Geschichten:Weiß wie Schnee – Stiller Wald
Hexenwald, Travia 1044
„Stirbt der Wald oder sterben die Tiere?“, hob ich mit leiser Stimme an.
„Ist es nicht gleichgültig?“, erwiderte mir die Weiße Rabe kehlig, „Das eine bedingt das andere. Wenn das eine stirbt, stirbt auch das andere und dann sterbe auch ich...“ In ihren blauen Augen stand Verzweiflung. „So ward es bestimmt und was bestimmt ist wird so geschehen.“
„Du sagst das so, als stünde es bereits fest...“
„Das tut es“, sie trank einen Schluck Tee, „Es steht fest. Die Zukunft steht fest. Die meisten kennen sie nicht und deswegen haben sie das Gefühl, sie könnten sie beeinflussen, aber ich weiß, wie es enden wird. Das Sterben hat schon vor geraumer Zeit begonnen...“
„Wann hat es begonnen?“
Nun zuckte die Weiße Rabe mit den Schultern: „Ich bin mir nicht sicher. Es hat allmählich und ganz langsam begonnen. Schleichend. Dann, wenige Monde vor dem Ende Helme Haffax‘, ist es jedoch wesentlich schlimmer geworden. Da habe ich begriffen, dass es dem Ende zugeht...“
„Vielleicht“, hob ich hoffend an und versuchte ein wenig Zuversicht zu verbreiten, „Kann man etwas dagegen tun?“
„Gegen das Sterben?“, sie schenkte mir einen langen Blick, „Gegen das Sterben haben nicht einmal die Diener des Schweigsamen etwas gefunden. Denn alles das lebt, kann auch sterben: Menschen, Tiere, der Wald, ja sogar Lurigan und nicht zuletzt auch ich.“ Voller Trauer blickte sie ihren Raben an. Das weiße Tier krächzte, als wollte es ihr zustimmen. „Er ist nicht der erste seines Namens, aber er wird der letzte sein...“
„Wie alt... wie alt bist du denn?“, wollte ich mit leicht heißerer Stimme wissen. Hatte ich zuvor noch geglaubt zumindest ein wenig zu verstehen, zu begreifen, so verstand ich nun nichts mehr.
Erneut zuckte sie mit den Schultern: „Ich weiß es nicht mehr genau. Aber ich habe viele Kaiser kommen und gehen sehen. Warum ist das wichtig?“
„Ich...“, begann ich nur zu stammeln, „Ich... ich... weiß nicht. Ich...“ Ich verstummte. „Du hast recht, es ist nicht wichtig. Genaugenommen ist es vollkommen bedeutungslos. Es ist...“ Nun rang ich mir ein Lächeln ab. „Es hat vor Ausbruch der Fehde begonnen?“
Sie nickte: „Schon davor. Doch die Fehde hat es noch einmal verschlimmert. Seit dem kann man den Bäumen im Herz des Waldes beim Sterben zusehen. Wie viele sich von ihnen wohl vom Winter erholen werden?“ Nun zuckte sie hilflos mit den Schultern. „Der Wald ist nichts ohne sein Herz, auch er kann nicht ohne es existieren, so wie auch kein Lebewesen sonst.“
Ich nickte zustimmend und begriff doch nicht, was hier eigentlich los war: „Warum begann es kurz vor dem Tod Haffax‘? Warum nicht davor oder... danach?“
„Irgendetwas hat sich zu diesem Zeitpunkt verändert. Das Machtgefüge hat sich zum Schlechteren verschoben. Und seit jenem Tag da stirbt der Wald und es sterben seine Tiere. Es wird still. Hier im Wald wird es still. Ganz still. Kannst du es hören? Die Stille hören?“