Geschichten:Hülle & Fülle – Die Halbarechs aus Waisenblick
Als wir in dem kleinen Dorf Waisenblick zu Fuße der mächtigen Burg Baran’Schek ankamen und uns ein wenig umhörten, realisierten wir gleich, dass wir in der Burg vermutlich nicht weiterkommen bzw. zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen würden. Denn die meisten der wichtigen, einflussreichen und somit hilfreichen Bewohner der Burg waren mit Konnar von Brunden, Arya von Rabicum, Reglindis von Wetterau und Baltram Vettweiß alles Kreaturen und gar Verwandte des Senneschals oder des Herrmeisters und denen - vorallem ersteren - wollten wir lieber keinen Einblick darin geben, was wir hier trieben. Auch wenn Roban hier am liebsten auf direktem Wege agiert hätte.
Und so waren wir kurz ratlos, da wir wichtige Hinweise oder gar die Scherbe selbst doch direkt in der Waisen-Festung vermuteten.
Zudem begann es zu dämmern und wir mussten eine Unterkunft außerhalb der Festung finden und gaben uns letztlich - in Ermangelung von etwas besserem - mit dem Haus des Schulzen und Schmieds Marvadan Halbarechs zufrieden. Phex sei Dank war es ein recht großzügiges Haus mit angeschlossener Werkstatt, das er allein mit seinen drei Töchtern belebte, nachdem seine baburisch-aranische Frau und sein Sohn bei den Unruhen der Nebachotenkrise gestorben waren. Marvadan - selber Nebachote - betrieb seine Werkstatt und kümmerte sich als Schulze um die Angelegenheiten des Dorfes, während man Reisenden noch Zimmer, Speis und Trank anbieten konnte. Für hohe Herrschaften wie uns räumten sie gar ihre eigenen Stuben.
Da sein Sohn gestorben war, gab er sein Wissen nur noch an seine drei Töchter Yngria, Shimina und Heshina weiter, die allerdings alles begierig aufsaugen, wie er stolz berichtete. Wobei Yngria und Shimina ihm gut in der Werkstatt zur Hand gingen, Heshina wiederum sei ein kluges Köpfchen, was ihm viel Arbeit als Schulze abnahm. Er bedauerte die ewigen Streitigkeiten der Stämme und Nachbarn und war sie leid, hatte die innernebachotische Fehde ihm gar die Familie zerrissen. Und so wünschte sich der Träumer ein anderes Perricum, zusammen mit den raulschen und aranischen Geschwistern. Doch sah er schon einen neuen Konflikt sich anbahnen, zwischen ehemaligen Araniern und Perricumern. “Die Ainigung von Morganabad mag vielän Hohän Härrschaften gäholfen haben, abär wir hier im Süden konntän auch ohne gut oder viellaicht sogar bässer läben. Säht doch nur wie schön äs hier ist.” sagte er und seine jüngste Heshina ergänzte dann in deutlich akzentfreierem Garethi: “Unsär Land hat so viel Gäschichte, die noch viel weiter, als über Raulsche, Aranier, Nebachoten und Baburen hinaus gäht…”
Das machte sowohl mich, als auch Nazir und Ashina aufmerksam. Und während Sarana sich am nächsten Tag ausruhen wollte und erst später dazu kam, gedachte Roban dem Schulzen bei einem aktuellen Konflikt helfen zu wollen. Vielleicht würde uns das voranbringen, wenn wir etwas Vertrauen gewannen. Wir drei wollten uns dementsprechend die drei Schwestern vornehmen, besonders Heshina. Sarana gesellte sich erst später dazu.
Die drei Schwestern waren ungewöhnlich aufgeschlossen oder - vermutlich - einfach noch nicht so abgebrüht wie einige von uns. Die beiden älteren, Yngria und Shiminia sind sehr (kunst)handwerklich begabt, während Heshina eine überaus kluge Frau ist und sowohl ihren Schwestern, als auch ihrem Vater hilft.
Alle drei waren beeindruckt vorallem von der seltbewussten Nebachotin Ashina, aber auch meinem Charme und Saranas Weisheit imponierte ihnen. Nazir stand dabei etwas außen vor, doch konnte der geschäftstüchtige Mann auch immer wieder einige geschickte Anekdoten und Fragen platzieren. Ihren Vater schienen die drei tatsächlich zu lieben, fanden aber auch, dass er, wie viele seiner Generation, etwas zu althergebracht wäre, wenn auch bei weitem nicht wie manch andere Nebachoten. Ohnehin sahen sie sich als echte Perricumerinnen, mit aranischen und nebachotischen Wurzeln. Ihre Mutter wäre da ein anderer Schlag gewesen als der Vater, seit dem sie gestorben war, war dieser orientierungsloser. Ihre Mutter hatte früher gerne Geschichten und von aktuellem Geschnatter erzählt. Sie kannten daher viele Geschichten von neb. Frauen wie Arishia von Lanzenruh, Fatime von Pfiffenstock, Baha von Darrenfurt und den vielen starken Frauen Araniens, etc. “Abär Heshina kennt sogar noch ganz andäre. Sie hat aine richtige kleine Wundärkammer …” brach es irgendwann in dem illustren Plausch stolz aus den beiden Älteren heraus.
Überrascht und aufmerksam verfolgten wir dies und witterten eine Gelegenheit die Festung Baran’Schek umgehen zu können. Doch Heshina wollte erst nicht recht mit der Sprache rausrücken, weil es eben ihr ganz persönliches Geheimnis war, das sie hütete. Und auch ihre Schwestern wollten nichts mehr verraten, schämten sich gar etwas Heshinas Rückzugsort so bereitwillig und leichtfertig “verraten” zu haben.
Doch mit einiger Überredekunst durch Ashina (Stichwort “stolze nebachotische Forscherin”), Nazir (Stichwort “später wird man darüber sprechen.”) und meinem und Sanaras Angebot Heshina “einigen wirklich gelehrten und hesindianischen Leuten vorzustellen” etc. ließ sie sich erweichen und war bereit uns zu ihrer “Wunderkammer” oder “Schatzhort des Wundersamen und Absonderlichen”, wie sie es nannte, zu führen.
Als wir dafür den Dorfplatz querten, wurden wir Roban gewahr, der sich als Schlichter an der Seite des Schulzen Mavardan hervortat. Nazir entschied sich, ihm zur Seite zu stehen, da es sich auch hier um einen Konflikt mit Araniern handelte.
Wir anderen folgten Heshina ein ganzes Stück raus aus dem Dorf und hin zu einem alten Teilrest der Alten Mauer. “Diese värlief nie wie eine gärade Linie, sondern, teilwaise wie ein Gewirr aus Mauerabschnitten, immer wieder värlagert durch die Konflikte der Zaiten, in denen sie über Jahrzehnte hinweg gäbaut wurde. Weiter im Westen gar, weiß niemand so recht mehr, wo die Hauptmauer überhaupt värlief.”, erklärte uns Heshina, etwas, das uns selbst so noch nicht bewusst gewesen war. Etwas, das wie ich und Sarana als Gelehrte befanden, wichtig war. Diese junge Frau war verschwendet an das Dorf Waisenblick.
Das Stück, auf das wir zuletzt zuhielten, hatte wohl mal Baran’Schek und die weiter südlich liegende Hauptmauer verbunden.
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