Geschichten:Ausgeschwärmt – Rahja und die Musik
Dämonenbrache, 28. Boron
„Nella?“, entfuhr es Scanlail da plötzlich, als sie das Mädchen neben sich sitzen saß.
Die junge Schäferin schaute sie lächelnd an: „Den Zwölfen zum Gruße!“
„Die Zwölfe auch mit dir, Nella“, erwiderte sie etwas verunsichert, „Was machst du denn hier?“
„Ich?“, erwiderte das Mädchen und zeigte mit ihrer rechten Hand auf sich selbst, „Ich bin eigentlich gar nicht da.“
Die Skaldin lachte kehlig: „Was soll das denn heißen? Natürlich bist du da! Ich seh dich doch!“
„Ah das!“, sie winkte ab, „Eigentlich bin ich gar nicht da. Ich bin zuhause. Bei meinen Schafen. Die kann ich doch nicht alleine lassen. Die bekommen doch bald Lämmer.“ Um ihre Aussage zu bekräftigen nickte sie energisch. „Was Ihr nur wieder denkt! Was sollte ich denn hier bei Euch in der Brache?“ Vorwurfsvoll blickte das Mädchen sie mir ihren tiefbraunen Augen an.
„Ja... aber... aber... ich seh dich doch!“, beharrte die Skaldin und deutete geradezu verzweifelt auf das Mädchen neben sich.
„Ja“, nun nickte Nella eifrig, „Ja, klar sehr Ihr mich, weil Ihr Euch mich einbildet.“
„Ein... was?“, entfuhr es ihr.
„Einbildung. Halluzination“, half das Mädchen nach, „Wenn man Dinge sieht, die gar nicht da sind.“
„Eine Halluzination will mir erklären, dass sie eine Hallu...“, Scanlail lachte kehlig, „Ich... ich... ich versteh‘s nicht.“
„Was gibt‘s denn da nicht zu verstehen?“, fragte das Mädchen schulterzuckend, „Ich bin nicht da, weil ich zuhause bin, bei meinen Schafen, die brauchen mich, weil die bald Lämmer bekommen und ich da bei ihnen sein muss. Daher kann ich gar nicht hier bei Euch in der Brache sein – jetzt denkt doch mal nach! Was für einen Unfug Ihr da gerade redet! Und weil ich nicht da sein kann, bildet Ihr Euch mich eben nur ein, was gibt‘s denn da nicht zu verstehen?“
Mit gerunzelter Stirn schaute die Skaldin die junge Schäferin an.
„Beweis es“, forderte die Rían ihre Halluzination auf.
Nella kicherte vor sich hin: „Wie soll das denn gehen?“
„Dann lass dir... eben etwas einfallen!“
„Dann... dann...“, das Mädchen überlegte, „Dann spielt mir was vor.“
„Und wie sollte das beweisen, dass Du gar nicht wirklich da bist?“
„Das tut es nicht, aber dann hab ich wenigstens was davon und langweile mich hier bei Euch nicht...“
„Du bist eine Halluzination! HALLUZINATION! Du kannst dich gar nicht langweilen.“
„Woher wisst Ihr das so genau?", sie legte ihren Kopf leicht schräg und musterte Scanlail, "Wart Ihr schon mal eine Halluzination?“
„Nein... Nein, natürlich nicht. Aber... aber das ist doch logisch. Wie sollte das denn überhaupt gehen? Eine Halluzination die sich langweilt, wo gibt's denn so was?“
„Na hier! Und Ihr seht doch, dass es geht. Warum fragt Ihr dann so blöd?“
Scanlail schlug sich gegen ihre Schläfe und rief laut: „AAAAHHHH! Ich werd‘ wahnsinnig! Ich werd‘ wirklich wahnsinnig!“
Aber Nella gab nicht nach: „Wie sieht es jetzt aus? Spielt Ihr was? Das Koscher Wiegenlied aus Eurer Heimat gefällt mir ganz besonders, spielt Ihr mir das?“
Nun seufzte die Skaldin schwer: „Und worauf sollte ich das denn spielen?“
„Na auf der Flöte, die ich Euch geschenkt habe.“
„Auf der...“, nun schüttelte sie ihren Kopf, „Die ist absoluter Mist! Die funktioniert doch gar nicht! Aus der kommt kein einziger Ton!“
„Ach, Ihr habt sie doch noch gar nicht ausprobiert.“
„Und ob! Mehrfach sogar. Aber aus diesem dummem Ding kommt einfach kein einziger Ton raus.“
„Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass Ihr gar nicht spielen könnt?“, herausfordernd schaute das Mädchen sie an, „Kann ja jeder von sich behaupten, dass er eine Skal...“
„So“, entgegnete sie nun der jungen Schäferin zornig und zog die kleine Flöte aus einer ihrer Innentaschen heraus, „Pass auf. Ich zeig dir gleich, was für einen Scheiß du mir geschenkt hast.“
Sie setzte die Flöte an die Lippen, die Finger auf den schmalen Öffnungen und blies und... ein Ton erklang. Ein Ton erklang!
Verblüfft und auch ein bisschen entsetzt blickte sie drein. Blies erneut. Wieder erklang ein Ton. Sie wechselte die Finger, ließ eine andere Öffnung frei, blies wieder hinein und wieder erklang ein Ton.
„Das... das verstehe... verstehe ich nicht“, erwiderte sie seltsam Kleinlaut, „In Praiosborn hat sie nicht funktioniert. Ganz sicher nicht.“
Nella trug ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen. Sie zuckte mit den Schultern und erklärte: „Die Brache hat ihre eigenen Gesetze. Ihre ganz eigenen. Spielt Ihr mir jetzt das Wiegenlied aus Eurer Koscher Heimat? Ihr spielt und ich singe?“
Scanlail spielte und Nella sang und in Gedanken sprach die Rían ein leises Gebet: ‚Herrin der Morgenröte, wie großzügig hast Du mich mit Deinen Geschenken bedacht. Ich werde Dir auf ewig dafür verbunden sein!‘
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