Geschichten:Am Ende - Familie der Enttäuschungen
Alrik beugte sich über das Buch, eine riesige Lupe befand sich zwischen seinem Auge und den Buchstaben, während die Spättraviasonne durch die schlanken Fenster des Remters der Kreusenburg fiel. In dieser Jahreszeit des heraufziehenden Herbstes war dies der hellste Raum in der ›Weißen Festung‹. Eigentlich traf das auf jede Jahreszeit zu, denn der Saal war als jüngste Erweiterung der Festung in filigranem Stil mit so viel Fenstern auf den beiden Langseiten ausgestattet worden, dass sie die Fläche aller anderen Fenster der Kreusenburg zusammengenommen überstiegen. Außerdem war es hier warm – der Sonne wegen und wegen der beiden Kamine an den Stirnseiten des Saals. Alrik mochte es nicht, wenn der Winter kam.
Schon seit Jahren war es ihm, als künde das schlechte Wetter das nahe Ende seines Lebens. Das Gefühl war lange nicht so alt wie Alriks Greisentum. Früher hatte er den Schnee begrüßt, die klare Luft, den hohen Himmel. Aber heutzutage? Er las auch, um sich abzulenken. Wer liest, denkt nicht. Er denkt höchstens mit, aber er gerät nicht ins Grübeln.
»Großvater!«, begrüßte ihn seine Enkelin Mechtessa, die einen Korb mit noch dampfendem Gebäck hereintrug. Eine Enttäuschung, das Mädchen! Hätte sie nicht erst nach der Hochzeit verfetten können? Alrik hob den Kopf und sah seiner Enkelin entgegen. ›Weder jung noch schön‹, dachte der hagere Greis, der von jungen Frauen einst mehr verstanden hatte als jeder andere im Hochland Caldaias.
»Mechtessa, meine Liebe«, begrüßte Alrik seine reizlose Enkelin. »Was bringst du da Feines?«
»Ich habe mit Olrath Riething ein wenig herumprobiert. Das sind eigentlich Brötchen, aber wir haben Honig und Kompott daran gegeben. Ich nenne es ›Teilchen‹. Sehr lecker. Die werden dich aufheitern.« Mechtessa stellte die warmen ›Teilchen‹ auf den Tisch und griff sich selbst eines, das recht anständig mit Waldbeerenkonfitüre versehen schien.
»Wieso sollte ich Aufheiterung benötigen?«, fragte Alrik misstrauisch nach.
»Na ja, die ersten Nächte tragen Frost, da bist du doch immer schlecht gelaunt. Mutter meint, dann brauchst du freudige Ablenkung.«
»Soso, meint sie das.« Alrik griff sich das kleinste Teilchen. Sein Appetit war nicht besonders. War er eigentlich nie. Noch so eine Sache, die er dem Alter nicht verzeihen konnte. Wie hatte er früher doch alle Freuden genossen: Saufen, Essen, Tanzen, Lieben. Was war ihm geblieben? Er konnte kaum gucken, sein Gang war ein erbärmliches Schlurfen, über das Wasserlassen breiten wir den Mantel des Schweigens …!
»Was liest du da?«, fragte Mechtessa fröhlich. Ihre gute Laune war nahezu unverwüstlich. Nahezu. Alrik wusste: Eine Bemerkung über die ausladenden Hüften würden reichen, um auch seine Enkelin an den Rand des Abgrundes der Selbstachtung zu katapultieren, an dem er seit Jahren vegetierte.
»Das ist ›Wider Fron und Lehen‹. Eine ganz amüsante Schrift meines seligen Bruders. Wenn ich gewusst hätte, dass dieses wirre Geschwurbel eine solche Wirkung haben würde, hätte ich ihn damals rechtzeitig im Ententeich ersäuft. Heute ist das nun zu spät.«
»Das klingt nicht gut, Großvater. Ich finde, von seinem Bruder sollte man irgendwie gut sprechen.« Mechtessa kaute, während sie sprach, und schluckte schmatzend.
»Es gibt, Brüder, Mechtessa, über die möchte man nicht nur schlecht sprechen, sondern sie jeden Tag dabei beobachten, wie sie in der Niederhölle von einem Dreigehörnten gequält werden. Ja, ich meine es so. Du wärest womöglich heute mit einem bedeutenden Gatten aus dem Mittelreich verheiratet, wenn Du in das Grafenhaus Eslamsgrund geboren worden wärest.«
Mechtessa verzog den Mund und verdrehte die Augen. Jetzt kam die alte Leier In-deinem-Alter-war-ich-schon-Vater und so weiter. Doch Mechtessa war schneller: »Großvater, der Ulmenspaeter ist bei Mutter, um ihr ein paar Salze zu bringen. Er wollte auch mit dir sprechen! Vielleicht hat er ja ein Salz gegen schlechte Laune?«
Alrik überlegte kurz, nickte dann und schlug die unselige Schrift des Grafen Yesatan zu. »Lass ihn herbringen, vor allem wenn er ein Salz gegen bekloppte Brüder hat oder eines gegen das Alter!«
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