Geschichten:Abgründe - Zwölfgöttliche (Un-)Einigkeit
Ritterherrschaft Ostbrisken am Fuße des Wachturms Hohenbrisken am 10.Travia 1042BF
Gebannt starrten sie auf das in allen erdenklichen Farben des Regenbogens gesprenkelte Ei. Keiner hatte je ein Tier gesehen, das in der Lage gewesen sein sollte ein Ei solcher Größe zu legen. Die ersten Mutmaßungen wie groß wohl Dracheneier seien, hatte Hane im Keim erstickt um nicht noch zusätzliche Unruhe zuzulassen. Am gestrigen Tag hatten sie das Ei entdeckt und es hatte nach wenigen Stunden einen ersten Riss bekommen. Am heutigen Morgen zählten sie gar derer vier.
„Die neuen Risse sind gekommen, als niemand hier unten war… Das scheiß Ding lebt also tatsächlich!“, fasste Carl das Offensichtliche zusammen.
„Dann sollten wir uns ranhalten den letzten Käfig heute noch freizuräumen! Falls darin wirklich das Skelett von dem Tier liegt, das dieses Ei gelegt hat, dann wissen wir wenigsten worauf wir uns vorbereiten müssen. Brünni, Rico, Reto – heute brauche ich Euch bitte hier unten. Wir können die Steine später zuordnen, heute werden sie erstmal neben dem Eingangsportal aufgeschichtet…“ Die letzten Worte hatte Hane bereits mit einem Gesteinsbrocken auf dem Arm gesprochen. Magnus und Tello hatten auch bereits zugepackt.
Der letzte Käfig schickte sich an der wohl größte im Kellergewölbe des Wachturms zu sein. Er maß locker drei bis vier Schritt in der Länge und zwei in der Breite. Darum stellten sich alle auf einen anstrengenden Tag ein, an dessen Ende sie mit ein bisschen Glück tatsächlich den Käfig geräumt haben könnten. Das Glück sollte den Kameraden an diesem Tag wenigstens teilweise hold sein.
„Du pumpst ja wie ein Al’Anfanischer Trollmops, alter Freund! Sollte der Herr von und zu doch recht behalten, dass du so außer Form bist?“ Die amüsierte Miene von Magnus zeigte bei genauem Hinsehen auch durchaus besorgte Züge als er Carl von oben bis unten musterte.
„Kehr doch erstmal vor deiner eigenen Pforte, alter Stinkstiefel! Ich bin das jedenfalls nicht… und der strenge Geruch kommt sicher auch nicht von mir! Vielleicht riecht ja adliges Blut so müffelig und die brauchen deshalb immer so teures Duftwasser, dass man es zwei Straßen weiter noch riecht…“, gab Carl den Staffelstab direkt weiter an Hane.
„…immer langsam. Mein Blut ist immernoch genauso einfach, wie noch vor einem Jahr. Lediglich mein Wappenrock hat die Farbe geändert und mein Heim ist etwas zugiger und feuchter geworden… Bis jetzt kann ich den Adelsstand nicht empfehlen…“, lachte Hane und hievte eine schwere Steinplatte vom Haufen.
Ihm stock der Atem. Sie hatten den Steinstapel schon um einige Spann schrumpfen lassen, sodass man nun auf Zehenspitzen in den Käfig blicken konnte. Die anderen Käfige waren allesamt ebenfalls mit Steinen zugeschüttet, doch dieser letzte hier enthielt keine Steine. Stattdessen waren große Steinplatten entlang der Stahlstreben angesetzt und durch die üblichen Gesteinsbrocken abgestützt worden. Eine solche Steinplatte hatte Hane soeben entfernt, weshalb sein Blick auf jenes fiel, was in dem Käfig lag. Zunächst nahm er das dunkle Braun in der Dunkelheit des Kellergewölbes gar nicht wirklich wahr. Doch als er die Laterne vom Haken nahm und passend zur Ausleuchtung des Käfiginnenraums platzierte, sahen seine Augen klarer. In Hanes Kopf schwirrten die Gedanken hin und her…
Da drinnen liegt ein verdammter Bär. Warum nicht das Skelett eines verdammten Bären? Sag mir nicht, dass du Winterschlaf hälst Meister Petz… Hmm… Ein Borkenbär, würde ich annehmen… Ungewöhnlich dich so weit südlich zu finden… Was hat dich nur hierher verschlagen? Und was ist das an deinen Beinen? Hane ging ein wenig herum, stellte sich auf einige Steinbrocken und entfernte eine weitere Steinplatte von den Gitterstäben. Sind das Hörner? Nein, das sieht nicht aus wie Gebein… Eher Stacheln oder Dornen… Aber die gehören verdammt nochmal zu Pflanzen und nicht zu einem Borkenbär! Ganz zu schweigen von diesen merkwürdigen Hornplatten auf deinem Rücken… Bei allen Zwölfen was bist du für eine abscheuliche Kreatur? Dornen an den Hinterbeinen, Hornplatten wie eine Schildkröte auf dem Rücken und doch bist du deutlich ein Bär… Elender Seuchensuhl, was tust mit der wunderbaren Schöpfung?
Hane platzierte die Steinplatte wieder in ihrem Ort und bedeutete seinen Kameraden sowohl alle Gespräche einzustellen, als auch ihm aus dem Keller hinaus zu folgen. Oben versammelte er alle um sich und begann zu sprechen:
„Der Keller ist fast leer. Vier Käfige finden wir dort unten… Und der letzte von ihnen ist bewohnt…“ Kurz hielt Hane inne um dem erstaunten Raunen seiner Kameraden Zeit zum Verstummen zu geben. „Im größten der Käfige haust ein Borkenbär… Aber nicht nur das… Der Bär ist… verunstaltet… er hat unförmige Hornplatten auf dem Rücken und riesige Dornen an den Hinterbeinen. Es muss sich um eines der verkommenen Geschöpfe der Brache handeln. Zugleich scheint dies eine Vermutung zu bestätigen, die ich schon seit einigen Tagen mit mir herumschleppe… Die Skelette aus den ersten beiden Käfigen. Sie gehören nicht zu mehreren Tieren, sondern zu jeweils einem Wesen. Im ersten Käfig eine Ratten-Wolf-Ziegen-Schlange mit Wolfskörper, Ziegen- und Rattenkopf und einer Schlange anstelle des Schwanzes… Im zweiten Käfig der vermeintliche Eulen-Fuchs… Und nun ein Dornenbär mit Hornpanzer im vierten Käfig… Ich kann mir nur schwerlich vorstellen, dass aus dem Ei im dritten Käfig ein buntes Huhn schlüpfen wird…“ Hane blickt eindringlich in die von Abscheu, Horror und Erstaunen gezeichneten Gesichter seiner Kameraden. „Ich habe das Gefühl, dass irgendjemand hier unten die Wesen der Brache gefangen und festgehalten hat…“ …oder geschaffen… fügte Hane in Gedanken hinzu.
Gemurmel kam auf und es wurde unruhig. Hane ergriff erneut das Wort. „Freunde, wir sind hier um die Schrecken der Brache zu bekämpfen und den Landstrich vor ihnen zu verteidigen. Bisher hatten wir einen Widersacher mit unbekanntem Gesicht, unbekannter Gestalt… eine unbekannte Bedrohung… Unser Feind hat eine Form angenommen… Das Phantom ist gebannt, wir wissen nun womit wir es zu tun haben! Das ist eine gute Entwicklung! Die Skelette sind keine Gefahr mehr. Um den Bär sollten wir uns allerdings bald kümmern, im Moment scheint er noch friedlich Winterschlaf zu halten…“
„Ich erschlage auch schlafende Ungetüme, da bin ich mir nicht zu schade für!“, bellte Carl und sprang voller Tatendrang auf. Ronja sprang wie von selbst in seine kräftige Hand.
„Was weißt du schon über Bären, alter Freund? Geschweige denn über Bären mit Dornenbeinen und Hornpanzer… Wüsstest du überhaupt wo du ihn verlässlich mit einem Hieb töten kannst? Fakt ist, lebendig können wir was von ihm lernen, tot taugt er nur als stacheliger Pelz!“, erwiderte Magnus souverän.
„Du schlägst doch nicht etwa vor ihn leben zu lassen? Dieses Biest verhöhnt alles wofür die Zwölfe stehen und gehört vom Dererund getilgt!“, warf Tello wütend ein.
„… und was, wenn er ausbricht, Magnus? So etwas passiert immer nachts und dann sind wir alle des Todes und er ist seinen Hunger nach dem Winterschlaf los… Nein, das darf nicht passieren!“, entgegnete Brünni ganz aufgebracht.
„Und wie wollt ihr die Schwächen unseres Feindes weiter ergründen, wenn ihr immer mit geschlossenen Augen den Kopf zu Brei haut? Wir müssen weiter denken als nur bis zum nächsten Biest das aus dem Wald kommt…“, auch Magnus hob nun langsam seine Stimme an.
„Der Kopf hat bis jetzt immer ganz gut funktioniert…“, grinste Carl selbstzufrieden und hing kurz einigen Erinnerungen nach.
„Magnus, das ist Ketzerei!“, Tello war nun aufgesprungen. Seine Stimme überschlug sich leicht.
„Du nennst mich einen Ketzer, Bursche?“, herausfordernd ruhig erhob sich auch Magnus.
„Alles klar Leute! Jeder nimmt sich jetzt mal einen Schluck vom Trotzbuscher Birnenbrand und atmet tief durch. Der hats in sich, hoffentlich bringt euch das mal kurz auf andere Gedanken.“ Hane goss für jeden einen kleinen Becher ein und reichte ihn herum. Ein ernster Blick an jene die ansetzten zu sprechen, ließ die Diskussion zunächst pausieren. „Es ist ein schwieriges Thema. Ich habe noch keine Entscheidung dazu gefällt. Zunächst legt bitte niemand Hand an den Bären. Es ist zu gefährlich. Das Biest schläft, wahrscheinlich seit Jahren, seit die Vorbesitzer des Turms ihn haben einschlafen lassen. Wenn jetzt ein Hammer auf ihn niedersaust und ihn nicht umbringt, weil er vielleicht unter dem Schädel auch noch Hornplatten trägt, dann haben wir einen wachen Bären… Das wäre deutlich gefährlicher als das schlafende Biest! Deshalb hier mein Vorschlag: Rico, die Steinplatten die den Käfig bis jetzt eingerahmt haben, sollten eine gute, stabile Mauer bilden können. Ich bitte dich den Käfig zuzumauern. Bitte lass uns aber ein paar Gucklöcher, lose Steine, oder irgendetwas um bei Bedarf einen Blick auf das Wesen werfen zu können… Und dann sollten wir uns überlegen wie wir herausfinden können wer vorher in diesem Turm gehaust hat und warum diese Tiere hier unten waren und sind.“ Rico nickte und begann Aufgaben zu verteilen um seinem Auftrag möglichst bald nachkommen zu können.
Hane war schon wieder in Gedanken. Die Wände und der Boden des Kellers sind übersät von fremden Zeichen… Die Käfigstangen ebenfalls… Fremde Zeichen riechen immer nach Magie… Das kann gut oder schlecht sein. Ich muss herausfinden wer vor mir in diesem Turm gehaust hat und wofür er genutzt wurde… Diese Wesen sind die pure Ketzerei, da hat Tello absolut Recht. Aber heißt das, wir müssen sie direkt vom Antlitz Deres tilgen, oder können wir vorher von ihnen lernen, wie Magnus es vorschlägt? Oh Ihr Zwölfe, Ihr testet mich! Folge ich der Mutter der Weisheit in dieser Sache oder sollen mir der Himmlische Richter und die Allesspendende Mutter den Weg weisen? Folge ich der jungen Göttin, so bleibt mir womöglich eine große Chance verwehrt den mir verliehenen Auftrag zur Sicherung der Umlande und der darin lebenden Menschen wahrzunehmen. Doch verschone ich die Existenz dieser fleischgewordenen Häresie… Bin ich dann nicht selbst ein Ketzer? Allwissende, schenke mir Weisheit!