Geschichten:Aufbruch gen Dragenfels - Teil 5
Alissa sammelte ihre Waldläufer. Jetzt wurde es ernst. Sie wechselte noch mit Darian einen Blick, der ihr zunickte und ihr ein unsicheres Lächeln schenkte, um dann in an den besprochenen Stellen in Bereitschaft zu gehen.
Alissa war nervös, denn sie musste Leute in eine Schlacht führen, die bisher noch nie richtig gekämpft hatten. Und auch Alissas Erfahrungen waren eher auf den Übungshof zurückzuführen als auf große Schlachten. Als sie sich einmal zu ihren Leuten umdrehte, sah sie auch dort in den Gesichtern Nervosität, aber auch Neugier. In einigen Gesichtern sah Alissa aber auch Angst, was sie nicht weiter verwunderte, hatten ja die meisten von ihnen den Bogen oder das Schwert noch nie gegen andere Menschen erhoben.
In Gedanken versunken, ob sie denn auch das Richtige tat, verpasste Alissa den ersten Schuss von Trebuchet und erschrak sich erheblich, als das erste Geschoss sein Ziel im Dragenfels fand. Noch eine Weile würde sie mit ihren Waldläufern ausharren müssen, bis sie dann den halb zerstörten Dragenfels würde bestürmen können.
Darian auf der anderen Seite hielt es nach dem ersten Treffer kaum aus. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, und sobald der erste Stein sein Ziel getroffen hatte, hielt Darian nichts mehr. Er stürmte mit seiner Abteilung vor und eilte geradewegs auf das große Tor zu. Der zweite Schuss wurde abgegeben und Darian hatte sein Ziel fast erreicht. Er stand fast vor den Toren des Dragenfels als das zweite Geschoss auf ebendiesen herunterging. Jedoch war er, entgegen aller Warnungen, zu forsch an die Sache herangegangen. Er hatte zu früh seine Deckung aufgegeben, so dass er auch den Schützen auf einem der dragenfelser Türme nicht entdeckte. So hörte er nur ein Klacken, blickte erschrocken in die Richtung, wo das Geräusch herkam, und spürte wenig später einen Bolzen in seiner Kehle. Röchelnd brach Darian zusammen, um dann in Borons Arme zu sinken. Sein Trupp Waldläufer war aufgeregt, wussten sie doch nicht, was zu tun war. Gwynna war dann diejenige, die meinte, dass der Auftrag unbedingt ausgeführt werden musste, aber zuvor sollte zunächst der Schütze unschädlich gemacht werden.
Während vom Trebuchet das nächste Geschoss auf den Dragenfels flog, zogen die Waldläufer aus Darians Gruppe jeweils einen Pfeil aus dem Köcher, legten ihn auf ihre Sehne, spannten den Bogen und versuchten, den Schützen oben auf dem Turm auszumachen. Einige Pfeile flogen hoch in Richtung Turm, ob aber jemand getroffen hatte, ließ sich nicht so ganz ausmachen.
Edo meinte, dass da schon jemand getroffen haben müsste, da zunächst nichts weiter passierte. Also gingen sie weiter vor.
Was alle sehr verwunderte, war, dass das Tor vom Dragenfels nicht verschlossen war. Das schwere Eisengitter, welches normalerweise in einem solchen Fall gegen Eindringlinge heruntergelassen werden sollte, war ganz hochgezogen und machte auch keine Anstalten, irgendwie herunter krachen zu wollen.
Also schlichen die Waldläufer immer weiter in das Gemäuer, während das Trebuchet unablässig auf die ohnehin schon verfallene Burg schoss. Alissa wartete noch immer geduldig in ihrem Versteck und versuchte die Schüsse des Trebuchets mitzuzählen, um innerlich etwas ruhiger zu werden. Sie wusste genau, dass sie einen kühlen Kopf bewahren musste, wenn das Unterfangen ein Erfolg werden sollte. Sie hatte schon oft genug von kopflosen Manövern in irgendwelchen Schlachten gelesen und sie selbst wollte sich und ihre Leute nicht in ihr Verderben rennen lassen.
Die Gruppe, die zuvor von Darian geführt wurde, machte sich daran, das Innere des Dragenfelses zu betreten. Es war schon merkwürdig, dass kaum jemand da war. Nur der Schütze oben auf dem Turm konnte doch nicht allein eine ganze Burg verteidigen. Die Waldläufer waren vorsichtiger und betraten den Burghof mit gezogenen Waffen. Doch hatten sie eher mit einem Scharmützel gerechnet. Stattdessen häuften sich nur die Trümmer, die vom Trebuchet verursacht wurden. Verwundert ließen die Erlenstammer ihre Waffen sinken und sahen sich um. Da war nichts, was irgendwie auf irgendwelche Bewohner schließen ließ. Und weil sie gerade den Blick nicht nach oben richteten, sondern ihre Umgebung untersuchten, bemerkten sie das Geschoss vom Trebuchet zu spät. Das Geschoss donnerte in den Hof und fünf der Erlenstammer Waldläufer wurden unter dem Geschoss selbst oder den herumfliegenden Trümmern erschlagen.
Alissa wartete so lange, bis sich die Sonne über dem Berg sehen ließ. Das war das abgemachte Zeichen, dass das Trebuchet das Feuer einstellte und die Waldläufer um Alissa sich auf den Weg in den Dragenfels machen konnten.
Vorsichtig schlichen sie sich heran, nutzen jede Deckung aus, um ja nicht das Ziel eines eventuellen Scharfschützen zu werden.
Der Weg zum Tor bereitete den Waldläufern keinerlei Schwierigkeiten. Niemand stellte sich Alissa und ihren Leuten in den Weg. Als sie jedoch auf das Tor zukamen, sahen sie vor dem Dragenfelser Tor den leblosen Darian liegen.
Alissa war schockiert. Sie wurde kreidebleich, sah sie doch einen ihrer besten Leute mit einem Bolzen im Hals tot auf dem Boden liegen.
Sie sah sich schnell um, bedeutete ihrer Gruppe, ihr den Rücken frei zu halten, und lief in geduckter Haltung zu Darian herüber. Sie wollte wissen, ob er vielleicht doch noch lebte, doch als sie seine Hand berührte, war diese schlaff und wurde allmählich kalt. Zudem war kein Atemgeräusch von ihm zu hören.
Alissa schlug ein Boronsrad und sprach ein kurzes Gebet zu Boron, dass er Darians Seele gnädig sein sollte.
Sie winkte ihre Leute zu sich herüber und flüsterte: "Wenn Darian schon hier ist, obwohl eigentlich etwas anderes ausgemacht war, kann es sein, dass irgendetwas vorgefallen ist. Seid also auf der Hut."
Ihre Waldläufer nickten und Alissa bedeutete ihnen, dass sie nun ins Innere des Dragenfelses vordringen würden.
Im Hof selbst konnten die übrigen Waldläufer kaum fassen, was gerade geschehen war. Alle starrten auf ihre erschlagenen Kameraden und keiner war in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
Alissa sah vom Tor des Dragenfelses aus ein paar Gestalten im Hof der Burg stehen, konnte aber nicht ausmachen, wie viele es waren. Sie zeigte ihren Waldläufern mit Handzeichen, die sie zuvor verabredet hatten, dass dort Personen waren, sie jedoch nicht sehen konnte, wer oder wie viele es waren.
Alissa bedeutete Leta, einer sehr guten Bogenschützin, sich schussbereit zu machen, denn Alissa wollte keinerlei Risiko eingehen.
Sie selbst machte sich ebenfalls schussbereit, während die übrigen Waldläufer ihre Schwerter zogen.
Die beiden Frauen legten an, zielten und ließen den Pfeil in dem Moment los, wo sie die Gestalten im Hof mit dem Rücken zu sich sahen.
Letas Pfeil ging daneben, aber Alissa traf mit tödlicher Sicherheit einen Mann in den Rücken. In dem Moment stürmten die übrigen Waldläufer los. Wild rannten sie auf den vermeintlichen Feind zu. Als sie jedoch sahen, dass sie ihre eigenen Kameraden vor sich hatten, brachen sie den Angriff ab.
Alissa wunderte sich zunächst, warum kein Kampfeslärm zu hören war, als sie dann jedoch mit gezogenem Schwert näher trat, erkannte sie, warum niemand kämpfte. Wieder wurde sie kreidebleich, denn sie hatte einen ihrer eigenen Leute niedergeschossen. Schnell lief sie zu dem Getroffenen, um zu sehen, ob sie noch etwas retten könnte. Jedoch kam auch hier alle Hilfe zu spät. Sie schloss dem Toten die Augen und sprach auch hier ein kleines Gebet zu Boron.
Dann wandte sie sich den Resten aus Darians Truppe zu. Sie sah sich drei völlig verstörten Waldläufern gegenüber, die immer noch damit haderten, dass sieben ihrer Kameraden umgekommen waren.
Alissa versuchte, aus ihnen herauszubekommen, was vorgefallen war, jedoch kamen dabei nur Bruchstücke hervor, die keinen geordneten Sinn ergaben.
Sie suchte noch drei Leute aus ihrer eigenen Gruppe aus, um die gefallenen Waldläufer zurück zum Lager zu tragen und die verwirrten auf dem rechten Weg zu begleiten. Niemand der Gefallenen sollte hier einfach so liegen bleiben.
Alissa hatte also nun noch sechs ihrer Leute und musste mit ihnen nun den Junker stellen. Aber auch ihr kam es merkwürdig vor, dass sich niemand ihr und ihren Waldläufern in den Weg stellte.
Sie machten sich daran, die Burg von oben bis unten durchzukämmen, wobei sie mit den oberen Stockwerken anfingen.
Hier waren einige Zimmer völlig unbenutzt oder aber vom Beschuss durch das Trebuchet vollständig zerstört. Zu finden war hier nichts und niemand. So ging es auch in den anderen Stockwerken weiter, wobei sich die Waldläufer immer weiter nach unten vorarbeiteten. Alissa war das ganze nicht geheuer. Da musste doch irgendwo jemand sein. Der Junker kann doch nicht so dumm sein und seine Burg völlig allein und ohne Bewachung zurücklassen. Wenn man sich allerdings den erbärmlichen Zustand der Burg und auch deren Ausstattung ansah, konnte Alissa sein Verhalten in Ansätzen noch nachvollziehen.
Die Waldläufer suchten und suchten, fanden aber nichts. Nur die Kellergewölbe hatten sie sich noch nicht näher angeschaut. Und vielleicht hatte sich der Junker dort verschanzt, um seinem Schicksal zu entgehen.