Geschichten:Nicht mit leeren Händen - Der verwaiste Bruder
Am Reisenden Hofe, später Vormittag des 17. Hesinde 1043 BF
In der Kaiserpfalz herrschte reges Treiben. Die Ankunft einer Delegation aus der Kaisermark war schon vor Tagen angekündigt worden. Nun nutzte man das Tageslicht, um alle Vorbereitungen für die Unterbringung eines so großen Zuges zu treffen. Stattdessen näherte sich noch vor der Mittagsstunde nur ein einzelner Reiter, der die Farben des Hauses Pfiffenstock trug. Als er sein Begehr vortrug, wurde er rasch zur Kastellanin vorgelassen.
Eine halbe Stunde später war die Nachricht überbracht, die nötigsten Anweisungen erteilt, der Bote erfrischt und gestärkt. Nun galt es, eine traurige Pflicht zu erfüllen. Am Hofe war nicht nur eine Person anwesend, der die furchtbare Botschaft zuzutragen war, sondern zwei. Neben der Zahlmeisterin am Kaiserlichen Hofe, Elea von Ruchin, fand sich hier auch Lassan von Weyringhaus-Rabenmund, der jüngste Bruder Sigmans.
Die Kastellanin hatte nach den beiden schicken lassen und bat sie nun, Platz zu nehmen. “Ich habe traurige Kunde für Euch. Wie Ihr wisst, sollte in diesen Tagen eine Gesandtschaft aus der Kaisermark hier eintreffen, bestehend aus der Reichsedlen Rymiona von Aimar-Gor, den edlen Damen Sibela von Pfiffenstock und Leonore von Vairningen nebst anderen hohen Herrschaften - und Eurem Bruder, Eurem Schwiegersohn Sigman von Weyringhaus.” Sie schluckte kurz, dann gab sie dem Boten einen Wink, seine Nachricht vorzutragen:
“Meine Herrin Sibela von Pfiffenstock ließ mich voran reiten, da sie meinte, eine wichtige Nachricht müsste Euch zuvor erreichen. So muss ich Euch leider die traurige Nachricht überbringen, dass Herr Sigman von Weyringhaus bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist. Seine edlen Begleiterinnen, Leonore von Vairningen und Sibela von Pfiffenstock, konnten trotz aller Mühen nichts mehr für ihn tun als ihm die letzte Ehre zu erweisen und seine Angelegenheiten bei Hofe zu den ihren zu machen.”
Lassans Mund war trocken. Sigman. Noch bevor das Gehörte wirklich einsinken konnte, antwortete er im routinierten Ton der Kanzleiarbeit, bei der nie alle nötigen Informationen vorliegen und selten Zeit ist, sie noch einzuholen: “Was für ein Unfall? Sprecht deutlich, Mann, und lasst nichts aus!”
Elea bemühte sich ebenso, sich ihr Entsetzen über den Tod ihres Schwiegersohns nicht anmerken zu lassen. Die für sie wichtigen Fragen waren schon gestellt, sie fügte nur hinzu: “Und wo ist er jetzt?”
Der Bote war einen kurzen Moment sichtlich irritiert, ob des gänzlich anderen Empfangs als noch bei der Aimar-Gor, besann sich dann aber dessen wo er sich hier befand. “Meine Herrschaften, er ist in guten Händen. Ein Trauerzug geführt von den edlen Sibela von Pfiffenstock und Leonore von Vairningen überführt ihn hierher - nach borongefälliger Andacht. Ihnen schließen sich an Edelhochgeboren Rymiona von Aimar-Gor samt Rest der Delegation - Rimiona von Heiterfeld, Fridega Unikornia vom Berg und die Dame von Isppernberg.” Dann dämpfte er seine Stimme nochmals. “Es begab sich auf einer Landstraße, der das nass-eisige Wetter mitgespielt hatte, sein Pferd ging durch auf dem rutschigen Pfad und er fiel, verhedderte sich und das Pferd zog ihn eine Strecke mit sich in einen Graben. Er, seine Gefolgschaft und die edlen Damen von Pfiffenstock und Vairningen kämpften mit aller Macht um sein Leben, doch Golgari sah es anders.” Betrübt senkte er sein Haupt, auch diese Worte klangen wie immer wieder vor sich her gesagt.
“Boron mit ihm”, sagte Lassan dumpf.
Niemandem konnte die Formel lächerlicher vorkommen als ihm selbst. Was war damit gesagt über seinen Bruder, den ältesten, der einst anstelle ihres Vaters Burggraf hätte sein sollen? Neun Jahre trennte Lassan von den Zwillingen Sigman und Roban. Seine älteste Erinnerungen an diese waren ihre Besuche während der Jahre, in denen sie in Wehrheim zu Kriegern geschliffen worden waren. Zwei Knaben, die damals natürlich unendlich weltläufig und erfahren erschienen waren.
Doch eigentlich hatten sie diesen Vorsprung an Erfahrung und Alter in Lassans Augen nie verloren: Krieger, die das gelassene Naturell ihres Vaters geerbt hatten und trotz verschiedener Schicksalsschläge stets wirkten, als seien sie sich ihres Platzes und ihrer Aufgaben in der Welt sehr gewiss.
“Habt Dank.” Routiniert öffnete Lassans Hand die Börse. Sein Platz, wenigstens für den Augenblick, war der Tross - und Silber für all jene, die nicht von Stand, aber unverzichtbar für das Funktionieren dieses geheimnisvollen Instrumentes waren, war das Mittel, die richtigen Töne zur richtigen Zeit hervorrufen zu können.
Elea seufzte, als sei eine große Last wenigstens etwas leichter geworden. “Gebt ihm einen guten Lohn, Herr Lassan”, sagte sie. “Auch er soll nicht mit leeren Händen gehen.”