Geschichten:Die Oberhartsteen-Frage - Zwei Antworten
Schloss Auenwacht, Anfang Travia 1046 BF
Heiteres Gelächter erscholl zwischen den adrett geschnittenen Ulmen durch den hinteren Teil des Schlossparks. Die kleine Sitzgruppe der steinernen Findlinge, in die kunstfertig die symbolischen Embleme der Grafschaften Garetien aus der Zeit Bodars eingearbeitet waren, lag vergessen und weit entfernt von den ausgetretenen Pfaden des Parks, den in diesen Tagen so viele Adlige des Königreiches unter verschwörerischen Mienen und heiserem Flüstern begingen. Die männliche – kräftig, rau und lebendig – wurde begleitet von zwei weiblichen Stimmen. Die erste klang wie das heitere fröhliche Zwitschern eines exotischen Vogels aus einem fernen Land, melodisch und voller Menschlichkeit; die zweite Frauenstimme dagegen kontrolliert, wie das Lied eines Schiffers auf dem Weg zurück in den heimischen Hafen.
»Sein Gesicht hättet ihr sehen müssen, Heiterfeld, als er es schließlich erfahren hat, der alte Griesgram«, amüsierte sich der Graf von Hartsteen über seine eigene Erzählung. Er saß breitbeinig auf dem Findling mit dem Hartsteener Igel. Es war eine alte Schnurre aus seiner Kindheit, eine unwichtige Episode über einen harmlosen Streich gegen einen seiner alten Erzieher und Lehrmeister. Fröhlich fielen seine Gattin Niope vom See auf dem Reichsforster Stein und ihre Begleitung Emer von Heiterfeld ins Gelächter ein. Sie streckte sich entspannt auf dem Eslamsgrunder Stein aus.
Der Hartsteener Graf hatte sich aus den Geschäften des Adels herausgehalten. So wenig hatte er Interesse an dieser Zusammenkunft, dass er sich, nach zwei ersten, noch recht ernsthaften und unentschiedenen Anritten auf Augenhöhe absichtlich in der dritten Runde von seiner Kontrahentin hatte aus dem Sattel stoßen lassen – oder besser: die Gelegenheit genutzt hatte, um sich von seinem Pferd hinab in den Staub des Turnierplatzes fallen zu lassen. Ein überraschtes Raunen war da durch das Publikum gegangen, dass er, dessen Turnierritt vor drei Götterläufen das Blutige Jahr begonnen hatte, sang- und klanglos gegen eine zwar ehrgeizige, aber eher unbekannte Turnierreiterin verloren hatte. Später hatte er nach seiner Gegnerin schicken lassen, um sich für sein unfaires Verhalten zu entschuldigen, aber Emer von Heiterfeld schlug die Entschuldigung aus und hatte ein gemeinsames Frühstück im Schlosspark zusammen mit der Gattin des Grafen gefordert.
Die so entstandene Bekannt- oder gar Freundschaft hatte keinen politischen Zweck, verfolgte keine rahjanischen Absichten oder einen hesindianischen Austausch überlegener Geister. Für Graf Odilbert war es eine Ablenkung von dieser Adelsversammlung, der er nur das Minimum seiner Zeit zu opfern bereit war. Die Heiterfeld war obendrein eine unterhaltsame und selbstbewusste Frohnatur, die niemand wirklich nachtragend schien.
»Bruder, auf ein Wort.«
Abrupt endete die fröhliche Stimmung und der Schatten einer Praios-Geweihten verdunkelte den Platz vor dem Findling mit dem Waldsteiner Wappen. Begleitet wurde Solaria von Hartsteen, wie sich die Schwester des Grafen seit ihrer Weihe nannte, von der trotz seines nicht mehr jugendlichen Alters noch immer geschmeidigen Gestalt des Pfalzgrafen zu Sertis, der die letzten Tage in schwarzem Frack und weißem Rüschenhemd zahlreiche Gespräche – offene und heimliche – geführt hatte.
»Kommt, Emer«, hakte sich Niope vom See bei der Kaisermärker bzw. Waldsteiner Ritterin unter, »das Haus Hartsteen findet sich zu einem konspirativen Familientreffen ein und es ist besser, wenn wir unbedarfte Ohren nun den Platz freimachen.«
Die Gemahlin des Grafen wusste, was ihre Rolle war. Sie spürte den brennenden Blick der Grafenschwester und die lüsternen Augen des Pfalzgrafen, der immer auf der Suche nach einem neuen amourösen Abenteuer war. Sie würde dafür sorgen, dass sich niemand der Gruppe nähern würde und dem Gespräch lauschte.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte der Graf mit einem tiefen Seufzer, als sie alleine waren. Pfalzgraf Trisdhan hatte es sich auf dem Findling der Kaisermark gemütlich gemacht, während es Solaria vorzog in ihrem weißen Geweihtengewand stehen zu bleiben.
»Schwingenfels und Steinfelde haben seine königliche Durchlaucht im Namen der Hartsteener Ritterfamilien vor dem gesamten versammelten Adel aufgefordert, sich in der Frage um die Baronie Hartsteen zu positionieren«, erklärte die Geweihte des Praios mit scharfer Betonung. Ihre Stimme bebte leicht, so dass Odilbert klar verstand, dass seine Schwester zutiefst verärgert war.
»Nun, warum auch nicht? Das ist doch ihr gutes Recht«, winkte der Graf ab. Er versuchte noch zu verstehen, was genau den Ärger seiner Schwester hervorgerufen hatte. »Hartsteen ist eines der beiden Stammlehen der Familie. Ich hatte nicht vor, es sang- und klanglos an die Schlunder Schranzen um Graf Ingram abzutreten.«
»Die Wortmeldung ist nicht förderlich in dieser Sache«, setzte Solaria an, wurde aber von Pfalzgraf Trisdhan unterbrochen. »Verzeiht, Euer Gnaden, aber seit wann lehnt es eine Dienerin des Götterfürsten ab, dass die Gesetze, die in dieser Angelegenheit doch klar für unsere Sache sprechen, eingehalten werden?«
»Klar ist nur der Bannstrahl Praios. Die Auslegung des Rechts dagegen bedarf Klugheit, Mut und Weitsicht. Also genau die Tugenden, die Ihr nicht Euer Eigen nennen könnt, Pfalzgraf.« Solaria blickte Trisdhan mit feuernden Augen an. »Gebt es doch zu: Ihr steckt hinter dieser törichten Idee und habt Steinfelde und Schwingenfels diese Grille in den Kopf gesetzt.«
Trisdhan von Hartsteen lächelte breit und blickte gelassen zwischen dem Graf und seiner Schwester hin und her. »Ihr versteht nichts von Politik, Euer Gnaden. Ihr glaubt, mit Euren frommen Geschichten aus dem Greifenfurter Tempel versteht Ihr, wie Dere funktioniert. Im Abstrakten und Allgemeinen mag es sich so verhalten wie Eure Codizes und Gesetzesauslegungen es Euch erzählen. Die Wahrheit ist aber, dass im Einzelfall um jede Entscheidung gerungen werden muss. Niemand schenkt dem anderen etwas. Man muss es sich nehmen, mit Kraft, mit List, mit Hilfe von Verbündeten. Wer wartet, der wird am Ende auf der langen Bank sitzen bleiben, bis die Tore geschlossen werden, und muss leer, ohne jede Entscheidung nach Hause gehen.«
»Ihr versteht nichts von Menschen, Pfalzgraf«, entgegnete die junge Praiotin hart. »Lockere und willige Weiber mögt Ihr ins Bett locken können, aber die Ambitionen und Vorstellungen hinter menschlichen Entscheidungen vermögt ihr nicht zu entschlüsseln. Mit dem Schritt, dem Großfürsten die Entscheidung über die Oberhartsteen-Frage zu überlassen, haben wir das Momentum in dieser Sache aus der Hand gegeben und sind auf den guten Willen eines Dritten angewiesen, der keinen Grund hat uns etwas Gutes zu tun.«
Trisdhan schüttelte den Kopf. »Oh, nein, Euer Gnaden. Ich verstehe die Menschen sehr wohl. Seine königliche Durchlaucht, nun unter Zugzwang als eine seiner ersten Handlungen als Großfürst eine schwere Entscheidung zu treffen, wird nicht wagen die kaltblütige Politik seiner kaiserlichen Tante fortzusetzen. Wenn er die Herzen des Adels im Königreich und den beiden Markgrafschaften gewinnen will, dann wird er sich um einen guten Ausgleich bemühen, der ihn selber als fähigen Vermittler darstellen wird. Er wird weder den Schlund noch Hartsteen durch eine unbedachte Entscheidung vor den Kopf stoßen, weil der Großfürst darauf angewiesen ist, dass die Menge ihn als wahren klugen Herrscher bejubeln wird.«
»Ich hoffe, für die Grafschaft Hartsteen, unser Haus und Eure Seele, dass Euer Glücksspiel in dieser Angelegenheit keinen größeren Schaden anrichten wird«, entgegnete die Geweihte mit kalter Stimme.
Der Graf hob die Hand zum Zeichen, dass beide verstummen sollten. »Ich verstehe nun die Angelegenheit. Ich billige nicht, dass du, Trisdhan, ohne meine Einwilligung als Haupt der Familie einen derart kühnen und risikoreichen Schritt unternommen hast. Dergleichen kommt nicht wieder vor.« Der Getadelte verzog keine Miene. »Aber, teure Schwester, wir werden unseren Vasallen nicht in den Rücken fallen und ihr Anliegen nachträglich zurückweisen. Stattdessen werden wir darauf verweisen, dass es wider den Codex Raulis ist, wenn zwei Personen sich Baron von Hartsteen nennen und eine Entscheidung getroffen werden muss. Ich werde nicht ohne Weiteres auf das Recht meiner Tochter Rondirai auf die Baronskrone verzichten. Dies schulde ich der Reihe an Ahnen, deren Willen und Anspruch ich vor dem Grafen vom Schlund und der Debrekskrone zu vertreten habe.«
»So sei es«, nickte Solaria und verbeugte sich vor ihrem Bruder. Der Pfalzgraf von Sertis lächelte breit und siegesgewiss. Es ging ihm schon längst nicht mehr um die Belange der Familie. Er hatte eine neue Witterung aufgenommen, und wie ein Jagdhund hatte er seine Nüstern aufgemacht und den Geruch der Heiterfelder Ritterin in sich aufgenommen. Sein Spieltrieb war geweckt worden.
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