Geschichten:Ausgeschwärmt – Efferd

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Dämonenbrache, Golgari-Schrein, 27. Boron

Als Lorine am Morgen erwachte, hörte sie den Regen. Ganz leise hörte sie ihn, aber unablässig. Sie kuschelte sich noch ein wenig in ihre klamme Decke, machte noch einen Augenblick die Augen zu, nur für einen winzigen Augenblick und drehte sich noch einmal um. Aufstehen wollte sie nicht, zumal sie gewiss raus in den Regen musste, raus in die Kälte, um nach den Pferden zu sehen. Es schüttelte sie schon allein bei dem Gedanken und deswegen drehte sie sich noch einmal um, machte aber die Augen einen Spalt weit auf und linste hinaus. Die beiden Schlafstätten neben ihr waren verwaist. Sie öffnete ihre Augen weiter. Doch noch immer waren die beiden Schlafstätten verwaist. Da setzte sie sich ruckartig auf, doch die beiden Schlafstätten blieben einfach verlassen. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend drehte sie sich da um.

Zumindest ihre Pagenmutter lag noch auf ihrer Schlafstatt. Das beruhigte Lorine. Zumindest irgendwie. Irgendwie...

Sie schälte sich aus den Decken, stand auf und ging zu den beiden Lagern der anderen Schwestern hinüber. Sie waren kalt. Dort hatte schon längere Zeit niemand mehr gelegen.

„Seltsam“, wisperte sie leise und wandte ihren Blick zu ihrer Pagenmutter, an deren Bett sie sich niederließ, zuerst einmal nach ihr sah, jedoch schnell feststellte, dass sie noch immer ohne Bewusstsein war und dann ein Gebet zum Herrn Boron sprach, so wie sie es jeden Morgen tat, meist jedoch mit allen drei Schwestern zusammen. Als auch dann noch keine der anderen beiden Schwestern aufgetaucht war, streifte sie sich ihre dicke, schwarze Cappa über und begab sich in den Regen hinaus.

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Ruhig lag der Praiosborn da. Ganz ruhig. Und ganz blau. Tiefblau. In einem Boot trieb sie auf dem See. Trieb so vor sich hin. In die Mitte des Sees. Ganz von selbst. Dorthin wo das Blau des Wassers am Tiefsten, am Kräftigste war.

„Wir müssen lernen...“, hob eine Stimme ihre gegenüber im Boot an, „... loszulassen.“

Sie blickte auf und erkannte ihre Base Liadain ni Rían, Hüterin des Rabens im Tempel der gütigen Etilia auf dem Greifenpass. Die Geweihte stand vor ihr im Boot, die Arme weit ausgebreitet, die Augen geschlossen.

„Loszulassen“, fuhr sie fort, „Und dem Raben zu vertrauen. Denn ihm gehört unser Leben. Er wird uns zu sich rufen, wenn die Zeit gekommen ist. Wenn unsere Zeit gekommen ist. Und nicht davor.“

Nurinai blickt zu ihr auf. Über Götterläufe war sie ihre Lehrmeisterin gewesen. Von ihr hatte sie so viel gelernt, so unglaublich viel.

„Und nicht davor“, wiederholte sie leise, „Und nicht davor!“

Nun öffnete sie ihre Augen und blickt Nurinai direkt an.

„Und nicht davor!“, wiederholte sie erneut.

„Und nicht davor...“, wisperte auch Nurinai.

Und ruhig lag der Praiosborn da. Ganz ruhig. Erschreckend ruhig. Als hüte er ein Geheimnis. Ein schreckliches Geheimnis. Ein leichtes Kräuseln und...

... Nurinai erwachte. Schreiend. Schweißgebadet. Unter ihr die Brache. Modrige Erde. Gestrüpp. Dürre Halme. Sie blickte zum Himmel empor. Regen fiel auf sie herab. Tropfen um Tropfen. Nurinai setzte sich auf und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Robe übers Gesicht. Fröstelte. Blickte noch immer zum Himmel hinauf. Dicke Wolken. Finstere Wolken. Dann blickte sie sich um und erkannte doch nichts anderes als... Brache. Brache so weit ihr Auge reichte. Alles Brachland. Nichts sonst. Nur Brache. Brache. Brache.

Sie schluckte schwer, versuchte sich die nahenden Tränen aus den Augen zu wischen, kauerte sich auf dem Boden zusammen, wie ein Kind im Leib seiner Mutter und wimmerte: „Herr, warum hast Du mich verlassen? Warum hast Du mich ver...“

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„So ne Scheiße!“, fluchte die Skaldin vollkommen außer sich, „Die haben mich... ausgesetzt! Die haben mich tatsächlich... ausgesetzt! AUSGESETZT!“

Scanlail brüllte vor Zorn und Wut: „Und ihr wollt meine Schwestern sei? Ihr? Ihr... ihr... ihr verlogenes Pack! Ihr hinterhältigen... falschen... verschlagenen... SCHWESTERN?“

Sie rang um Atem.

„Ihr kommt jetzt sofort raus! SOFORT! Das ist nicht witzig, ganz und gar nicht witzig. Es ist nicht mal komisch. Es ist…“, sie schaute sich panisch um, konnte aber niemanden sehen, „IHR KOMMT JETZT RAUS! SOFORT!“

Doch es kam niemand. Sie wütete und tobte und schrie und brüllte, doch es kam niemand. Was auch immer sie tat, wohin auch immer sie ging, sie traf auf niemanden, erst recht nicht auf ihre Schwestern. Da waren nur verkrüppelte Büsche und Sträucher, tote Bäume, stinkende Tümpel und Morast, soweit das Auge reichte. Lediglich eine einzelne Krähe zog ihre Bahnen über ihr. Einsam und verlassen wie Scanlail selbst. Als der Regen einsetzte, da verschwand sie und Scanlail war allein, ganz allein.

In ihr keimte der Zweifel. Warum hatten ihre Schwestern sie allein gelassen? Warum hatte sie sie hier zurück gelassen? Hatte sie nicht immer schon das Gefühl gehabt, nicht wirklich dazuzugehören? Hatten ihre Eltern sie nicht immer schon anders behandelt? Ihre Schwestern bevorzugt? War nicht sogar das Mädchen aus Tobrien ihr vorgezogen worden? Ihr, die sie doch das eigene Kind ihrer Eltern war? Ihr eigenes Fleisch und Blut? Und was war sie ihnen wert gewesen? Ob das alles hier geplant worden war? Ein Komplott um sie loszuwerden? Wie hätten sie es auch sonst bewerkstelligen sollen? Ohne das es auffiel? Und das hier, das fiel nicht auf. Wie viele waren schon in der Brache geblieben? Fernab der Heimat und der Götter? Und nach wie vielen hatte man gesucht und hatte sie gefunden?

Es war vorbei. Ihr Leben war vorbei. Sie würde hier sterben und keiner würde sie suchen. Sie war verloren. Sie stolperte. Fiel. Ein stechender Schmerz in ihrem Bein. Dann konnte sie nicht mehr aufstehen. Keinen Schritt mehr tun. Sie hielt sich die schmerzende Stelle. Hielt sie mit beiden Händen. Der Schmerz pochte, er stach. Und der Regen mischte sich mit ihren salzigen Tränen.

Oh, wie hatte sie ihre Schwestern geliebt. Wie sehr liebte sie sie sogar jetzt. Jetzt, da sie sie verraten hatten.

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Nurinai ging den ganzen Tag. Ging immer weiter. Durch den Regen. Durch die Brache. Über Gestrüpp und Dornen, die ihr nicht nur ihre Robe ruinierten, sondern auch ihre Beine aufrissen. Wenn sie fiel, dann stand sie wieder auf. Ihre Knie und Hände blutig. Schrammen im Gesicht. Es schmerzte. Es schmerzte jedes mal, aber dieser Schmerz, ja dieser Schmerz, der war irgendwie erträglich, der andere, der seelische Schmerz, der jedoch nicht. Er raubte ihr den Verstand, brachte sie an die Grenze des Wahnsinns und vielleicht auch darüber hinaus. Es war die Ferne zu ihrem Herrn. Die Ferne quälte sie. Und er war fern. So unglaublich fern. So unglaublich weit entfernt, dass sie überhaupt nichts mehr spürte, kein bisschen Nähe und auch keinerlei Verbindung. Es war, als wäre ein Loch in ihrem Innerem und es verzehrte alles. Alles. Einfach alles. Einfach so.

Sie ging weiter. Immer weiter. Wusste nicht, ob es noch regnete oder die Sonne vielleicht schon schien. Nahm kaum noch etwas um sich herum wahr. Wusste nicht mehr wo sie war oder wo sie hin ging. Und traf auf jene, die sie nicht hatte retten können. Fremde und Vertraute. Alte und junge. Aus leeren Augenhöhlen starrten sie sie an. Verrottetes Fleisch an ihren Körpern und jeder noch so zarte Windhauch riss es von ihren Knochen. Ein schmatzendes Geräusch und es fiel zu Boden, offenbarte dicke gelbliche Maden, die in ihrem Innersten herumwühlten, sich durchfraßen und wuchsen und wuchsen und wuchsen, sich verpuppten nur um sich dann wieder aus ihrem Kokon zu schälen und ihre Brut in das tote Fleisch zu legen, auf dass wieder Maden schlüpften und fraßen und wuchsen und…

Das Allerschlimmste jedoch war, dass sie sie hörte. Sie hörte sie in ihrem Kopf. Ihre Stimmen. Jede einzelne, aber alle durcheinander. Immer wieder. Die ganze Zeit.

„Warum habt Ihr mich sterben lassen?“

„Habe ich das Leben etwas nicht verdient?“

„Ihr habt nicht alles gegeben.“

„Nicht alles getan. Warum habt Ihr nicht alles getan?“

„Es hat nicht gereicht. Ihr wart nicht gut genug.“

„Was seid Ihr für eine Geweihte? Ihr bringt nur den Tod.“

„Nur Verderben und Leid.“

„Ihr raubt den Menschen ihr Leben! Euer Gott raubt den Menschen ihr Leben. Und so jemanden dient Ihr?“

„Wie könnt Ihr nur weiterleben? Da Ihr so viele habt sterben lassen.“

„Einfach so. Und es war Euch gleichgültig. All die Leben war Euch doch gleichgültig.“

„Habt nur zugesehen.“

„Gewartet bis der Rabe kommt.“

„Der pickt uns zuerst die Augen aus.“

„Dann reiß er uns den Bauch auf.“

„Weidet sich an unseren Eingeweiden.“

„An unserem Fleisch.“

„Wie ein Metzger.“

„Und so jemand dient Ihr?“

„Einem Metzger.“

„Und was tut Ihr?“

„Ihr helft ihm dabei!“

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Der Regen war tatsächlich nicht so schlimm, wie das Mädchen erwartet hatte. Es nieselte lediglich ein bisschen. Die Pferde hatten sich draußen über das wenige Gras hergemacht, welches um den Golgari-Schrein herum wuchs. Viel fanden sie da nicht, aber sie hatten etwas zu tun, zumal Beißi das meiste natürlich für sich beanspruchte. Immer wenn eines der anderen Pferde eine interessante Stelle mit saftigem Gras gefunden hatte, dann kam er an und drückte es weg, um selbst zu fressen, wozu er eigentlich gar nicht kam, weil da schon wieder eines der anderen Pferde eine interessante Stelle mit noch saftigerem Gras gefunden hatte. Sonderlich intelligent war Beißi nämlich nicht. Das wusste Lorine selbstredend. Und deswegen war es auch kein Problem, dass sie ihnen nun allen ein bisschen Hafer fütterte, natürlich drängelte sich Beißi wieder mal vor, bemerkte aber nicht, dass Lorine ihn so nur austrickste, denn was sich hinter seinem Rücken abspielte, das konnte der gute Beißi nicht sehen. Ja, wirklich helle war er nicht. So wie mancher Ritter, durchfuhr es Lorine schelmisch.

Danach suchte sie nach den beiden Schwestern. Rief immer wieder: „Nurinai? Scanlail?“ Eine Antwort erhielt sie jedoch nicht. Erhielt sie nie. Ganz gleich wie lange sie rief. Als ihre Stimme schließlich versagte, da hörte sie auf zu rufen, suchte jedoch weiter, auch wenn sie sich nicht weit vom Schrein weg traute. Zu groß war ihre Angst, vor dem was in der Brache lauerte und sie war ja noch so klein, nur ein Kind und was vermochte sie schon zu tun?

Und so wie es ihre Art war, betete sie. Diese mal jedoch nicht zum Herrn über Schlaf und Tod. „Unberechenbarer, Herr des Wassers, bitte lass Milde walten und zeige Dich gnädig: Bitte mach, dass der Regen aufhört. Ich werde Dir das nie vergessen. Ganz gewiss nicht.“


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Texte der Hauptreihe:
K1. Praios
K2. Firun
K3. Rondra
K4. Boron
K5. Efferd
K9. Travia
K10. Hesinde
K11. Tsa
K12. Phex
K14. Etilia
27. Bor 1042 BF
Efferd
Boron


Kapitel 5

Peraine
Efferd


Kapitel 30

Efferd
Autor: Orknase