheibe brachen.

Ein kläglicher Laut drang an seine Ohren. Ein leises Weinen.

“Alwine?!“ Panik stieg in Waltrift auf. Sollte er Hilfe holen gehen? „Alwine, das ist ein sehr, sehr schlechter Witz.“

“Brüderlein...“

Nur mehr ein leiser Wehklang war die Stimme Alwines, als sie abermals an ihres Bruders Ohren drang.

Waltrift schluckte schwer und setzte dann langsam Schritt vor Schritt in die Richtung, aus der das Weinen seiner Schwester kam. Nur sehen, sehen konnte er sie noch immer nicht.

“Hilf mir“, erklang es abermals, und wie angewurzelt blieb Waltrift stehen. Vor ihm im Waldboden klaffte ein dunkles Loch. Und von darinnen vernahm er seiner Stimme Schwester aus der Tiefe.

“Ich bin hier, Bruder. Hier unten.“

Schmerzverzerrt klangen ihre Worte. Sie hatte sich gewiss etwas gebrochen, durchfuhr es Waltrift mit schlagartiger Erkenntnis.

“Ich werde den Vater holen, Alwine. Er wird gewiss schimpfen mit uns, aber das nehme ich in Kauf.“

“Aber Bruder...“, schluchzte es von unten aus dem Erdloch. „Versuche lieber herabzusteigen und mich hinaufzuholen. Ich fürchte mich so sehr. Und ...“ ihre Stimme stockte und wurde zu einem furchtsamen Flüstern, „.. ich bin nicht alleine hier, glaube ich.“

Ein ekelerregendes Röcheln klang von unten aus der Grube und mischte sich in Alwines spitzen Schreckensschrei.

“Was ist Schwester? Was geht da vor sich?“

Noch immer hallte der Schrei aus dem Erdloch heraus und ohne weiter zu überlegen prüfte Waltrift die Ränder des Grube, hielt sich an einer nahen Wurzel fest und ließ sich langsam hinab. Seine Füße berührten den Boden nicht, als er schließlich am Rand der Grube hang, doch vernahm er das Schluchzen seiner Schwester nun all zu deutlich. So tief konnte es nicht sein.

All seinen Mut zusammennehmend, ließ er sich das letzte Stückchen herunterplumpsen und landete auf dem lehmigen Untergrund.

Es war sehr kühl hier unten. Der Geruch von Moder und Torf vermischte sich mit einem anderen, süßlichen Duft, der Waltrift an die Schlachttage vor Wintereinbruch erinnerte.

Sehen konnte der Junge nichts, doch dem ließ sich leicht abhelfen.

Er kramte in dem ledernen Beutel, in welchem er seine Kinderschätze bewahrte und zog einen grünlich leuchtenden Stein hervor. Er schimmerte in seiner Handfläche und gab den Blick auf eine geräumige Höhle frei.

Zunächst wurde er seiner Schwester gewahr, die zitternd wie Espenlaub auf dem Boden kauerte, die Augen weit aufgerissen und den Blick furchtsam gerichtet auf das, was vor ihr lag.

Ein Mann war es, angetan in lederner Rüstung, doch diese hatte ihm wohl nichts geholfen. Über und über war das Wams mit Wunden übersät, Blut troff an einigen Stellen noch heraus und selbst mehrere Waffen steckten in seinem zerschundenen, leblosen Körper.

Waffen? Nein, keine Waffen.

Es waren ... Stacheln ...

Wie die von Igeln.

Aber so große Igel gibt es nicht.

Gibt es nicht.

Nicht?

Heiliger Feyderich, steh uns bei“, flüsterte Waltrift, als der Gwenn Petryl Stein seiner Hand entglitt und auf dem blutgetränkten Boden landete.