Geschichten:Albernische Gäste - Teil 3
Als hätte Peraine eine unsichtbare Linie durch den Wald gezogen, hinter der kein Baum mehr wachsen solle, öffnete sich abrupt eine große Lichtung vor den Reitern. Ein Weiler mit vielleicht zehn oder zwölf Häusern lag vor den Edlen und im Zentrum des Gutes stand ein großes, offenbar jüngst wieder errichtetes Fachwerkhaus mit mehreren Stockwerken nebst Stallungen, in denen wohl an die zehn Pferde Platz hätten.
Am westlichen Rand des Weilers hatte man begonnen aus frisch geschlagenem Holz Palisaden zu errichten, die dereinst das ganze Gut umschließen würden.
Die Menschen verbeugten sich tief und riefen ihrem Herrn Grußworte in Praios und Peraines Namen zu, als er sich näherte. Einige Hühner kreuzten den Weg der Reiter und vor einem der Häuser saß ein altes Weib, welches gerade einen Korb flocht. Sie nickte den Edlen zu und murmelte ebenfalls einen Gruß.
Rondrigo lenkte sein Pferd auf den Gutshof zu und sofort kam der Stallknecht, ein Junge von vielleicht fünfzehn Lenzen herbei, um sich den Pferden anzunehmen. Ehrfurchtsvoll griff er nach den Zügeln des Nebachotenrosses und prompt schnappte das Pferd bösartig nach den Fingern des Jungen. Angsterfüllt zog er die Finger zurück und verbarg sie mit bleichem Gesicht hinter seinem krummen Rücken.
“Du bist schnell geworden, Praiosfried!” scherzte der Junker und stieg ab, um Lyn ebenfalls von ihrem Pferd zu helfen.
In jenem Augenblick öffnete sich die Tür des Gutshauses und der alte Diener des Junkers trat hervor. Sein lichtes Haar war ergraut und er war sehr dünn, denn sein braunes Leinengewand hing deutlich an ihm herab. Dennoch erstrahlte seine von Falten gezeichnete Miene ausdrucksstark und voller Stolz.
“Ich grüße Euch, Euer Wohlgeboren.” Er verneigte sich so tief er es vermochte. “Heißt auch Ihro Hochgeboren Lyn von Otterntal aus Albernia willkommen. Sie ist auf unbestimmte Zeit unser Gast.”
Der Diener verneigte sich auch in Richtung der Albernierin. “Seid willkommen, in Travias Namen Euer Hochgeboren. Mein Herr hat offenbar die Gabe ausschließlich die hübschesten Edeldamen mit hierher zu bringen.” Er wies den frisch Angekommenen die Tür, aus der in diesem Moment eine junge Frau mit rötlichem Haar hervor trat.
Ihr Kleid wirkte schlicht, war aber aus feinstem blauem Wollstoff geschneidert. Sie knickste artig und Rondrigo gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange. “Meine Liebe! Ich habe jemanden mitgebracht, wie du siehst. Die junge Dame wünscht den Herrn Ra’oul von Brendiltal zu besuchen.”
Die edle Dame Linea von Travesried begrüßte die albernische Adelige äußerst herzlich und führte sie sogleich hinein, um ihr das Zimmer, in welchem man sie unterbringen würde zu zeigen.
Linea führte Lyn vorbei an ihren eigenen Räumlichkeiten, die dem Zimmer eines Alchimisten sehr ähnlich sahen. Überall Tigel, Töpfe, Glasgefäße, getrocknete Kräuter und fremdartiges Gerät.
Das Gästezimmer war einfach eingerichtet, aber sauber und heimelig. Sogleich brachte Linea einen Strauß frischer Blumen herein und stellte sie in einen mit kühlem Wasser gefüllten Tonkrug. Die junge Dame lächelte viel und Lyn konnte nicht anders, als sich vom herzlichen Wesen der Edlen anstecken zu lassen. Schließlich, nachdem der Junker seinen Reitermantel abgelegt hatte, führte er Linea und Lyn ins Krankenzimmer, auf dass sie endlich Ra’oul zu Gesicht bekommen sollte, für den sie die ganzen Strapazen der anstrengenden Reise auf sich genommen hatte.
Ganz entgegen ihrer Art war Lyn auf einmal sehr nervös. Die innere Anspannung in ihr wuchs mit jedem Herzschlag. Hätte sie Ra´oul auf dem Fest getroffen, wäre es eine ungezwungene Atmosphäre gewesen. Man wäre sich sozusagen zufällig über den Weg gelaufen. Außerdem hätte sie Merewyn an ihrer Seite gehabt. Aber nun.... Hatte sie es sich wirklich gut überlegt, hier her zu kommen? “Was solls” dachte sich Lyn. “Nun bin ich hier und werde sehen, wie es weitergeht.”
So betrat sie stolz aufgerichtet mit einem fast spöttischem Lächeln das Krankenzimmer.
Der Nebachote stand wackelig mit dem Rücken zur Tür im Zimmer. Unbeholfen versuchte er sich mit der Rechten sein Wams über den Kopf zu ziehen, während der linke Arm in einer Armschlinge zu liegen schien. Dabei schien es aber so, als habe sich der Stoff irgendwie verknotet.
“Ah, Travin, bist Du das?” fragte er etwas unverständlich, da der feste Stoff seines Wamses die Worte zu verschlucken drohte. “Komm und hilf mir in maine Klaidung. Linea ist gerade weg und isch will die Gelägenhait nutzen und mal aus diesäm Zwingär weg an die Luft kommän.”
Ra’oul schien Lyn offensichtlich für den alten Diener des Junkers zu halten. Als er unbeholfen, halb gefangen in seinem Wams über den Kopf sich zur Tür drehte. Lyn hatte so einen Augenblick Zeit und konnte den jungen Mann unbeobachtet mustern. Und was sie sah ließ sie ungewollt kichern. Die Situation war aber auch zu komisch, wie er gefangen in seinem eigenen Hemd da stand und mit dem Arm wackelte. Dabei hatte Lyn Gelegenheit einen Blick auf den nackten Oberkörpers des trainierten Kriegers zu werfen. Was sie sah, gefiel ihr.
“Wuos ist Travin? Bist Du krank, oder taub?” fragte Ra’oul irritiert, während er langsam, auf einem Bein näher hopste. Sein linkes Bein war zwischen zwei hölzernen schienen gebunden und anhand der ledernen, schwarzen Hose konnte Lyn auch erkennen, dass das Bein wohl auch verbunden war. “Komm jetzt und hilf mir, sonst ist alles zu spät und Linea ist wieder zurück.”
Sich Mut fassend griff Lyn zu und half Ra’oul das Wams über den kopf zu ziehen. Dabei kam sie dem Mann so nahe, dass die Wärme dessen Körpers durch ihre eigene Kleidung förmlich spüren konnte. Oder wieso wurde ihr plötzlich so heiß? Als es schließlich geschafft war und Ra’oul wieder sehen konnte, trat Lyn einen Schritt zurück.
Sie wartete einen Moment, bis sie sich sicher war, das Ra´oul sie erkannte.
“Wolltet ihr mir nicht Eure Heimat zeigen?” Fragte sie mit leiser aber herausfordernder Stimme. “Obwohl ich nicht die Freude hatte, Euch in Rashia´Hal anzutreffen, möchte ich Euch für die Einladung danken. Ich hoffe doch, es geht Euch wieder besser?” In den letzten Worten schwang eindeutig Sorge mit, obwohl Lyn sich die größte Mühe gab, dies zu verbergen.
Der Nebachote war beim Anblick Lyns fast umgefallen. Irritiert schaute er die edle Dame mit zusammengekniffenen Augen an, bevor er einen kurzen Blick auf sein Tischen warf, dass neben seinem Bett stand und auf dem sich die Medikamente befanden, die Linea ihm verabreichte. “Travin?” fragte Ra’oul fast hoffend, doch als Lyn erneut schmunzelte wusste der Nebachote um die peinliche Situation in die er sich gerade gebracht hatte.
“Äh Lyn?” fragte er vorsichtig, “Lyn, Ihr said es wirglisch.” Rief er schließlich erfreut aus, dabei wollte er seine Arme weit gen Alveran erheben, doch brachte ihn der Schmerz in der linken Schulter sogleich wieder zur Ruhe. “Värzaiht ainem Tolpatsch des Sidens, dass är Eusch nischt in Rashia'Hal, dem schenstän aller Orte begrießen konntä, doch bin isch nur knapp ainem Mordanschlag entronnen und nun wollen maine Painiger misch langsam hier zu Tode quälen.”
Ra’oul gelang es sogar bei den letzten Worten etwas zerknirscht auszusehen, jedoch fing er sich dann auch wieder schnell und wollte wenigstens etwas seiner Würde retten.
“Doch äs freudt misch, Euch heutär hier begrießen zu dürfen.” Geschickt ergriff der Mann die rechte Hand Lyn und hauchte einen zarten Kuss auf deren Oberfläche. “Was verschlägt Euch in diesäs Land wo sich Graifenfurter und Org gute Nacht sagen?”
"Das ist eine wirklich lange Geschichte, aber eine, die ich Euch gerne erzählen will. Aber sagt, wolltet Ihr nicht an die frische Luft gehen?" An Rondrigo gewandt, der schmunzelnd die Szene beobachtete, fuhr Lyn fort: "Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber nach dem langen Ritt tut es mir auch gut, mir einmal die Beine zu vertreten." Ra’oul zuckte nochmals kurz zusammen, als er auch Rondrigo, gefolgt von Linea in der Tür stehen sah. Sah dann aber bei den Worten Lyns auf sein geschientes Bein.
Lyn wandte sich wieder Ra´oul zu: "Wenn ihr also erlaubt, werde ich Euch gerne an die frische Luft begleiten und Euch meine Geschichte erzählen."
“Ja aber sischär mainä Damä. Isch würdä misch sähr frauän.” Geschwind nahm der Nebachote sich seine Krücke und schob Lyn schnell an den beiden Greifenfurtern vorbei, bevor diese ihn zu sehr aufziehen konnten.
“Verzaiht edle Lyn, dass isch Eusch nischt den Arm raischä, abär den brauchä isch momentan sehr dringänd.”
Die beiden verließen das Haus und bahnten sich langsam ihren Weg in einer kleinen Runde durch den aufgrund seiner Abgeschiedenheit beinahe idyllisch wirkenden Weiler. Um sie herum gingen die Bewohner eifrig ihrem Tagwerk nach und überall, wo die beiden vorbei kamen, lupfte man respektvoll die Mütze und verneigte sich kurz.
"Dann will ich Euch mal erzählen, was geschehen ist, seit sich unsere Wege in Havena getrennt haben. Wir Ihr wisst, bin ich mit meinem Vater zurück nach Otterntal geritten. Doch hatte ich auch Merewyn zugesagt, sie nach Pericum zu begleiten. Die Entscheidung viel mir nicht leicht. Nicht, dass ich Merewyn auf der Reise nach Pericum in Gefahr wähnte, doch wollte ich sie ungern alleine ziehen lassen. Ihr wisst ja selbst am Besten, welch Bild der Rest des Reiches von uns Alberniern hat. Von daher erschien es mir ratsam, Euch hinterher zu reisen" Lyn kam bei der Erzählung leicht ins Stocken und merkte, wie langsam eine sanfte Röte ihr Gesicht überzog. War dies doch nur ein Teil der Wahrheit.
Doch noch immer viel es ihr schwer, sich einzugestehen, dass vielleicht nicht Merewyn der Grund war, weshalb sie den Zorn ihres Vaters auf sich gezogen hatte. "Außerdem..., Ihr erzähltet so viel von Eurer Heimat. Das hat mich neugierig gemacht.... . Doch als ich Euch einholte, traf ich nur noch auf Merewyn." Mit einem kritischen Seitenblick auf Ra ´oul fuhr Lyn fort. "Sagt, was habt Ihr Euch eigentlich dabei gedacht? Sie erst mit Euch reisen zu lassen und sie dann alleine nach Rashia´hal reiten zu lassen? Dabei wurde sie fast ein wenig wütend. Ihr Stimme nahm auf jeden Fall einen anklagenden Ton ein, und ihre Augen funkelten, als sie weitersprach.
"Wie gut, dass ich gegen meines Vaters Willen hinterher gereist bin. Wenn ich nur daran denke, dass ich sie ganz alleine angetroffen..." Lyn war dabei etwas lauter als beabsichtigt geworden, doch dann brach sie abrupt ab. Sie hatte sich schon wieder so in Rage geredet, dass sie mehr preisgegeben hatte, als sie wollte. Das sie sich ihrem Vater widersetzt hatte, war ein kleines Geheimnis, welches sie bisher nur Merewyn erzählt hatte. Was mochte Ra´oul jetzt von ihr denken? Und vor allem, warum war ihr auf einmal so wichtig, was er von ihr dachte...? Verwirrt blieb Lyn stumm und wartete, was Ra´oul zu ihren Anschuldigungen sagen würde. Vielleicht hatte er ja auch eine gute Erklärung, was sie ja insgeheim hoffte.
Der ‚Angeklagte’ schaute Lyn mit einem breitem Grinsen im Gesicht an. “Wieso solltä isch mir dabei etwas gedacht habän? Isch bin nach Greifänfurt abgebogän und die edle Merewyn reiste weitär, diräggt nach Rashia’Hal. Wie mir schien konntä sie es kaum erwartän, Radschas Hain erraichän zu kennen.”
Lyn konnte kaum glauben, was sie da eben gehört hatte. Die Hoffnung einer guten Erklärung zerplatze in ihrem Geiste wie eine Seifenblase. Empört stemmte sie die Hände in die Hüften und kam dabei ungewollt an Ra’ouls geschientem Arm, was einen kurzen, unterdrücken Schmerzenslaut des Nebachoten zur Folge hatte. Sie wollte den Mann schon zurecht weisen, als dieser – immer noch breit grinsend – fort fuhr. “So nähme isch an, warän meinä baiden Ammayins die isch der edlän Merewyn nachsandte bis zum Schluss unbemerkt.”