Geschichten:Niederlage und Neubeginn

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Endlich hatte Ugdalf das Zimmer seiner Schwester erreicht. Er wartete noch einen Moment, doch als er aus der Kammer keine Geräusche vernahm, öffnete er leise die Tür einen Spalt und warf einen Blick in den Raum. Zu seiner Überraschung brannte auf dem Tisch eine Kerze, wohingegen das Bett zwar zerwühlt, aber leer war. Da Selindes Kleidung noch über einem Stuhl lag, war diese offenbar lediglich austreten. Rasch trat der Oberst ein und schloss die Türe hinter sich. Neben der Kerze stand ein mit einem Getränk gefüllter Becher, dessen Anblick den Oberst durstig werden ließ, sodass er nicht widerstehen konnte, ihn in einem Zug zu leeren. Beinahe hätte der nächtliche Gast den Inhalt des Kruges wieder ausgespuckt: Kalter Tee, widerlich! Selinde hatte einen merkwürdigen Geschmack - noch ...
Sich nähernde schlurfende Schritte rissen Ugdalf aus seinen Gedanken. Er postierte sich direkt neben der Tür, den mitgeführten Dolch fest in der rechten Hand umklammert. Die Baroness betrat das Zimmer und hatte sich gerade umgedreht, um die Türe zu schließen, als die Blicke der beiden Geschwister einander begegneten: Blankes Entsetzen auf der einen und grenzenloser Hass auf der anderen Seite.

"Du hast unsere Familie und den Herrn der Götter zum letzten Mal verraten, Miststück!", zischte der Oberst und rammte Selinde, die immer noch vor Entsetzen erstarrt war, den Dolch direkt ins Herz.

Rasch fing Ugdalf den leblosen Körper auf und ließ ihn langsam zu Boden gleiten, dadurch jedes laute Geräusch vermeidend. Er schob die auf dem Rücken liegende Leiche unter das Bett, um zu vermeiden, dass sie sofort gefunden wurde und nahm seinen Dolch wieder an sich. Die Klinge war einfach zu schade, um sie zurückzulassen, auch wenn sie einen Platz im Herzen Selindes gefunden hatte, ging es dem Offizier mit einem grimmen Lächeln durch den Kopf, während er die Klinge an ihrem Nachthemd abwischte. Plötzlich musste er herzhaft gähnen. Offenbar hätte er sich vor seiner Tat doch etwas mehr Schlaf gönnen sollen. Trotz der aufkommenden Müdigkeit schloss er noch die Tür und schob den Riegel vor. Zurückkehren könnte er auch morgen früh und sich jetzt erst einmal ausschlafen; das Bett war ja nun kurzfristig freigeworden.
Als Ugdalf erwachte, war es bereits heller Tag und, wenn man den Trubel auf der Straße vor dem Hotel betrachtete, zumindest schon Vormittag. Zwar war er jetzt ausgeschlafen und voller Energie, dennoch stand er nun vor dem Problem, wieder unauffällig zu verschwinden; idealerweise, bevor sich jemand nach Selindes Befinden erkundigte. Der Oberst richtete seine Kleidung, rollte den Überwurf, in dem er auch seine Klinge verborgen hatte, zusammen und klemmte ihn sich unter dem linken Arm. Dann öffnete er die Tür einen Spalt, warf einen Blick nach draußen und atmete erleichtert auf, als er dort niemanden erblicken konnte. Der Offizier nutzte die Gelegenheit, trat auf den Gang, schloss die Türe leise hinter sich und ging, nach einem weiteren Rundumblick, zur Treppe. Vorsichtig warf er einen Blick nach unten und wieder schien ihm der Güldene hold: Unten war eine offenbar adlige Familie mit mehreren Dienstboten eingetroffen und hielt das Personal des Hotels auf Trab. Die günstige Gelegenheit ausnutzend, ging Ugdalf gemessenen Schrittes und mit gesenktem Haupt zum Ausgang, ohne dass jemand von ihm Notiz nahm oder ihn gar ansprach. Draußen angekommen, atmete der Oberst erst einmal durch und ärgerte sich auch ein wenig über sich selbst. Beinahe hätte er alles vermasselt, nur, weil er unbedingt noch etwas Schlaf nachholen musste!
Rasch strebte er zur Kaserne zurück, um seinen Dienst aufzunehmen, bevor man sich am Ende noch über sein Fernbleiben zu wundern begann oder, schlimmer noch, seine Mutter ihn dort zu ihren gemeinsamen Mittagessen nicht antraf. Gleichzeitig entfernte sich eine unauffällige Halbwüchsige ebenfalls vom Hotel, allerdings zog es sie in eine fast entgegengesetzte Richtung.


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Wie immer betrat Fredegard das Arbeitszimmer ihres Sohnes ohne anzuklopfen. Dieser hatte sich zwischenzeitlich umgezogen und schien in einige Dokumente vertieft.

"Ah, Mutter! Pünktlich wie immer. Was wollen wir heute essen, irgendein besonderer Wunsch?"

"Ja, den habe ich. Dein Herz.", antwortete Fredegard kalt.

"Was, äh- meinst Du damit?", erwiderte ihr Sohn sichtlich irritiert.

"Halte mich nicht zum Narren, Balg!", glaubst Du, ich wüsste nichts von Deinem nächtlichen Besuch bei Selinde?"

"Du überwachst mich? Das, das ist-"

"-eine schiere Notwendigkeit, wenn man Dein bisheriges Verhalten und vor allem Versagen betrachtet. Allerdings hatte ich unterschätzt, wie dumm Du wirklich bist, sonst hätte ich schon längst Deiner Unfähigkeit ein Ende bereitet und zwar endgültig. Du hast Dich mit deiner Tat nicht nur meiner ausdrücklichen Anweisung widersetzt - und das, obwohl man von einem Soldaten erwarten können sollte, dass er mit dem Prinzip von Befehl und Gehorsam vertraut ist - nein, Du hast es geschafft, Dich diesmal selbst zu übertreffen. Meinst Du etwa, der Tod Deiner Schwester wirbelt keinen Staub auf? Sie war die Tochter eines Barons und die Schwiegertochter eines anderen, der, nebenbei bemerkt, auch noch dein Vorgesetzter ist."
Plötzlich schnellte Fredegards linker Arm vor und packte mit eisernem Griff Ugdalfs Hals. Fredegard schob ihren Mund ganz nah an das linke Ohr ihres Sohnes und flüsterte ihm zu:
"Es wäre mir ein Leichtes, Deiner nichtsnutzigen Existenz hier und jetzt ein Ende zu bereiten und ich hätte nicht gerade wenig Lust dazu. Doch im Gegensatz zu Dir weiß ich, dass Gefühle wie Zorn oder Hass verlässlich schlechte Ratgeber sind. Und Dein praktisch zeitgleicher Tod mit Selinde führte nur zu vermeidbaren neuen Komplikationen und Fragen.
Und nun höre mir genau zu, denn ich werde es nicht wiederholen: In etwa drei Monden, den genauen Zeitpunkt werde ich Dich wissen lassen, wirst Du sowohl als Oberst als auch als Junker zu Rotbach abtreten. Du hast doch vor einiger Zeit den ebenso schmucken wie inhaltsleeren Titel eines 'Gouverneurs von Yar´dasham' erhalten. Dort befindet sich ein Heiligtum unseres Herrn, um das Du Dich kümmern wirst. Und nur um Missverständnisse zu vermeiden: Solltest Du Dich später jemals wieder hier in der Markgrafschaft blicken lassen, oder mir nach dem heutigen Tage unter die Augen kommen, dann wirst Du Dir wünschen, dass ich Dir ein ebenso schnelles Ende bereiten werde, wie Du meinem einzigen Kind. Schade nur, dass ich keinen Sohn habe, der dereinst mein Werk fortsetzen könnte. Hast Du das verstanden, Oberst?", fragte Fredegard, das letzte Wort geradezu ausspeiend, während sie ihren Griff zur Unterstreichung ihrer Frage etwas verstärkte.
Mit schreckgeweiteten Augen nickte Ugdalf kurz, woraufhin ihn die Frau, die sich einst als seine Mutter bezeichnete, freigab.
"Gut. Dann ist nun alles gesagt", schloss die Adlige lakonisch und verließ das Zimmer.
Ihr Sohn hingegen sagte alle heutigen Termine ab, schloss sich in seinem Quartier ein und betrank sich hemmungslos. Er hatte verloren; alles verloren.


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Einige Monate später verließ ein Schiff den Perricumer Hafen mit Ziel Al´Anfa. An Bord befand sich ein wortkarger und verbittert wirkender Mann mittleren Alters, dessen Blick bei jeder Gelegenheit auf die Trollzacken gerichtet war.
Ein halbwüchsiges und sehr ernst wirkendes Mädchen beobachtete ihn und das Auslaufen des Seglers, bis dieser beinahe am Horizont verschwunden war. Dann kehrte die Zuschauerin in die Stadt zurück, wo sie sich in einer gut besuchten Schänke mit einer älteren Frau traf.

"Das Schiff ist vorhin ausgelaufen und er war an Bord.", berichtete sie knapp. "Er hat sich widerstandslos in das Unvermeidliche gefügt. Glaubt Ihr, er wird an seinem Zielort dem Herrn gut dienen?"

"Wir werden sehen. Er weiß, dass dies seine letzte Gelegenheit dazu ist. Entweder er nutzt sie oder-", die ältere Dame ließ den Satz unvollendet im Raume stehen.
"Du hast dich sehr gut gemacht, Liebes und Dich meines Vertrauens sowie dem Güldenen wiederholt als würdig erwiesen. Ich bin stolz auf Dich und freue mich, Dir in Bälde die Weihe unseres Herrn zu spenden. Doch nun habe ich eine andere Aufgabe für dich; eine, die weit fordernder sein dürfte. Meine Enkelkinder bedürfen besonderer Zuwendung und spiritueller Anleitung. Du wirst daher nach Zackenberg gehen und dort den Posten als Kindermädchen für die beiden übernehmen."

"Es wird mir eine Ehre sein, für Eure Enkel zu sorgen. Ist die Stelle bereits frei oder muss ich mich erst noch darum kümmern?"

"Das wird nicht nötig sein. Das bisherige Kindermädchen müsste gestern oder vorgestern bereits einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen sein", antwortete die Adlige mit einem Schmunzeln. "Ich werde mich um die nötigen Referenzen und Empfehlungen kümmern, um sicherzustellen, dass Du den Posten auch tatsächlich erhältst. Von Zeit zu Zeit wirst Du in die Stadt reisen und mir berichten. Ansonsten hast Du in Zackenberg freie Hand. Aber vergiss´ nicht: Die Zeit arbeitet für uns, wir haben keine Eile und müssen auch nichts übers Knie brechen."

"Ja, Mutter. Und danke nochmals für alles, was Ihr für mich getan habt."

Für einen kurzen Moment zeigte sich ein versonnenes Lächeln auf Fredegards Antlitz.
"Keine Ursache, Tochter. Der Herr war es, der uns zusammengebracht hat. Ich war lediglich sein Werkzeug, wenn auch mit Blick auf Dich ein ausgesprochen williges." Sanft strich sie Janne über das Haar. "Morgen besprechen wir dann Deine Lebensgeschichte, mit der Du dich um die Anstellung bewerben und die Du auswendig lernen wirst."

"Natürlich. Und was ist mit dem freigewordenen Posten eures - ihr wisst schon."

"Sei unbesorgt, da habe ich bereits jemanden für im Auge. Er ist zwar kein Glaubender, hat aber verschiedene Schwächen, die wir für unsere Zwecke ausnutzen können. Es bedarf zwar noch einiger Garadanzüge, aber ich bin zuversichtlich, dass er am Ende die Stelle erhalten wird.
Aber genug von irgendwelchen Plänen, Töchterchen. Hast Du Lust, mich zu einem Krankenbesuch zu begleiten?"

"Mit dem größten Vergnügen, Mutter!"