Geschichten:Über Mythen und Legenden - Zim, die Waldmaus
Seminar der elfischen Verständigung und natürlichen Heilung, Boron 1046 BF
Iralda stapfte am frühen Morgen zurück in ihr Zimmer. Um ihre Schultern hatte sie einen wärmenden Umhang geworfen, der sie vor der morgendlichen Kälte schützte. In der einen Hand hielt sie eine dampfende Tasse mit heißem Kräutertee, in der anderen ein duftendes Frühstücksei mit knusprigem Speck. Als sie die Tür öffnete, erblickte sie eine Waldmaus auf ihrem Schreibpult. Die Maus lief flink über die Pergamente mit Iraldas Skizzen und hinterließ dabei winzige, niedliche Fußspuren in der Kohlestiftfarbe. Die Waldmaus stellte sich auf die Hinterbeine – fast als wäre sie menschlich. Sie war auch größer als die anderen Mäuse, die in der Umgebung der Akademie in Donnerbach lebten. Ein wahrhaft prachtvolles Exemplar.
Iralda trat vorsichtig, aber hörbar ein. Die Waldmaus erschrak und suchte hinter einem Stiftköcher Schutz. Iralda setzte sich auf einen Schemel am Anfang des Zimmers und hielt respektvoll Abstand. „Guten Morgen, Herr Maus,“ sagte sie freundlich.
Langsam lugten die Knopfaugen hinter den Stiften und dem Schreibpult hervor. „Guten Morgen, Verehrteste,“ sprach die Maus mit einer überraschend klaren Stimme.
Iralda stellte den Frühstücksteller auf den Boden und schob ihn vorsichtig Richtung Schreibpult. Die Waldmaus kletterte vom Schreibpult und krabbelte neugierig zum Rührei mit Speck. Sie hob ihre Nase und schnupperte. „Riecht köstlich,“ sagte sie.
„Mein Name ist Iralda,“ fuhr die Baronin von Bärenau fort.
Die prächtige Waldmaus hatte sich inzwischen bedient und begann, an den Speckwürfeln zu knabbern. „Zim, man nennt mich Zim,“ stellte sie sich vor.
„Ich wünsche dir einen wunderschönen Morgen, werter Zim. Lass es dir schmecken,“ entgegnete Iralda mit einem Lächeln.
„Mein Volk dankt für Apfel und Käse,“ mümmelte Zim weiter.
„Es freut mich, dass es euch geschmeckt hat. Für heute Nachmittag ist ein Apfelkuchen geplant,“ erzählte Iralda.
„Mh,“ Zim strich sich mit seiner kleinen Mäusehand über den Bauch. „Was willst du eigentlich von uns?“ fragte er neugierig.
Iralda schlürfte noch kurz aus ihrer Teetasse. „Nun, mein lieber Zim, dort, wo ich herkomme, gibt es auch ein Wesen wie dich, mit dem ich Freundschaft geschlossen habe. Ihr Name ist Forancina.“
Zim räkelte sich wie ein menschlicher Kavalier auf Frauenfang. „Oh – eine Mäusedame. Interessant. Die musst du mir vorstellen.“
Iralda lachte verschmitzt. „Nein, keine Mäusedame – ein sehr prachtvolles Reh.“
Zim fiel vor Lachen um und rollte sich theatralisch im Kreis. „Wie ich – sehe ich aus wie ein Reh?“ fragte er belustigt.
„Besonders, wie du,“ lächelte Iralda. „Ein äußerst prachtvolles Exemplar seiner Art.“
Die Waldmaus plusterte sich stolz auf. „Ja, prachtvoll, das bin ich. Kommen wir zu meiner Frage zurück: Was möchtest du von uns?“ fragte er erneut.
Iralda entgegnete: „Ich möchte dich näher kennenlernen. Was dich besonders macht. Wo du herkommst. Was du tust, was deine magischen Fähigkeiten sind.“
„Ui ui ui, du bist aber neugierig. Wo kommst du denn her?“ fragte Zim.
„Ich komme aus einem Landstrich, der sich Bärenau nennt. Es ist viel weiter südlich. Weit, weit hinter dem Neunaugensee,“ erklärte Iralda.
„Aha, ich komme von hier aus dem Wald,“ Zim blickte traurig. „Aber wir mussten weggehen von dort.“
„Oh, das tut mir leid. Warum, was ist passiert?“ Iralda war bestürzt.
„Große Menschen mit Äxten haben unsere Heimat zerstört und die Bäume gefällt,“ erzählte Zim mit trauriger Stimme.
„Und dann seid ihr hierher umgesiedelt? Die Bewohner hier erzählen, ihr würdet euch an wertvollen Dingen aus der Akademie bedienen,“ fragte Iralda wissbegierig.
„Pf, eindimensionale Denkweise,“ die Waldmaus plusterte sich zu voller Größe auf. „Sie stellen Fallen auf und möchten mein Volk töten. Einige hat es schon erwischt. Zyrkonia war die letzte, deren Lebenshauch ausgelöscht wurde,“ sagte Zim mit einem Seufzer.
„Die Arme. Mein Beileid. Vielleicht reden wir alle mal miteinander, damit ihr hier heimisch werden könnt und nicht als Plage angesehen werdet?“ schlug Iralda vor.
„Du bist süß und viel zu niedlich friedfertig, liegt an deinem elfischen Blut,“ meinte Zim.
„Elfisches Blut? Nein, das habe ich nicht in mir,“ Iralda war überrascht.
Der Mäuserich legte seinen Kopf schief. „Sicher? Du bist auf jeden Fall nicht magiebegabt. Obwohl deine Aura mir komisch vorkommt.“
„Ich hatte einst eine gewisse Astralmacht, doch ich habe sie verloren,“ erzählte die Baronin.
„Verloren? Wie kann man so etwas verlieren? Das ist doch kein Hut, den man verlegen kann,“ Zim war verwirrt.
„Ich muss dazu ein wenig ausholen. Bei mir zu Hause herrschte Krieg, böse Dämonenscharen fielen über meine Heimat. Meine Eltern starben, mein Bruder starb. Und ich wollte in ihrem Angedenken weiter Herrin über unsere Lande bleiben. Bei mir zu Hause darf man das aber nur, wenn man nicht magisch ist,“ berichtete Iralda und es bedrückte sie sehr, über ihre tote Familie zu sprechen.
Zim schniefte vor sich hin, die Geschichte war ihm zu traurig.
„Da ich also Herrscherin – in meinem Fall Baronin – sein wollte, wurde mir die Magie ausgebrannt. Mit Praios’ Zutun.“
Zim fiel um, als wäre er tot. Danach räkelte er sich wieder. „Ausgebrannt, dann besser tot.“
„Du bist ein vollends magisches Wesen, ich hatte nur Magie,“ Iralda versuchte, sich selbst etwas vorzumachen.
Zim kletterte an Iraldas Bein hoch und setzte sich auf ihren Schoß. Er nahm ihre Hand und tröstete sie. „Sei tapfer. Aber du bist sicher, dass es nie einen Elfen gab, also vor langer Zeit in deiner Familie?“
„Wenn ich meinen Stammbaum anschaue, sehe ich das dort nicht. Darf ich dich magisch analysieren?“ fragte Iralda forsch.
„Du kannst doch gar nicht zaubern, hast du gerade gesagt?“ entgegnete die Waldmaus.
„Nicht ich direkt, mein Magier Dschafar, und ich darf zusehen, mit einem Artefakt.“
„Hm, meine Liebste, so genau kennen wir uns ja nun auch nicht. Nun, gut, ich habe auch schon einen Blick auf dich geworfen… aber ich wäre erstmal für unterhalten. Du scheinst nett zu sein…“
„Ich verstehe, tut mir leid, dass ich so forsch war.“
„Ich komme morgen früh wieder. Ich mag warmen Blaubeerstreusel,“ sagte Zim und verabschiedete sich.