Geschichten:Greifendämmerung - Das Dritt geht unter die Kutt
Auf dem Erlgardshof, Rondra 1041 BF
„Winne, mach die Tür auf!“ Drego rüttele an der festen Pforte zum Turmgelass auf dem Erlgardshof. Zum fünften Mal. Seit ihrer Rückkehr aus Rommilys weilte seine Gattin hier, weigerte sich irgendwen zu sehen, weigerte sich, auf die Burg zu kommen, weigerte sich, ihm zu erklären, warum sie die Neugeborene in der Friedenskaiser-Yulag-Sakrale in Rommilys gelassen hatte, beim Heiligen Paar der Travia. „Winne, mach schon! Seit fünf Tagen schließt du dich hier ein, muss das sein? Cardona sagt … Himmel, hast du überhaupt was zu essen da drin?“
Drego setzte sich auf die oberste Stufe und legte den Kopf in die Hände. Sein Blick wanderte die uralten Stufen entlang, die sich an der mächtigen Turmmauer hinabwanden. Eigentlich war der ganze Hof um diesen dicken Turm errichtet worden, der einem Bollwerk besser gestanden hätte als dem gräflichen Gestüt. Es rumpelte in Dregos Rücken – die Riegel wurden zurückgeschoben! Er sprang auf, eilte durch die Tür und umarmte seine Frau heftig.
„Winne, Winne, Winne“, stammelte er, während er ihr über den Kopf strich, sie küsste, musterte. „Wie geht es dir?“
Die Frage war so notwendig wie überflüssig: Die Gräfin hatte erheblich an Gewicht verloren. Was sie in der Schwangerschaft zugelegt hatte, schien plötzlich von ihr abgefallen zu sein; zumindest die Wangen waren hohl, die Augen glommen in ihren dunklen Höhlungen. Korwinne versuchte ein falsches Lächeln.
„Es geht mir gut. Josmene versorgt mich mit allem.“ Sie setzte sich, von Drego geleitet, in einen Sessel mit gedrechselten Lehnen. Schwach.
„Du siehst aber nicht gut aus, liebste Gemahlin“, widersprach Drego sorgenvoll. „Was ist denn nur geschehen? Ich habe gleich gewusst, dass du nicht auf diesen Spendenzug hättest gehen sollen. Hast du das Kind verloren? Ist es krank? Schwach? Hässlich?“
Korwinne unterbrach ihren Gatten, nun mit ehrlichem Lächeln: „Nein, sie ist die schönste Tochter, die du dir vorstellen kannst; mit blauen Augen und … etwa deiner Frisur.“ Sie lachte leise.
„Was ist dann geschehen? Ich weiß von Ungolf und Franwin nur, dass du den Traviatempoel bis zur Geburt nicht mehr verlassen wolltest und dann nur mit Zofe und einer Knappin nach Luring geritten bist – ohne das Kind. Und von dir habe ich nur die paar Zeilen, dass sie lebt und dort bleibt.“
„Ich kann es dir erklären, Drego“. Korwinne fasste sich. Sie hatte sich auf diesen Moment offenbar vorbereitet: „Es heißt doch, das Dritt geht unter die Kutt‘, oder? Und Travina ist unser drittes Kind.“
„Travina? Du hast ihr einen Namen gegeben? Diesen Namen?“ Drego war überrascht.
„Nein, den Namen hat das Heilige Paar ausgesucht.“
„Seit wann suchen darpatische Traviageweihten den Namen der Reichsforster Erbin aus?“ Drego stand auf und blickte forschend auf seine Frau. Er hatte noch nicht erlebt, dass sie etwas ohne einen Grund tat, auch wenn er sich oft genug zu dumm fühlte, um ihre Gründe zu verstehen.
„Es sind nicht irgendwelche Traviageweihten, sondern die Vertreter der Herdmutter auf Deren. Sie haben Travina in ihre Obhut genommen. Als ihr Mündel.“
„Mündel? Meine Tochter braucht doch kein Mündel! Wir sind doch da. Ich werde alles tun, damit ihr nichts geschieht. Winne, wir haben doch schon zwei Kinder verloren. Willst du denn das dritte freiwillig verlieren?“ Drego kniete sich nun vor seine Frau, um ihrem Blick auf Augenhöhe zu begegnen.
„Nein, eben nicht“, murmelte Korwinne abwesend. „Was ist das da draußen?“
Drego trat an das Fenster – eine Schießscharte mehr – und stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser hinuntersehen zu können. „Ah, das wird dich freuen. Es ist Rudon mit ein paar Knappen. Jesmina, Debrek und dein Neffe Rondger. Huhu, hier oben!“ Drego rief aus dem Fenster und sah deshalb nicht, wie blass seien Frau geworden war. Erst als er sich umdrehte, bemerkte er die Kälte, die sich in Korwinnes Gesicht ausgebreitet hat.
„Drego, du musst jetzt gehen. Ich werde hier bleiben. Sieh, hier ist ein Rahjaschrein, an dem ich beten kann. Vielleicht geht es mir bald besser. Aber jetzt muss ich hierbleiben.“
„Moment – was ist denn nun mit … Travina. Wann kann ich sie hoilen?“
„Gar nicht. Sie ist der Traviakirche gegeben und darf den Yulagtempel nicht vor ihrer Weihe verlassen.“
„Was?“ Drego schnappte nach Luft. „Wieso? Wir hätten doch …“ Er sah, dass seine Frau die Zugbrücke hochgezogen hatte. Nun würde er sie zu gar nichts mehr bewegen. Resigniert ließ er die Arme baumeln. „Aber was ist mit Reichsforst? Wer soll denn nach uns kommen?“
„Das wird sich finden.“ Antwortete Korwinne knapp, mit halbem Ohr zur Treppe lauschend.
„Du meinst, wir versuchen es weiter? Da hätten wir doch eher das vierte oder fünfte in den Tempel …“
Korwinne unterbrach ihn barsch: „Es wird kein weiteres Kind geben, Drego. Ich kann keine Kinder mehr bekommen. Und nun geh!“
„W…? Was? Ich … aber wie?“ Drego ließ sich von Korwinne zur Tür schieben, weich und folgsam wie immer.
„Drego, ich kann das jetzt auch nicht alles für dich entwirren. Ich weiß nur …“ Sie stockte, erblickte das gerötete Gesicht Rudon von Zwillingsteins, der gerade die Treppe hochkam. „Raus jetzt!“
Mit diesem Befehl schob sie Drego entgültig auf die Treppe und schloss die Tür im rechten Moment, ehe Zwillingstein sie noch am Einschnappen hindern konnte. Die Riegel wurden vorgeschoben, und es herrschte wieder Stille im Turmgelass.
„Rudon, weißt du, was hier vorgeht? Korwinne hat meine Tochter der Traviakirche gegeben. Sie ist ganz …“
„Halt den Rand, Drego“, blaffte Zwillingstein mit unterdrückter Gewalt und hämmerte gegen die Tür. „Mach auf, Korwinne. Mach auf!“
„Rudon, ich …“ Drego versuchte die Aufmerksamkeit seine Freundes auf sich zu lenken. Der aber drehte sich zu seinem Grafen um und befahl: „Geh jetzt runter in den Hof, Drego. Sofort. Moribert und die Knappen warten unten auf dich.“
Nachdem Drego sich endlich hinabgeschlichen hatte, wendete sich Zwillingstein wieder der Tür zu. „Korwinne“, schmeichelte er, „mach auf. Ich will dich begrüßen.“
„Verschwinde. Ich habe dir nichts zu sagen“, klang Korwinnes Stimme hohl durch die Tür.
„Stimmt das, was Drego mir da gerade sagt? Weißt du, was du da angerichtet hast? Weißt du, wie lange wir das vorbereitet haben? Weißt du eigentlich, wie wichtig dieses Kind in seinen Plänen war? Hast du irgendeine Vorstellung davon, was er macht, wenn er das erfährt? Häh!? Den interessiert es nicht, dass dich plötzlich dein Gewissen gepackt hat! Er wird dir das Herz – Unsinn: Ich werde dir das Herz rausreißen und auf fremden Altären opfern! Hörst du mich? Du blöde Kuh! Denkst du der Güldene vergisst, dass er dir schon so viel gegeben hat? Wenn du jemals hier herauskommst, dann …“ Es klackerte hinter Zwillingstein, der immer lauter geworden war. Als er sich umdrehte, stand da seine Knappin Jesmina.
„Seid froh, dass ich es bin, Meister. Ihr wart zu laut, Ich habe die Pforte unten geschlossen.“
Er sammelte sich wieder. „Gut. – Wir kommen wieder. Jetzt gehen wir zu dem Tropf da unten.“
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