Geschichten:Abgründe - Stählerne Rätsel
Ritterherrschaft Ostbrisken am Fuße des Wachturms Hohenbrisken am 26.Efferd 1042BF (nachmittags)
Mit neuer Motivation machten sich die Männer an die Arbeit. Für die vier Fronhelfer Gerwulf, Ardo, Lares und Hartmann sollte es vorerst der letzte Nachmittag sein. Hane hatte sie nur für drei Tage einbestellt, damit sie sich anschließend wieder um ihre Felder und ihr Vieh kümmern konnten. Er wollte den verfügbaren Frondienst zunächst nicht überbeanspruchen, da er sich sicher war noch in großem Maße auf seine Untertanen zugreifen zu müssen, wenn es dereinst zum Bau der Festungsanlage rund um den Wachturm Hohenbrisken kommen würde.
Die kürzlich entdeckten Zeichnungen an der Wand waren nach wenigen Stunden schon kein Thema mehr zwischen den Helfern. Man hatte sich damit abgefunden, die Dinge so hingenommen wie sie waren, auch wenn man sie nicht verstand. Anders konnte man es als Bewohner des unmittelbaren Brachenumlands auch nicht halten… Zumindest wenn man Wert auf seine geistige Gesundheit legte… Für Hane sah die Situation natürlich anders aus. Sollten dies wirklich Zeichen, Schriften oder Bildnisse sein, dann würde es mich schon brennend interessieren was dort geschrieben stand. Nicht nur aus purem Wissensdurst… Vor allem handelt es sich hier um das unterste Geschoss des Turms, der von nun an mein Heim ist… Dies ist die Festung die man mir aufgetragen hat zu halten… das Bollwerk gegen die Brache… Da wäre es schon fahrlässig einfach unbekannte Zeichen im Keller zu haben… wer weiß was diese bewirkten, oder aussagten… Vielleicht steht hier unten der Schlüssel zu den Gefahren der Brache und wir müssen es nur lesen um die Gefahren endlich bannen zu können… Oder vielleicht steht da auch nur eine Wegbeschreibung von Punin nach Gareth in farbenfrohe Beschreibungen gefasst, so wie Hartmann es vermutet hat… Ich kann nicht alles selbst machen – werde wohl einen Gelehrten anfordern müssen, der die Schrift entziffert… Aber alles zu seiner Zeit. Steinstaub ist der falsche Staub für die meisten Schriftgelehrten, also wird hier erstmal aufgeräumt…
Mit der Motivation des bevorstehenden Endes des Frondienstes und den versprochenen Bierfässern im Hinterkopf kamen die Männer an diesem Tag gut voran. Sie konnten sich im Kellergeschoss nun mittlerweile schon zu zweit auf den freigelegten Boden stellen und Steine nach oben reichen. Auch über die Bodenplatten zogen sich Linien und Bögen, ebenso unbekannt wie die Zeichnungen an den Wänden. Jeder für sich hing seinen Gedanken nach und malte sich lebhaft aus, was dort wohl an Wänden und Boden geschrieben stand. Immerhin die Decke war verschont geblieben von ausschweifenden Erzählungen in kryptischen Schriften. Die Holzbohlen waren an manchen Stellen reichlich morsch und hier und da gar durchgefault, sodass sie sicher ersetzt werden müssten. Einsturzgefahr, so einigte man sich, bestand jedoch nicht. Als dann auch noch einige Eisenstangen aus dem Geröll hervorragten, hielt man dies zunächst für Stützmaßnahmen. Doch die Regelmäßigkeit der Stangen und der geringe Abstand zueinander – nicht einmal eine Schulter wollte durchpassen – erinnerte mehr und mehr an einen Käfig. Staub bedeckte die Stangen. Im Innern lagen ebenfalls zahlreiche Geröllbrocken, doch waren diese nicht annähernd mit derselben Präzision und Hingabe aufgetürmt, wie außerhalb der Zellen. Alle darin liegenden Steine waren so klein, dass sie durch die Stangen passten, waren also vermutlich hineingerutscht, oder von außen durchgesteckt worden. Die Stangen ragten bis in den Boden hinein, wo sie in den Steinplatten verschwanden. Kurz nach der Entdeckung der Käfige wurden die ersten Theorien ersonnen. Die meist diskutierte und letztlich einstimmig akzeptierte Theorie handelte von wilden Tieren, die die Waldmenschen hier gefangen hielten um naturgetreue Malereien an die Wände übertragen zu können. Es wurde viel gelacht und der Fantasie der vier Helfer wurde freier Lauf gelassen.
Am späteren Nachmittag war Hane allein im Keller. Seine Fronhelfer waren fleißig dabei die Steine auf die Schutthaufen zu türmen, damit diese möglichst hohe Ausmaße annahmen. Dies hatte durch Hanes Versprechung immerhin existentielle Bedeutung erhalten, zumindest hinsichtlich der Beseitigung trockener Kehlen beim Fest zum Tag der Jagd… So räumte Hane weiterhin Steine hin und her. Nach einer kleinen Verschnaufpause, die er angelehnt an eine der Stangen verbrachte, betrachtete er die fein säuberlichen Runen, die vorher unter dem Staub, der sich nun an seinem Hemd befand, verborgen gewesen waren. Über die gesamte Länge befanden sich Runen und Symbole rund um die Stange herum. Einer Vorahnung folgend nahm er sich seinen Schweißlappen aus der hinteren Hosentasche und wischte einmal über die angrenzenden Stangen. Weitere unzählige Symbole, Kreise, eckige geometrische Formen, verschlungene Linien und Darstellungen für die er keine beschreibenden Worte fand, waren fein säuberlich an den Stangen aufgetragen. Nunja, aufgetragen war nicht das richtige Wort – sie waren allesamt graviert, in das Metall eingelassen. Das muss doch Ewigkeiten gedauert haben… Waldmenschen haben doch kein Gravurwerkzeug um ihre Lebensgeschichten in Metallstangen zu verewigen. Gibt es eigentlich auch nur einen verdammten Ort in diesem Keller, der nicht voll mit unbekannten Symbolen ist? Ich kann im Gegensatz zu den Männern draußen ja immerhin lesen… Aber das hier überall erinnert ja noch nicht mal an Kusliker Zeichen… Ich bete selten zur Mutter der Weisheit, doch vielleicht sollte ich sie heute Abend mal um Beistand bitten. Wie auch immer. Hier ist Schluss, den Keller betritt keiner von den Männern draußen mehr. Sollen sie zu Hause gern die Geschichten von den Waldmenschen erzählen… Wenn sie das hier sehen, dann entstehen am Ende noch ernstzunehmende Gerüchte, das kann ich wirklich nicht gebrauchen…
Hane klopfte zweimal beherzt auf seine Ärmel und seine Weste um den gröbsten Staub loszuwerden, dann stieg er die Treppen wieder hinauf.
„Männer, ich habe gute und schlechte Nachrichten! Wir machen für heute Schluss – das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist: ich hatte gesagt die Größe der Schutthaufen, nicht die Größe des obersten Steins. Ihr könnt also eure windschiefen Türmchen oben drauf wieder einreißen, bevor sie vor Lachen umfallen oder der Herr Efferd sie mit einer kleinen Böe einstürzen lässt.“ Hane konnte und wollte ein deutliches Schmunzeln auf seinem Gesicht nicht verbergen. „Wenn ihr damit fertig seid, kommt rein! Der Kamin ist warm und die Suppe ist heute Abend besonders dick, also seht zu, dass ihr euch hier draußen nicht lächerlich macht!“ Lachend griff er sich Lares und Ardo an den Schultern und gab ihnen einen gut gelaunten Schubser in Richtung Eingangsportal des Wachturms. Die Kellertreppe hatte er wieder mit Holzplanken abgedeckt, die Sorgen für den vorerst letzten geselligen Abend mit seinen Fronhelfern ausgesperrt…
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