Geschichten:Schimpf und Schande - Teil 9
Die alleinige Macht
Grafenpalas zu Hirschfurt, Ende Firun 1033 BF
Die Pferde der drei Reiter hatten ihre arge Mühe, sich den Weg durch den Schnee zu bahnen. Besonders schnell kamen sie daher nicht voran, und so dauerte es fast zwei Tage, bis sie Hirschfurt erreichten. Notgedrungen hatten sie knapp hinter der Grenze nach Schwanenbruch in einem Gasthaus übernachtet, und Wulf war wenig begeistert davon, dass ihm das Wetter einen derartigen Strich durch die Rechnung machte. Andererseits hatte ihm die Zwangspause einen weiteren Tag verschafft, an dem er sich sein bevorstehendes Gespräch mit dem undankbaren Vetter wieder und wieder im Geiste ausmalte und Argumente sammeln konnte.
Wenig begeistert war auch Gerban, der rechtererhand von ihm ritt. Im Sommer war es soweit, dass der Junge seine Knappenzeit herumgebracht hatte und den Ritterschlag erwarten konnte, doch das Gesicht, dass er eben zog, sprach Bände. Gerade die hohen Dinge der Staatskunst hingegen waren seine Sache nicht, und dies war einer der Gründe, weshalb sein Schwertvater ihn mit auf diese Reise genommen hatte – um zu lernen, dass man manchmal auch den Dingen nachgehen musste, zu denen man aus anderen Gründen gerade nicht unbedingt Lust hatte.
Jessa Al Tern, die Leibwächterin des Baron, ritt mit stoischer Ruhe wortlos zu seiner Linken und verzog keine Mine. Die Korgeweihte war extreme Situationen gewohnt und ließ sich auch vom kalten Winterwetter nicht unterkriegen. Nun aber lagen die Tore Hirschfurts vor Ihnen, und zumindest innerlich waren die Drei froh, das Ziel ihrer Reise erreicht zu haben. Gerbans Mine merkte man die Erleichterung denn auch deutlich an. Schmunzeld nahm Wulf den Gesichtsausdruck seines Knappen zur Kenntnis. Tatsächlich hatte er nicht vor, den Jungspund später mit zur „Audienz“ beim Grafschaftsrat zu nehmen; dass er diese Reise mitmachte sollte ihm den letzten Schliff verpassen, in der Hoffnung, das der Bengel endlich begreifen würde, dass ein Lehnsnehmer sich auch um andere Dinge als die edlen ritterlichen Tugenden zu kümmern hatte, denen Gerban in seinen Ansichten immer nachhing. Schließlich würde der Knabe einstmals selbst das elterliche Lehen erben, und Gerbans Vater erwartete mit Sicherheit eine ebenso gute Ausbildung auf Burg Greifenklaue, wie er sie selbst genossen hatte; immerhin war er seinerzeit Knappe von Wulfs Vater gewesen. Insofern hatte Wulf selbst den Wunsch kaum ablehnen können, Gerban zum Knappen zu nehmen, zumal die Hallersteins seit Jahrhunderten mit dem Haus Streitzig freundschaftlich verbunden waren.
Als sie den Marktplatz erreichten nahem sie Quartier in einem Gasthof. Gerban bekam die Einweisung, das Gepäck auf die Zimmer zu schaffen und kam dieser Aufforderung mit säuerlicher Mine nach. Wulf hingegen blickte vielsagend zum Grafenpalas hinüber.
»Ich nehme an, es wird wieder ein abendlicher Besuch.« Jessas Worte klangen wie eine Feststellung und sollten dies wohl auch sein. Seine Leibwächterin hatte ihn auf allen Besuchen in Hirschfurt begleitet, seit er die Abmachung mit Coswin getroffen hatte, die ihnen beiden zum Vorteil gereichen sollte. Und in den Abendstunden herrschte im Grafenpalas nur noch wenig Leben, umso geringer war die Gefahr, dass unliebsame Ohren etwas von seinem Besuch und dem Grund dafür mitbekamen.
»Sicherlich.« Wulf antwortete auffallend einsilbig. Gemeinsam betraten sie das Gasthaus und begaben sich auf ihre Zimmer.
Mit dem Einbruch der Dämmerung machte sich Wulf, flankiert von Jessa, auf zu seiner abendlichen Überraschungsaudienz. Gerban hatte er die Erlaubnis erteilt, sich – so er mochte – noch ein wenig ins abendliche Treiben der Reichsstadt zu stürzen, ihm aber eingeschärft, es nicht zu bunt zu treiben. Dies hatten den Knappen zwar zunächst verwundert, schien dann aber doch gut anzukommen.
Im Schatten der Arkaden betraten sie schließlich das gräfliche Herrschaftsgebäude, klopften den Schnee von den Stiefeln ab. Jessa hielt sich im Hintergrund, als Wulf ohne anzuklopfen die Tür zur Amtsstube des Grafschaftsrates öffnete und eintrat; Jessa huschte hinterher.
Der Raum war leer. Hämisch lächelnd näherte sich der Baron von Uslenried der Schreibtisch, derweil er seiner Leibwächterin bedeutete, die Tür zu schließen. Jene tat wie geheißen und verharrte dahinter, so dass sie niamnd sofort sehen konnte, der nun den Raum betreten mochte.
Der Schreibtisch wirkte, als sei er nur kurz verlassen worden, und auch die Kerzen auf den Leuchtern brannten noch. Wulf ließ sich auf dem Lehnstuhl des Grafschaftsrates nieder und durchblätterte die Papiere, ohne jedoch etwas Interessantes zu finden. Also zog er die Schubladen auf, schaute auch hier in die ein oder andere Mappe und lehnte sich schließlich zurück, um auf seinen Vetter zu warten.
Wenig später öffnete sich den auch die Tür, und Coswin von Streitzig, Grafschaftsrat der Grafschaft Waldstein, trat ein. Erst auf den zweiten Blick gewahrte er den Baron, während die Türe gerade ins Schloß fiel; ein wütender Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht.
»Was macht Ihr hier?« fragte er mit mühsam beherrschter Stimme und eilte seinem Platz entgegen; Jessa hingegen trat an die Tür heran und schob leise den Riegel vor.
»Was tue ich hier. Hm. Die gleiche Frage könnte ich Euch stellen.« entgegnete Wulf, der keine Anstalten machte, den Stuhl zu räumen, obwohl Coswins Blicke ihn deutlich dazu aufforderten. »Vielleicht könnt ihr Euch den Grund meines Besuches ja denken. Sagt Euch der Name Leihenbutt etwas?«
Coswin zuckte zusammen. Sollte seine Depesche beim Schroeckh derart schnell auf fruchtbaren Boden gefallen sein und schon Früchte getragen haben? Noch hatte er keine Kunde aus Gareth erhalten, und wenn dem so war, schien sein Vetter weitaus besser Informiert zu sein. Also gab er sich unwissend. »Sicher, die Lande nördlich der Euren, Nimmgalf von Hirschfurten zum Lehen gegeben.«
»Gegeben gewesen«, korrigierte ihn Wulf.
»Wie meinen?« Coswin spielte das Spiel weiter.
»Oh, ich dachte, Ihr wüsstet es bereits. Seine Exzellenz der Staatsrat hat namens der Königin seiner Hochgeboren Nimmgalf von Hirschfurten das Lehen Leihenbutt entzogen.«
Coswin gab sich überrascht, was er in gewisser Hinsicht auch war; mit einer derart schenllen Reaktion Schroeckhs hatte er nun wahrlich nicht gerechnet. »Nun, das sind interessante Neuigkeiten. Doch Ihr werdet wohl kaum den Kurier aus Gareth für mich spielen.«
»Sicherlich nicht.« Wulf machte eine kurze Pause, stütze die Ellenbogen auf die Stuhllehnen und faltete die Hände. »Sagt, wann war die Gräfin das letzte Mal hier?«
Der plötzliche Themenwechsel überaschte Coswin auf’s neue. »Vor etlichen Monaten«, ließ er sich schließlich vernehmen.
»Aha. Und hat sie Eures Wissen nach sich jemals wirklich um Grafschaft gekümmert?«
»Ebenso wenig wie ihre Vorgängerin, das solltet auch Ihr eigentlich wissen«, gab Coswin zurück.
»Soso. Wenn nun eine Depesche nach Gareth geht, namens der Gräfin, wer zeichnet diese?« Zufrieden nahm Wulf Coswins ärgerlicher werdende Mine ob dieses Frage-Antwort-Spieles zur Kenntnis.
»Ich, wer sonst.« Coswins Ton wurde ungehalten.
»Seht Ihr, dachte ich mir’s doch. Und Ihr wollt mir weismachen, von der Entlehnung Nimmgalfs nichts zu wissen, obwohl die Gräfin darin involviert ist, welche aber gar keine Amtsgeschäfte wahrnimmt und von Euch vertreten wird?« Coswin schluckte und ahnte, worauf Wulf hinaus wollte. »Es ist mein Amt, die Gräfin zu vertreten«, entgegnete er mürrisch.
»Ich weiß, und dass Ihr eben jenes Amt innehabt, verdankt Ihr gewissen Umständen.« Wulf blickte ihn an. »Und es gibt eine gewisse Abmachung, die eben jenem Umstand zugrunde liegt!« donnerte der Baron von Uslenried. Der Grafschaftsrat gab sich unbeeindruckt. »Ich wüsste nicht, das die Regelung lokaler Lehensangelegenheiten eine Angelegenheit von reichsweiter Bedeutung sind.«
»Es sind Angelegenheiten, die über die Grenze der Grafschaft hinausgehen. Oder wollt ihr mir weismachen, Gareth läge nunmehr im Waldsteinschen?« zischte Wulf giftig. »Zudem richtet sich, was immer Ihr auch nach Gareth gegeben habt, gegen ein Mitglied eines der großen Häuser des Königreiches; und nicht nur das: sogar gegen dessen Oberhaupt. Dies hat nicht nur politische Relevanz, sondern auch Brisanz. Und jene überschreitet die Euch durch unsere Abmachung gegebenen Kompetenzen!«
»Ach ja? Da bin ich anderer Auffassung. Und wenn Euch so viel am Hirschfurten liegt, hättet Ihr beizeiten schlimmeres in Leihenbutt verhindern können. Man könnte meinen, Euch träfe eine Mitschuld. Isdt es nicht eigentümlich, dass sich solche Skandale immer in Eurer Nachbarschat ereignen? Erst Waldfang, nun Leihenbutt. Und in Bärenau herrschen ja auch verworrene Verhältnisse, das liegt auch gleich neben Uslenried…« Coswin ging zum Gegenangriff über. Wulf schwieg derweil und trommelte mit den Fingern der Rechten auf die Schreibtischplatte. Dieses Zusammentreffen nahm nicht ganz die gewünschte Richtung; er musste unwillig einlenken.
»Dann will ich folgendes klarstellen: die Belange der großen Familien haben sehr wohl reichsweite Bedeutung. Habt Ihr Euch eigentlich schon einmal gefragt, wie wir als Haus dastehen, wenn herauskommt, wer diese Entlehnung angeleiert hat? Die Hirschfurtens sind Verbündete, praiosnochmal! Wenn es die Quintian-Quandts oder Zweifelfelser gewesen wäre, hätte der Hund drauf geschissen, aber nicht Waffengefährten! Da könnten wir der Kaiserin gleich vorschlagen, die Hartsteens aus der Verwaltung der Pfalz Sertis zu entlassen!«
»Eine treffliche Idee, die uns dem gemeinsamen Ziel einen weiteren Schritt näherbringen würde.« Coswin sagte das so beiläufig, als plane er genau jenes als nächsten Schritt.
Wulf glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Wie bitte?«
Coswin hatte zu seiner alten Form zurückgefunden. »Vielleicht solltet Ihr Euch das große Ziel vor Augen halten, anstatt Euch in Kleinigkeiten zu verrennen. Unsere Abmachung ist schön und gut, und ohne selbige säße ich nun wahrscheinlich nicht hier« – wobei er mit einem Kopfnicken auf den Stuihl deutete, der eigentlich seiner war, in welchem aber immer noch Wulf saß – » noch hättet ihr den Einfluß, der Euch vorschwebt. Letztlich, so dachte ich, geht es um die Macht und den Einfluß des Hauses Streitzig. Unseres Hauses. Je geringer der Einfluß der anderen, desto größer der Einfluß für uns.« Auf das Uns legte er eine besondere Betonung. »Wen haben wir denn sonst noch in Waldstein? Die Hirschfurtens sind Geschichte, bleiben die Hartsteens. Doch Euer Freund Hilbert ist Pfalzgraf und kaiserlicher Vasall, da haben wir in Sertis als Kaiserland eh nichts zu melden. Ähnlich ist das in Serrinmoor und Neerbusch, wenngleiche ersterer als Jagdmeister auch Vasall der Gräfin ehrenhalber ist und letzteres die wohl unwichtigsten Lande in der Grafschaft überhaupt. Die Zweifelfelser sind auf dem absteigenden Ast, andere ehemals wichtige Waldsteiner Familien ebenso. Man denke nur an die Leusteins in Linara oder gar die Weißensteins. Wer bleibt also übrig?« Die Frage war spürbar rhetorischer Natur.
Wulf antwortete nicht sogleich. »Ihr überseht da einen entscheidenden Punkt. Was ist, wenn Leihenbutt nun in die Hände eines anderen großen Hauses gelegt wird?«
Coswin lächelte, erstmals während dieses Gesprächs. »Das haltre ich für unwahrscheinlich. Habt ihr einmal darauf geachtet, welche Familien in letzter Zeit zu Ruhm gelangt sind? Schwingenfels und Mühlingen sind jetzt Pfalzgrafen, Schroeckh gar Staatsrat. Wo sind die alten Namen hin, Luring, Hartsteen, wie sie in der Staatscanzley vorher hießen? Sie gehen den Bach herunter. Wir hingegen, mein lieber Vetter, streben empor. Wir haben Waldstein, auch ohne uns Grafen zu nennen, wir haben den Gerbaldsberg. Wo andere sich streiten wie in Hartsteen, haben wir die Position unseres Hauses gefestigt und tun dies weiter. Wenn eines der alten Häuser Leihenbutt erhalten sollte, dann allenfalls wieder ein Hirschfurten. Und selbst dann hätten wir die Fehde zwischen Pförtner und Pulethaner weitestgehend aus der Grafschaft gebannt; Sertis ist da schließlich nur ein kleines unbedeutendes Licht.«
Wulf seufzte, dann erhob er sich langsam aus des Grafschaftsrates Lehnstuhl. Es gab wenig, was er Coswin noch entgegensetzen konnte. »Zum Wohle des Hauses, soso. Dennoch, es war überstürzt. Und wenn Ihr etwas für die Familie bewirken wollt, so verlange ich, darüber informiert zu werden, und zwar vorab. Insbesondere, wenn es meine Nachbarschaft und noch dazu einen Freund betrifft, der die Folgen zu tragen hat. Zukünftig gibt es keine solche Alleingänge mehr! Haben wir uns verstanden?«
»Ich denke, dafür wird es in nächster Zeit ohnehin keine Veranlassung geben«, entgegnete Coswin entschieden.
»Das hoffe ich. Seid gewiß, dass ich Euch im Zweifelsfalle ebenso schnell von diesem Euren Posten stoßen kann, wie Ihr ihn bekommen habt. Also lehnt Euch zukünftig nicht mehr so weit aus dem Fenster, Ihr könntet tief fallen.« Wulf blickte seinem Vetter in die Augen, ärgerte sich aber insgeheim darüber, dass er ein wenig zu ihm aufblicken musste, weil Coswin ihn um ein halbes Haupt überragte. »Doch solange es geht, sollten wir wieder und weiterhin Hand in Hand arbeiten; dem großen Ziel entgegen. Die Familie muß zusammenhalten, denn nur gemeinsam sind wir stark. Enttäuscht mich nicht!« Damit wandte er sich ab und verschwand durch die Türe, die Jessa bereits geöffnet hatte; die Geweihte folgte ihrem Soldherrn wie ein Schatten.
Grafschaftsrat Coswin von Streitzig j.H. hingegen ließ sich in seinen Lehnstuhl fallen und blickte eine Weile lang auf die wieder geschlossene Tür, als könne er durch diese seinem Familienoberhaupt hinterhergucken. Die Zukunft versprach spannend zu werden, doch er musste sich vorsehen. In einer Sache hatte Wulf recht: Coswin konnte es sich nicht leisten, seine Unterstützung zu verlieren.