Geschichten:GG&P-Con 2024 Das Turnier - Alte Bekannte

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Großfürstlicher Hoftag zu Auenwacht, Garetien, 1. Travia |1046 BF (um die Mittagsstunde)

Domna Selea, die Junkerin zu Mestera, folgte Tsacceo durch das Gewirr der Zelte der Turnierteilnehmer. Die ersten Ritte der ersten Finalrunde waren bereits erfolgt und noch immer lag angespannte Vorfreude in der Luft. Ihre Schwägerin, Domna Luciana, hatte sich sehr gut geschlagen. Zusammen mit den Kindern hatte sie zugesehen und war überrascht gewesen, wie viel Stolz sie ob des Sieges einer Vertreterin ihrer alm:Familia empfunden hatte. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, ihre Schwägerin am Rand des Tunierplatzes zu beglückwünschen. Bevor Domna Luciana, der alm:Cortezza folgend, eine Einladung zum Mittagsmahl hatte aussprechen können, waren zum Glück einige ihrer caldaischen Bekanntschaften hinzugekommen. Mit dem Verweis, nicht länger stören wollen, hatte die Soberana sich mit Gefolge zurückgezogen und der Tjostbahn den Rücken gekehrt.


Nun fand sie sich also im Trubel der Gassen des Zeltlagers zwischen einer Unmenge von Wappen wieder. Einen Moment bedauerte sie, Keshlan nicht mitgenommen zu haben, er hätte ihr zu jedem Namen und die wichtigsten Informationen zugeflüstert. Aber es wäre dumm gewesen. So blieb ihr nichts, als sich auf die wenigen zu konzentrieren, die sie kannte. Besonders auf eines, das sie längst hätten erreicht haben müssen. Hoffentlich hatte Tsacceo sich nicht verirrt. Der Junge war stets bemüht, aber manchmal mit den Gedanken zu sehr in seiner eigenen Welt. Und nicht immer der Hellste. Andererseits musste sie sich so nicht den Spott des Araniers anhören, wenn sie das ein oder andere Mal stehen blieb, um sich bietende Aussichten zu genießen. Derer es hier so einige gab. Vielleicht sollte sie doch mit dem Tjosten anfangen.


„Pherica?“ Ihren Unwillen darüber in Schach haltend, dass die Angesprochene mal wieder verschwunden war, sah sie sich nach dem Mädchen mit den beiden Kleinen um. Sie war überrascht gewesen, dass die junge Zahori von sich aus vorgeschlagen hatte, sie zu begleiten. So geschickt und zuverlässig die junge Frau mit den Kindern war - ihre Aufmerksamkeit war flatterhaft wie ein Tsafalter, erst recht, wenn es wie hier so viel zu sehen gab, wofür sie sich begeistern konnte.


„Dort vorne, Domna Selea. Das Wappen derer von Culming“, meldete Tsacceo. „Danke, sieh nach, wo Pherica geblieben ist, und dann kommt nach.“ „Sofort, Domna.“

Ihr neues Kleid glattstreichend näherte sich Fabiola dem Zelt. Erleichtert erkannte sie davor den Pagen Answin. Tsacceo hat sich also nicht geirrt und sie erwartete kein peinliches Missverständnis. Ihren ihren Fächer aufklappend atmete sie tief ein. Sie war gespannt, wie Dom Algerio auf die Überraschung reagieren würde.

„Die Zwölfe zum Gruß, Answin. Ist dein Herr zu sprechen?“


Der Page blickte auf, und es brauchte nur einen kurzen Moment, ehe sich sein Blick von dem eines verwirrten Kindes zu dem eines routinierten jungen Mannes veränderte. Er hatte Domna Selea offensichtlich erkannt. “Die Zwölfe zum Gruße, Euer Wohlgeboren. Ich erkundige mich gern.”


Er ließ liegen, womit er sich eben noch beschäftigt hatte, und betrat das vergleichsweise kleine, weiße Zelt hinter ihm, vor welchem weithin sichtbar das Banner derer von Culming hing. Einige kurze Augenblicke später kam er wieder heraus, dicht gefolgt von Algerio. Der Edle des Selkethals war sehr schlicht in eine weite, schwarze Pluderhose und ein Leinenhemd gekleidet. “Domna Selea, der Edle…”, setzte Answin an, doch dieser unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung.

“Lass gut sein, Answin.”


Den überraschenden Besuch nicht aus dem Auge lassend, machte Algerio einen Schritt nach vorn. Er ergriff die Hand Domna Seleas, verneigte sich leicht und hauchte einen sanften Kuss auf ihren Handrücken. “Eine Freude dich zu sehen”, flüsterte er, so leise, dass es im allgemeinen Lärm des Turniers für niemanden außer Selea hörbar sein konnte. Fabiola neigte grüßend den Kopf und erwiderte mit einem kleinen Lächeln ebenso leise: „So war es gedacht, so geht es mir auch.“ Dann richtete sie sich auf und fuhr mit normaler Stimme fort: „Dom Algerio, entschuldigt diesen unverschämten Überfall. Doch wäre es zu unhöflich gewesen, in der Nähe zu sein, ohne einem Landsmann viel Erfolg für den späteren Lanzengang und die hoffentlich folgenden zu wünschen. Ich hoffe sehr, Euch bei der Siegerehrung zu sehen.“

Algerio lächelte das Domna Selea bereits vertraute Lächeln - leicht, offen und freundlich, mit einer Spur Amüsement. “Ihr ehrt mich, Domna, und natürlich werdet Ihr mich bei der Siegerehrung sehen - ob unter den Siegern, das wird sich zeigen. Eure Hoffnungen werden mich jedenfalls beflügeln, wenngleich die Tjost nicht gerade meine bevorzugte Disziplin ist.”

„Und doch trete Ihr in dieser Disziplin an. Dann wünsche ich Euch, mein lieber Dom, dass Ihr im entscheidenden Moment nicht nur auf Euer zweifelsohne vorhandenes Geschick, sondern auch das nötige… Quentchen… Glück… verlassen könnt, um die ersten Runden zu bestehen. Welche Disziplin bevorzugt Ihr?“ Fabiola merkte, dass sie versucht war, in das vertraute Frage-und-Antwort-Spiel abzugleiten. Sie musste aufpassen.

“Leider ist dieses Turnier auf die Tjost beschränkt… Die Garetier sind da sehr… traditionell”, erklärte Algerio augenzwinkernd. “Meine Hauptwaffen sind der Rapier zu Fuß und der Reitersäbel zu Pferde. So lehrt man es jedenfalls an der Ragather Lehranstalt. Werdet Ihr auch antreten? Ich sah das Wappen Eurer Familia”, fragte er neugierig.

Fabiola lachte hell auf und schüttelte den Kopf. „Nein, ich nehme nicht teil. Meine einzige Hoffnung auf einen Sieg beim Tjost wäre, dass mein Gegner vor Lachen oder Mitleid aus dem Sattel fällt. Meine Schwägerin, Domna Luciana, tritt an. Vielleicht erinnert Ihr Euch an sie. Sie ist eine regelmäßige Turniergängerin und wie Ihr in die Finalrunden eingezogen.“ Und sie war eine willkommene Ausrede für diesen Besuch, nachdem Sarkyoza ihr geschrieben hatte, dass Domna Usanza von der Teilnahme des Edlen gesprochen hatte. „Sagt, habt Ihr eine Empfehlung, wo man hier anständig zu Abend essen kann? Ich bin gestern erst spät angereist.“ Schalk glitzerte in ihren Augen, während sie den Anflug eines Grinsens hastig hinter ihrem Fächer verbarg.


Algerio deutete auf die bereitstehenden Stühle: “Wo habe ich meine Manieren gelassen, nehmt doch Platz! Kann ich Euch etwas bringen lassen? Einen gekühlten Wein vielleicht?” Er widerstand der Versuchung, getrocknete Aprikosen anzubieten - Handelsware, die er dereinst preiswert in Aranien erstanden hatte und die ihn seither auf allen seinen Reisen begleiteten, weil er die Nachfrage im Markt deutlich überschätzt hatte.

„Sehr freundlich, vielen Dank.“, folgte Fabiola seiner Einladung und ließ sich auf einem der Stühle nieder. „Aber nur für einen kurzen Moment, bis meine Begleitung aufgeholt hat. Ich will mich nicht aufdrängen oder Eure Vorbereitungen stören. Was den Wein angeht: gerne einen kleinen, sofern Ihr mir Gesellschaft leistet.“ Wo Tsacceo und Pherica nur blieben. Am Ende hatten sie sich mit den Kindern verirrt. Oder ablenken lassen, beides auf die ein oder andere Weise nicht unwahrscheinlich. Wenn sie bis zum Ende des Weins nicht auftauchten, würde sie sie suchen gehen müssen.

“Es wäre mir eine Freude, Euch heute Abend auszuführen. Ich nehme an, Ihr lagert ebenfalls irgendwo in der Nähe? Darf ich Euch dann heute Abend nach den letzten Kämpfen abholen?” Die letzten Mahlzeiten hatte Algerio zwar im Lager eingenommen, und er hatte ehrlich gestanden keine Idee, wo diese Mahlzeiten hergekommen waren, aber er war zuversichtlich, dass er bis zum Abend eine zumindest brauchbare alm:Taberna auftreiben können würde. Immerhin waren hier sie hier im Herz des Reiches. Und wenn nicht - würde er improvisieren… Er wies Answin an, zwei Becher Wein zu holen, und setzte sich seinem Gast gegenüber.


Mit einem amüsierten Lächeln sah Fabiola ihr Gegenüber an. „Sehr zuvorkommend, Eure Einladung, Dom Algerio. Wenn es Euch keine Umstände oder Unannehmlichkeiten mit Euren anderweitigen Verpflichtungen bereitet, würde ich sie mit Vergnügen annehmen. Tatsächlich hat sich nicht allzuweit von hier noch ein Plätzchen für Zelte von Spätankömmlingen gefunden. Soll ich jemanden schicken, der Euch nachher den Weg weist? Ah, danke, Answin.” Sie nahm den Becher entgegen, wartete, bis ihr Gastgeber den seinen in der Hand hielt, um ihm zuzuprosten. „Auf Euren überraschenden, selbstlosen Vorschlag und einen angenehmen Abend.”

“Auf einen angenehmen Abend in angenehmer Gesellschaft”, erwiderte Algerio. Er hob den Kelch, trank einen Schluck. “Es wäre reizend, wenn Ihr jemanden schicken könntet. Oder ich entsende Answin, Euch zu begleiten. Ich muss zugeben, ich habe das Teilnehmerfeld unterschätzt - es sind doch wesentlich mehr Streiter hier, um sich zu messen, als ich vermutet hatte. Da kann man sich bei all den Zelten leicht verlaufen. Und bei diesem Gedanken: Ihr sagt, Ihr wartet darauf, dass Eure Begleitung aufschließt… bereitet sich Domna Luciana nicht auf die nächsten Lanzengänge vor?”

Fabiola war im Begriff, mit den Schultern zu zucken, als sie sich daran erinnerte, was sich gehörte. Also nippte sie an ihrem Wein und erwiderte im Tonfall höflicher Konversation: „Ich gehe davon aus, dass sie ihren heutigen Sieg feiert. Ich habe ihr am Morgen meine Aufwartung gemacht, viel Erfolg gewünscht. Ihrem Lanzengang beigewohnt, anschließend zum Sieg gratuliert, wollte dann aber nicht länger stören. Sie kennt einige der anderen Teilnehmer, daher gehe ich davon aus, dass sie entsprechende Einladungen oder Verpflichtungen hat. Ihr habt recht, es sind sehr viele Streiter anwesend. Umso beeindruckender ist ein Einzug in die Finalrunden.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln fügte sie hinzu, ihren Fächer gekonnt zum Einsatz bringend: „Verzeiht mir, Dom Algerio, wenn mir entfallen ist, Euch gegenüber die gleiche Rücksicht zu zeigen. Bei meiner verschollenen Begleitung handelt es sich im Übrigen um meine Familie.“ Suchend schweifte ihr Blick über den Trubel des Lagers in die Richtung, aus der sie gekommen war.


Für einen Moment blieb Algerios Blick am Fächer hängen… Erinnerungen kamen auf. Erinnerungen, die er sehr wertschätzte. Er grinste leicht, sich des Spiels bewusst werdend, das sie hier spielten - auf einer weiteren, neuen Ebene.

“Da gibt es nichts zu verzeihen”, erwidert er schließlich. “Es muss schön sein, mit der Familia zu reisen und um ihre Unterstützung zu wissen.”

Fabiola lachte auf. „Auch wenn meine Kinder selbstverständlich die hübschesten und klügsten des ganzen Kontinents sind, so weit, sie Unterstützung zu nennen, würde ich nicht gehen. Eher im Gegenteil.“

Auch Algerio musste bei dem Gedanken lachen. “Mindestens des Kontinents, wenn nicht ganz Deres”, ergänzte er augenzwinkernd, “sofern sie nach der Mutter kommen. Verzeiht, es ist noch ungewohnt für mich. Aber lasst mich Euch hoch offiziell zum Nachwuchs und der gesicherten Erbfolge beglückwünschen!” Er hob den Weinkelch erneut. “Auf Euren Nachwuchs. Mögen sie ein langes, glückliches und von den Göttern gesegnetes Leben führen, und ihre Mutter stets mit Stolz erfüllen.” Er nahm feierlich einen weiteren, etwas tieferen Schluck aus dem Kelch. Sein vergangenes Leben hatte ihn nicht gerade auf Momente wie diesen vorbereitet, und er war etwas unsicher, wie er sich zu verhalten hatte. Was der Etikette nach angemessen war. Selbst wenn er sich an seine Ausbildung erinnert hätte - was er nicht tat - er war sich sicher, Situationen wie diese hatten sie an der Lehranstalt für Reiterei nicht geprobt.

Tausend Fragen schwirrten durch seinen Kopf, doch hier, im Lager, vor den Zelten, war nicht der Ort oder die Zeit, sie zu stellen. “Ich freue mich, die beiden kennenzulernen”, war das einzige, was über seine Lippen kam. Ein aufrechtes, ehrliches Bekenntnis.

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„Ich habe NICHT versucht, die Kinder zu stehlen und zu verkaufen, du Dummkopf. Ich wurde gefragt, ob sie zu mir gehören. Da hab ich ja gesagt.” Phericas leicht genervte Stimme drang durch das geschäftige Treiben des Lagers. „Aber warum denn?” „Weil jede andere Antwort zu dummen Fragen und Verdächtigungen geführt hätte.“ „Du hast die Mundilla einem Fremden geben wollen!“ „Gar nicht! Wir haben uns nur unterhalten. Er hat nach ihren ‚süßen Locken’ gefragt. Da kam halt eins zum andern. Und jetzt gib sie mir wieder. Daanjelo fällt dir gleich runter.”

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Fabiola erwiderte Algerios Toast. „Vielen Dank für Eure Wünsche, ich weiß sie wirklich zu schätzen.” Ihr Ausdruck ließ keine Zweifel daran, dass sie ihre Worte ernst meinte. Ihr Blick wandte sich in eine Gasse zwischen den Zelten. Allerdings nicht jene, aus der sie gekommen war, sondern aus der die Stimmen zweier junger Leute drangen. Eine resolute junge Frau war gerade dabei, einem verdutzt dreinsehenden jungen Mann, der mit einem zappelnden Kind kämpfte, ein kleines Mädchen abzunehmen. „Euer Wunsch soll sogleich in Erfüllung gehen, Dom Algerio.”, schmunzelte Fabiola. Und war zum ersten Mal nicht sicher, ob die Wahl ihrer Begleitung so geschickt gewesen war, wollte sie doch bei ihrem Gegenüber keinen schlechten Eindruck hinterlassen.

Algerio folgte ihrem Blick und entdeckte die kleine Gruppe - unwillkürlich musste er an Ta’iro und dessen Kinder denken. “Das sind die jungen Herrschaften?”, fragte er an Domna Selea und erhob sich von seinem Stuhl, um ihnen ein Stück weit entgegen zu gehen „Ja. Natürlich nur die beiden Kleinen.“, bestätigte Fabiola, und sah ihm hinterher, den letzten Schluck Wein genießend.


“Die Zwölfe zum Gruße”, begrüßte Algerio die kleine Gruppe mit einem leichten Nicken des Kopfes in Richtung der jungen Frau und ihres männlichen Begleiters.

Die junge, aus der Nähe eher jugendliche, Frau musterte den Edlen kurz, bevor sie an ihm vorbei blickte, das Mädchen auf ihrer Hüfte absetzend. Mit der Linken machte sie eine verstohlene Geste. Der junge Mann, ebenfalls nicht älter als zwanzig Götterläufe, war vollauf damit beschäftigt, den zappelnden Jungen auf seinem Arm zu bändigen.

Dom Algerios Blick jedoch blieb schnell an den beiden Kindern hängen und wechselte zwischen diesen hin und her, unwillkürlich ihre Züge, ihre Gemeinsamkeiten analysierend. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, auch wenn sie einander nicht wie aus dem Gesicht geschnitten, Haar- und Augenfarbe leicht unterschiedlich waren. Beide trugen praktische Kleidung aus guten, aber nicht übermäßig teuren Stoffen, die wenig Rückschlüsse auf ihren Stand und ihre Herkunft erlaubten.

Ein seltsames Gefühl stieg in ihm auf und er merkte, wie er einerseits unsicherer, andererseits aber auch ruhiger wurde. Kinder waren etwas Großartiges. Schon oft hatte er seinen Zahori-Freund um die Schar seiner Nachkommen beneidet.

“Und auch Euch ein herzliches Willkommen, Eure Wohlgeboren”, flüsterte er in Richtung der beiden Kinder, ein glückseliges Lächeln im Gesicht. Der junge Mann beäugte den Edlen von Selkethal misstrauisch. Seine Begleiterin hingegen hatte ihre Aufmerksamkeit bereits Dom Algerios Gefolge gewidmet. Ihr Blick glitt abschätzend über Answin und die anderen. Als ihre Augen die des Pagen trafen,verharrte sie einen Augenblick, ließ ihm Zeit, in ihren dunklen Augen zu versinken. Dann schenkte sie ihm einen Aufschlag ihre langen Wimpern, die Andeutung eines Lächelns und beachtete ihn nicht weiter.


Ohne weiter darüber nachzudenken, wandte sich Algerio kurz an Domna Selea: “Darf ich?”, fragte er, auf eines der Kinder deutend. Bevor Fabiola reagieren konnte, reichte Pherica dem Edlen die kleine Phessanya. Nicht, ohne die Gelegenheit zu nutzen und Answin mit einer leichten Drehung ihres Körpers ihre Silhouette vorteilhaft zu präsentieren.


„Pherica! Du… Du tust es wohl!“, erhob Tsacceo empört Einspruch. Die junge alm:Zahori verdrehte die Augen. „Das ist kein Fremder, Dummkopf. Er war letzten Sommer Gast der Domna. Gib mir Daanjelo.“ Außerdem hatte Fabiola mit einer kleinen Geste ihre Frage beantwortet, ihren Segen gegeben. Kaum hatte sie den Jungen auf dem Arm, wurde er ruhiger.


Mit Domna Seleas Erlaubnis nahm Algerio behutsam eines der Kinder, hob es zu sich und besah es sich von nahem. Da Dom Tobor, Linje und Pagol, seine Nichten und Neffen, allesamt geboren worden waren in der Zeit, in der er fernab der Familie und ohne Erinnerung an sie umher gestreift war, war dies wohl das erste mal in seinem Leben, dass er ein Kind von Stand auf dem Arm hatte - aber letztlich unterschied es sich im Umgang auch nicht wirklich von Ta’iros Kindern, und so strahlte er wahrscheinlich mehr Routine aus, als er es selbst für möglich gehalten hatte.

Intuitiv suchte und fand er Gemeinsamkeiten zwischen den Gesichtszügen des kleinen Menschen auf seinem Arm und denen ihrer Mutter. “Na, meine Kleine. Schon so aufmerksam auf deiner ersten großen Reise?”

Während Dom Algerio in die Betrachtung ihrer Tochter vertieft war, trat Fabiola näher. Er schien sich mit Kindern auszukennen, etwas, das sie nicht erwartet hatte.

Das Mädchen schaute ihn groß und mit leicht offen stehendem Mund an - dann griff es mit kleinen, knubbeligen Händchen nach seinem Gesicht und hielt im Handumdrehen Algerios Augenklappe in den Fingern, die es fasziniert bewunderte.


„Phessa…“, tadelte Fabiola leise mit einem Schmunzeln, wohl wissend, wie sinnlos dies in diesem Alter war. Aber es half, ihr eigenes Lachen zu unterdrücken. „Das gehört sich doch nicht. Denk an die alm:Cortezza!“

Algerio, das rechte Auge, das sonst hinter der Augenklappe verborgen war, geschlossen haltend, lachte laut auf. “Oh, an dir scheint eine kleine Anhängerin des Fuchsgottes verloren gegangen zu sein!”, lachte er.

„Noch ist es nicht zu spät, vielleicht kommt sie nach ihrer Mutter.“, murmelte Fabiola neben ihm so leise, dass es kaum zu verstehen war. Überrascht stellte sie fest, dass er sein Auge nicht verloren zu haben schien, wie sie immer gedacht hatte. Eine spannende Frage für ein anderes Mal. Als sie sich Pherica zuwandte, um ihr Daanjelo abzunehmen, bemerkte sie Erstaunen auf den Gesichtern von Dom Algerios Leuten.
Sein Gefolge, allen voran Answin, der sich wie meistens in unmittelbarer Nähe zu seinem Herrn befand und dessen Blick stetig zwischen seinem Herrn und der jungen Frau aus dem Gefolge der Junkerin von Mestera hin und her gewandert war, schauten überrascht und ein Stück weit schockiert auf das Bild, das sich ihnen bot - noch nie hatten sie den Edlen des Selkethals ohne Augenklappe gesehen - nichtmal in den vertrautesten Momenten. Und es gab auch nicht viel zu sehen. Außer einem geschlossenen Augenlid. In einem nicht ungewöhnlichen Gesicht.


Derweil löste die Junkerin die Augenklappe aus dem Griff ihrer protestierenden Tochter und hielt sie lächelnd ihrem Besitzer hin. „Ich glaube, Ihr habt etwas verloren. Bedauerlicherweise nichts, dessen Rückgabe auf einen angenehmeren Rahmen warten kann.“ Eingehend musterte sie seine Züge. Der Anblick war ungewohnt.

Algerio grinste und nahm die Augenklappe, etwas umständlich im Versuch zu verhindern, dass das Kind auf seinem Arm erneut danach greifen konnte, entgegen. “Habt Dank.”


Ohne Anstalten zu machen das Kind herzugeben oder die Augenklappe wieder anzulegen, fuhr er fort: “Es scheint jedenfalls, als würde Tsa es gut mit Euch meinen. Ein Ortswechsel, neue Aufgaben, neue Bekanntschaften, und jetzt gleich zweifaches Mutterglück auf einen Schlag - all das innerhalb weniger Monde. Ihr führt ein wahrhaft aufregendes Leben, Domna Selea.”

„Ich gebe mir Mühe, Dom Algerio. Langeweile ist etwas schreckliches. Je nach Anlass reise ich durchaus gern. Und die Welt ist so bunt, hat so viel Aufregendes zu bieten. Findet Ihr nicht auch?“ Ein verschmitztes Glitzern in den Augen lächelte sie ihn an. Algerio nickte, grinsend. “Das stimmt wohl.”

„Doch nun sollten wir Euch nicht länger in Euren Vorbereitungen stören. Vielen Dank für die Gastfreundschaft. Ich schicke dann später Tsacceo, um Euch den Weg zu weisen.“

Neben ihr schnaubte Pherica abfällig. „Der verirrt sich doch beim Austreten.“ Sie warf dem Pagen Answin einen verstohlenen Blick zu, der ihr, sein charmantestes Lächeln auf den Lippen, zuzwinkerte. Einen Moment erwiderte sie das Lächeln, bevor sie vortrat, um das erste der Kinder in Empfang zu nehmen.

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