Geschichten:Vögtin anstelle der Vögtin
Geldana hatte es bereits vor einigen Wochen gespürt; in den letzten Tagen aber war ihr Gefühl zur Gewissheit geworden: Der Hof des Markgrafen stand vor großen, ja einschneidenden Veränderungen. Veränderungen, bei denen ihre Familie wohl zu den Verlierern gehören dürfte. Die Adlige hatte sich zunächst – genau wie ihr Großvater Zordan – dagegen gewehrt, diese bittere Erkenntnis zu akzeptieren. Aber die Zeichen waren zu häufig, zu offensichtlich, als dass man sie hätte ignorieren können. Wie sich die Dinge wohl entwickelt hätten, wenn dem Familienpatriarchen noch einige Götterläufe mehr bei guter Gesundheit vergönnt gewesen wären ...? Die Frau schüttelte sich kurz und rief sich innerlich zur Ordnung. Derlei Gedankenspiele waren nicht nur unnütz, sondern nachgerade gefährlich, wenn man darüber den Blick auf die Realitäten verlöre! Eigentlich war schon ab dem Bekanntwerden der Erkrankung des Seneschalls abzusehen gewesen, dass die Tage der Rabicums als erste Familie bei Hofe gezählt waren – auch und gerade der vielen Mitleidsbekundungen zum Trotze. Das Rudel sah die Schwäche des Leitwolfs und verlor keine Zeit, um sich diese zunutze zu machen.
Wer immer ihrem Großvater auch als Seneschall nachfolgen mochte, behielte wohl kaum dessen Enkelin als Secretaria in seinen Diensten. Sie selbst täte es jedenfalls nicht. Nach einem längeren Gespräch mit dem Familienoberhaupt – es schmerzte sie immer wieder aufs Neue, ihn so malad und hilflos zu sehen – galt es nun, die beiden drängendsten Probleme möglichst zeitnah in Angriff zu nehmen: Sicherzustellen, dass die Familie ihre Posten und damit Einfluss bei Hofe nicht gänzlich verlor und zugleich wieder die direkte Kontrolle über Bergthann zu übernehmen. Um ersteres kümmerte sich Geldana selbst, bei letzterem gedachte sie, die Hilfe ihres Vaters in Anspruch zu nehmen, der für subtilere Aufgaben, die ein gewisses Maß an Planung, Fingerspitzengefühl und Geduld erforderten, allenfalls bedingt geeignet war.
„Wie schön, dass Du so rasch aus Perricum nach Thannfest kommen konntest, Vater! Ich brauche Deine Hilfe.“, begann sie ohne große Vorrede, kaum, dass Rukus im Sessel ihr gegenüber Platz genommen hatte.
„Na, wenn Du ohne Umschweife direkt zur Sache kommst und zudem um meine Hilfe bittest, muss es ja wirklich arg sein.“, erwiderte er trocken. „Aber gib´ mir bitte noch einen Moment, mir steckt noch das Gespräch mit Deinem Großvater vorhin in den Knochen. Es ist immer noch schwer, ihn so zu sehen.“, schloss er mit einem bitteren Zug um den Lippen.
Geldana nickte kurz, während sich ihr Vater ein Glas Wein einschenkte und dann wieder Platz nahm.
„Ja, das ist es. Es versetzt mir jedes Mal einen Stich. Allein, es hilft ja alles nichts. Ich komme auch gleich zur Sache, Vater. Dass die Geier zumindest politisch schon in Scharen um unseren Oheim und damit auch um uns kreisen, weißt Du ja bereits. In Abstimmung mit Großvater werde ich natürlich – auch in Deinem Sinne – versuchen, zu retten, was zu retten ist, aber machen wir uns nichts vor, der Posten der Seneschallin oder ein anderes hohes Amt wird für mich nicht mehr infrage kommen. Darüber zu lamentieren bringt nichts; es ist wie es ist.“
Rukus nickte nur stumm. Er kannte die Ambitionen, aber auch die vielfältigen Talente seiner Tochter und konnte sich gut ausmalen, wie schwer sie diese Erkenntnis – welche auch die seine war – traf. War er auch beileibe nicht immer einer Meinung mit seinem Spross gewesen, so hatte er ihren scharfen Verstand und ihre Ambitionen doch immer mit väterlichem Stolz betrachtet.
„Da, wie gesagt, mir am Hofe schon allein ob des Umstandes, Zordans Enkeltochter zu sein, keine Zukunft beschieden sein wird, bin ich mit ihm übereingekommen, wieder die Verwaltung der Baronie übernehmen, wofür ich allerdings gerne Deine Hilfe in Anspruch nähme.“
„Wozu? Die Klingweiler kann doch leicht mit einem simplen Federstrich meines Vaters ab- und Du an ihrer statt neu eingesetzt werden. Was will sie denn dagegen tun? Lautstark protestieren? Dich gar zum Duell fordern?“
„Für Unruhe sorgen. Egal, ob gewollt oder nicht.“, erwiderte Geldana lakonisch. „Gewiss, gegen ihre Absetzung wird sie nichts machen können, aber womöglich würde sie aufmüpfig. Jetzt, wo sich der Wind in Perricum gedreht hat und uns direkt ins Gesicht bläst, könnte die Frau und mit ihr der übrige Kleinadel Bergthanns sich dazu ermuntert fühlen, ihre Grenzen auszutesten und gegebenenfalls auszuweiten. Wir können gerade derzeit keinerlei Unruhe, kein Zeichen der Schwäche gebrauchen, das uns bei dem Versuch, einen auch noch so geringen Einfluss bei Hofe zu bewahren, in die Quere kommen könnte. Der Unmut der Vasallen könnte sonst leicht zur Reichsstadt dringen und uns dort noch schwächer dastehen lassen, als es ohnehin schon der Fall ist. Ganz abgesehen davon, dass einer unserer vielen Gegner sich dies gezielt zunutze machen könnte.
Nein, ich möchte, dass dieses ‚Problem‘, final gelöst wird, natürlich zu unserem allfälligen Bedauern. Wie man hört, macht in der Perrinmarsch zuweilen eine Räuberbande von sich reden ...“
Rukus grinste breit, als er zu einer Antwort ansetzte. „Ganz im Gegensatz zu Bergthann. Ich verstehe und werde alles Nötige mittels einiger guter Freunde veranlassen.“
„Sehr schön. Ich werde derweil hier alles Erforderliche in die Wege leiten. Eines noch: Ich habe gestern eine Depesche von Welferich erhalten. Er kündigt darin sein baldiges Kommen an und möchte dann mit uns wichtige Angelegenheiten die Familie und Bergthann betreffend, erörtern.”
“Pah, unser Oheim ist noch nicht einmal tot und schon plant der Fatzke, wie er sich die Baronie und das Patronat über unsere Familie unter den Nagel reißen kann. Und jetzt sag´ mir bitte nicht, dass das nicht seine Absicht ist, Geldana!”
Die Angesprochene schaute kurz ein wenig betreten zu Boden, bevor sie erwiderte: “Du magst ja recht haben, aber er ist immerhin der rechtmä-”
“Ich weiß, was er ist, Tochter!”, unterbrach er diese rüde. “Und zwar in jeder Hinsicht.”
Nach einer kurzen Pause erhob sich der erste Ritter der Provinz, leerte sein Glas und wandte sich zum Gehen. Dann verharrte er für einen Moment und sprach. „Du hättest wirklich eine vorzügliche Seneschallin abgegeben, Kind.“
„Ich weiß, Vater.“