Geschichten:Nicht mit leeren Händen - Familienbande
Am Reisenden Hofe, zur abendlichen Phexensstunde des 18. Hesinde 1043 BF
Noch am frühen Abend des Ankunftstages erhielten alle Adligen, die in Sigmans Leichenzug in die Pfalz geritten waren - also neben den Mitgliedern der Gesandtschaft auch Lassan - durch Pagen eine kurze Botschaft der Zahlmeisterin ausgerichtet: die Einladung, sich zur abendlichen Phexensstunde im Gewölbe im Erdgeschoss des Bergfriedes einzufinden. Das war ein großer, würdiger, aber wegen der klirrenden Kälte im Winter ungenutzter Raum - und hier war deswegen Sigman von Weyringhaus aufgebahrt.
Lassan schien es, als sei im Tod Sigmans Ähnlichkeit mit ihrem Vater noch größer geworden. Der Geschichte des Boten eingedenk, mussten es kundige Hände gewesen sein, die die Spuren seiner Verletzungen abgewaschen und verborgen und seine Züge hergerichtet hatten.
Die klobigen Mauern, dazu gedacht, das Gewicht des Turms zu tragen, lagen im Schatten. Nur der Körper des Mannes, von dem das Gewicht des Weyringhaus’ genommen war, wurde von dicken Kerzen beleuchtet. Zarte Weihrauchschwaden umwehten den Leichnam.
Fast unhörbar war Elea von Ruchin neben ihn getreten. Sie blickte nachdenklich und betrübt auf ihren toten Schwiegersohn. Mit einem tiefen Seufzer holte sie Atem. “Meinst du, es kommt noch jemand von der Gesandtschaft? Wenn es nur darum geht, einem Verstorbenen die Ehre zu erweisen - ohne dass die Kaiserin und ihr Hofstaat es sehen?” Offenbar hatte sie den Leichenzug so verstanden, wie er von einigen Teilnehmenden auch gemeint war: als Demonstration von Macht und Einfluss. Sie war lange genug bei Hofe gewesen, um solcherlei Zeichen zu erkennen und zu deuten.
“Er war ein untadeliger Mann. Von allen wohl gelitten, denen König- und Kaiserreich am Herzen liegen. Blüte des garethischen Adels.” Wenn es darum ging, einer Frage nach der eigenen Meinung auszuweichen und dabei nichts zu sagen, dessen Wahrheit bestritten werden konnte, war Lassan ganz Höfling. Seine Verpflichtungen - beobachten, dokumentieren, benachrichtigen - waren mit den letzten Jahren umfangreicher und verantwortungsvoller geworden, aber eine eigene Meinung zu äußern war selten Teil davon und noch seltener vorteilhaft. Oft genug hatte er den Eindruck gehabt, dass die Baronin, die ihrem Haus seit über dreißig Jahren vorstand, als Zahlmeisterin am reisenden Kaiserhof ähnliche Vorsicht beachtete. Vielleicht verstanden sie einander darum außergewöhnlich gut, so dass sie inzwischen sogar bei der vertrauten Anrede angekommen waren.