Geschichten:Aussprachen und Absprachen
Mit kaum verhohlenem Missmut hatte Rukus die Ankunft seines Neffen Welferich auf Burg Thannfest beobachtet, neben ihm seine Tochter Geldana, deren Miene keinerlei Ausdruck zeigte.
„Da ist er, der große Hoffnungsträger unserer Familie und Bergthanns!“, sprach der Erste Ritter Perricums mit spöttischem Unterton zu seiner Tochter. „Und wahrscheinlich hat er seinen Kopf schon voller großartiger Ideen!“
„Vater, bitte! Ob es uns gefällt oder nicht: Wir brauchen ihn, wenn wir in Perricum nicht völlig an Einfluss verlieren wollen, mal ganz abgesehen davon, dass wir erst einmal die Zügel in unserer eigenen Baronie wieder fest im Griff bekommen müssen. Also versuche nicht jetzt schon, alles an Porzellan zu zerschlagen, das Du finden kannst – auch wenn Welferich Dir dabei sicherlich gerne hülfe.“, schloss Geldana mit einem leichten Grinsen.“
„Hmpf.“
„Das nehme ich als ein ‚ja‘, Vater.“
Nach einer reichlich unterkühlten Begrüßung, bei dem Onkel und Neffe aber zumindest nach außen hin die Form zu wahren wussten, trafen sich die drei Rabicums einige Stunden später zum gemeinsamen Abendessen wieder, an dem auch das leidgeprüfte Oberhaupt der Familie teilnahm. Um sich offen aussprechen zu können, hatte man nach dem Auftragen der Speisen alle Bediensteten fortgeschickt und so war es an Geldana, sich um ihren Großvater zu kümmern und zugleich dafür zu sorgen, dass sich ihre Anverwandten zumindest ansatzweise ihren Stellungen entsprechend benahmen.
Welferichs Betroffenheit, ja geradezu Bestürzung beim Anblick des maladen Patriarchen ließ ihn für einen Moment innehalten. Der ausgezehrte Körper, der schlaff auf der Tischplatte ruhende Arm, das wächsern und seltsam unbewegt wirkende Gesicht, hatten kaum noch etwas mit dem zwar schon alten, aber immer noch energiegeladenen und energischen Mann früherer Tage gemein. Lediglich Zordans wache Augen verrieten, dass dieser fast schon bemitleidenswerten Hülle immer noch ein scharfer Verstand innewohnte.
Dieser erschreckende Anblick hielt Welferich jedoch nicht davon ab, nach einem kurzen Moment des Sammelns, mit den anderen beiden Anwesenden zunächst hart ins Gericht zu gehen.
„Wie konntet ihr euch so überrumpeln lassen? Ich dachte, Geldana, Du hättest Dich bei Hofe gut in Position gebracht und unsere Gegner ebenso gut im Blick! Und jetzt das! Wie ich gehört habe, hat der Markgraf nun diese Alxertis zur neuen Seneschallin bestallt und für unseren Oheim nur ein paar schale Worte des Danks für seine langjährigen Dienste übriggehabt! So weiß nun jeder Simpel, dass wir bei ihm mehr oder weniger in Ungnade gefallen sind. Und Du, Onkel, hättest Deinen Posten als Erster Ritter am Hofe viel stärker für unsere Familie zu nutzen verstehen müssen. Ich hatte euch damals schon gewarnt, dass das Pack wie Hyänen über uns herfallen wird; ihr aber habt nichts dagegen unternommen. Danke für Nichts!“
„Du nimmst den Mund aber reichlich voll, Neffe!“, konterte Rukus mit zunehmendem Zorn in der Stimme. „Erst treibst Du Dich fast durchgehend in Tobrien herum, von ein paar heimatlichen Stippvisiten einmal abgesehen, kümmerst Dich hier um nichts und besitzt dann auch noch die Dreistigkeit, meiner Tochter und mir Vorwürfe zu machen! Du musst Dich schon entscheiden: Perricum oder Tobrien! Beides geht nicht!“
„Was glaubst Du, wer Du bist, so mit mir zu reden?“, kam es ebenso verärgert zurück. „Onkel hin oder her, aber Du vergisst offenbar, wo Dein Platz-“
Geldana wollte sich gerade erheben und versuchen, die Gemüter zumindest ein wenig zu beruhigen, doch kam ihr jemand anderes zuvor.
Unbeachtet von den übrigen Anwesenden hatte sich Zordan mit einer enormen Kraftanstrengung aus seinem Stuhl erhoben und fegte mit dem noch gesunden Arm seinen Weinpokal vom Tisch, welcher mit einem lauten Scheppern zu Boden fiel. Davon erschrocken, wandten sich die beiden anderen Männer ihrem Familienoberhaupt zu, welches sie mit einem ebenso durchdringenden wie zornigen Blick bedachte und damit schlagartig zum Verstummen brachte. Langsam nahm der Alte wieder Platz, winkte seine Enkelin zu sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Geldana nickte ihm kurz zu und wandte sich dann an die beiden Hitzköpfe.
„Ich soll euch von unserem Oheim etwas ausrichten“, sprach sie mit beinahe tonloser Stimme, „nur ein Wort: ‚Einigkeit‘!“
Onkel und Neffe blickten erst einander, dann den Patriarchen an und nickten danach beinahe im Gleichklang.
Geldana nutzte die Gunst der Stunde, um nun selbst die Gesprächsführung zu übernehmen. Mit den beiden Streithähnen war sonst ja kein Staat zu machen.
„Es bringt uns hier und jetzt nicht weiter, darüber zu diskutieren, wer wann was warum gemacht oder nicht gemacht hat.“, begann sie ruhig, aber bestimmt. „Konkret muss es uns darum gehen, die Zügel hier in Bergthann wieder anzuziehen und zu verhindern, politisch in Perricum völlig in die Bedeutungslosigkeit zu versinken. Zumindest darin sind wir uns alle einig. Das erste können wir hier und jetzt klären, das zweite erfordert einiges mehr an Zeit und Arbeit. Aber sei versichert, Vetter, dass ich und unsere noch verbliebenen Verbündeten bereits alles daran setzen, auch in Zukunft noch eine gewisse Rolle bei Hofe spielen zu können.
Wie Du schon mitbekommen hast, Welferich, ist Aldruna von Klingweiler unlängst in der Perrinmarsch einem Raubmord zum Opfer gefallen.“, führte sie weiter aus, wohlweislich die wahren Hintergründe erst einmal für sich behaltend. „Nun gilt es, ihre Nachfolge zu regeln, zum einen, um unseren Oheim diese Last weitgehend abzunehmen, zum anderen, um den Landadel Bergthanns wieder in die Spur zu bringen. Großvaters Erkrankung und seine Entlassung haben diese Wichte aufmüpfig werden lassen, wittern sie doch nun Morgenluft und beginnen, uns für schwach zu halten. Dem müssen wir entschieden entgegentreten. Das sollte auch Dir, Welferich, entgegenkommen, damit Du, wenn der Baronsreif und das Patronat über unsere Familie in vermutlich nicht allzu ferner Zeit an Dich übergehen werden, ein wohlgeordnetes und straff geführtes Lehen übernehmen kannst. Gerne bin ich bereit, bis auf Weiteres wieder die Verwaltung der Baronie zu übernehmen. In den Zusammenhang wäre es auch wichtig zu erfahren, wie Deine Planungen bezüglich Deines tobrischen Lehens aussehen.“
Welferich hatte den Ausführungen seiner Base schweigend, aber durchaus aufmerksam gelauscht und wirkte nach dem ‚Weckruf‘ Zordans nun deutlich ruhiger.
„Was Ulrath angeht, so stehe ich mit der herzoglichen Administration hierzu bereits im Austausch. Perspektivisch werde ich den Baronsreif an Rondrigan weitergeben und nach Perricum zurückkehren, um mich verstärkt um die Interessen unserer Familie sowie Bergthann kümmern zu können. Und um Deine ungestellte Frage gleich mitzubeantworten, Geldana: Soweit es mich betrifft, kannst Du gerne wieder als Vögtin unserer Baronie amtieren, zumindest solange, bis mir die Herrschaft darüber zufällt, dann sähen wir weiter. Aber momentan bist Du wohl am besten dazu geeignet, hier wieder für Ruhe zu sorgen und unsere Vasallen auf ihre Plätze zu verweisen. Ich selbst werde mich in der Zwischenzeit auf meine Rollen als Baron und Familienoberhaupt vorbereiten, damit es, wenn es soweit ist,“, hier blickte Welferich ein wenig betroffen zu seinem Großvater hinüber, „einen reibungs- und verzugslosen Übergang geben wird.“
Geldana nickte zustimmend. Ihr war klar, dass ihr Vetter spätestens mit seiner Einsetzung als Baron das Zepter selbst in die Hand nähme und für eine Vögtin weder eine Notwendigkeit noch eine Verwendung sähe. Aber wer mochte schon wissen, was die Zukunft für sie und ihre Anverwandten bereithielte?
„Ich danke Dir, Vetter. Sobald Du endgültig aus Tobrien zurückgekehrt bist, werde ich Dich selbstverständlich in alle Angelegenheiten die Baronie und die Familie betreffend mit einbeziehen und unterstützen; mein Vater wird es gewiss ebenso halten. Nur gemeinsam“, wiederholte die alte wie neue Vögtin und schaute den beiden Streithähnen fest in die Augen, „werden wir in Bergthann und in der Provinz bestehen und weiter eine Größe sein können, mit der man rechnen muss.“
„So soll es sein und so werden wir es halten.“, pflichtete Rukus seiner Tochter bei. Dass Welferich hier in absehbarer Zeit das Sagen haben würde, behagte ihm noch immer nicht, doch auch er musste einsehen, dass sein wenig geliebter Neffe der kommende Mann war. Vermutlich eher früher als später träte er in die übergroßen Fußstapfen des siechen Familienpatriarchen. Daher spielte Zwietracht untereinander letztlich nur ihren vielen Gegnern in die Hände.
Erneut erhob sich Zordan unter Mühen aus seinem Stuhl, blickte seinen Anverwandten der Reihe nach fest in die Augen und nickte ihnen zu. Es war beschlossen.