Geschichten:Blut und Stein - Der Greifenbund

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Der Greifenbund


Burg Greifenklaue zu Uslenried, am Abend des 1. Praios 1013 BF


Nachdenklich stand Wulf im Krähennest, wie man in der Burg die Plattform auf dem First des Westflügels gemeinhin nannte. Er hatte bewußt diesen Ort gewählt, nicht den Bergfried; von letzterem konnte man weiter in das Land hineinsehen, doch das Gebäude, auf dem sie nun standen, versperrte den Blick in den Burggarten. Aus dem Krähennest jedoch war Garten gut einzusehen, auch der Zugang zur Familiengruft.

Fast vier Monate war es nun her, dass sein Vater in der Schlacht auf den Silkwiesen gegen die Orken gefallen war; die sterblichen Überreste ruhten nun unten in der Gruft, bei Mutter und vielen weiteren Ahnen. Vier Monate, die Wulf nun schon als Baron über das Land der Familie zu herrschen hatte, vier Monate, in denen er trotzt seiner Knappenjahre noch etliches hatte lernen müssen. Heute hatte das erste Jahr unter seiner Herrschaft seinen Anfang genommen, eine Lehnspflicht, die er gerne erst in einigen Jahren angetreten hätte. Die Bürde lastete schwer auf seinen Schultern, und an manchen Tagen hatte er das Gefühl, unter der Last der Erwartungen zu zerbrechen.

Das Gesinde gehorchte zwar seinen Anweisungen, und doch empfand er es als das Dienstvolk seiner Eltern, nicht sein eigenes; einzig vertraut waren ihm seine jüngeren Schwestern, zu denen er trotz der langen Abwesenheit seiner Knappenjahre schnell wieder Zugang gefunden hatte. Insbesondere Yalinda, die gute zehn Jahre jünger war als er und eigentlich noch ein Kind, litt sehr unter dem Verlust der Eltern. Als großer Bruder war er in den letzten Wochen ihr Rückhalt geworden. Rondrina nur zwei Jahre jünger als er, tat als junge Geweihte im Rondratempel ihren Dienst, doch dieser lag unmittelbar vor den Toren der Burg, und so sahen sie sich häufig.

Dennoch fühlte er sich einsam. Dinge hatten in Bewegung kommen müssen, für das Land, die Familie, und auch ihn selbst. Wann immer es ging suchte er seinen Großvater auf, der sich freute, dem Enkel mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können. Und als Landvogt von Silz verfügte Roderich von Steinfels-Quellgrund nicht nur über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, sondern auch die notwendigen Beziehungen, um Wulf einen möglichst guten Stand zu verschaffen.

Großvater Roderich hatte die Namenlosen Tage auf der Burg verbracht; nicht nur auf Wulfs Bitten hin, sondern auch, um an diesem ersten Tag bei seinem Enkel zu sein; den ersten Tag des Praiosmondes unter einer neuen Herrschaft hielt er nämlich für einen besonderen Tag. Und so hatte er Wulf auch an diesem Abend ins Krähennest begleitet. Und tatsächlich war Wulf für den alten Mann etwas besonderes, denn er war der erste seiner Nachkommen, der in Baronswürden stand, denn seit dem Entstehen dieses eigenständigen, aus zwei Rittergeschlechtern stammenden Zweiges hatte die Familie Steinfels-Quellgrund lediglich Vögte der Krone als höchsten Adelsrang vorzuweisen gehabt.

Nun blickten Großvater und Enkel schweigend über das Land, hin nach Westen, wo die Praiosscheibe rotgolden hinter den fernen Koschbergen zu versinken begann.

Schließlich brach der Landvogt das Schweigen. »Weißt Du, mein Junge, es gibt da einen alten Brauch. Deine Mutter, die Zwölfe haben sie selig, hat mir davon erzählt. Man mag davon halten, was man will, doch oftmals ist in den alten Geschichten ein Körnchen Wahrheit. Und wenn man darum weiß, warum sollte man sein Schicksal dann nicht selbst mitbestimmen, und wenn es nur um Haaresbreite ist?«

Wulf blickte auf; sein Großvater sprach in Rätseln. »Was meinst Du, Großvater?«

»Es gibt alte Legenden, nach denen sich Land und Herrschaft miteinander verbinden müssen, damit nicht Leid und Unglück über alle hereinbrechen. Und ein solcher Bund mit dem Land muss mit Blut besiegelt sein.«

»Mit Blut?«

Großvater Roderich nickte. »Komm mit.« Damit wandte er sich um; doch er stieg nicht die schmale Stiege hinab, sondern trat lediglich an die gegenüberliegende Seite des Krähennests, von der man in den Burghof hinabschauen konnte. »Siehst Du den Stein?« Wulf, der ihm gefolgt war, nickte. »Natürlich; der Greifenstein. Er ist älter als die Burg, älter als die Herrschaft meiner Familie. Die Form auf der Oberseite, sie soll der Fußabdruck eines Greifen sein.«

Roderich klatsche in die Hände, nur einmal. »Ganz recht, mein Junge. Und die Legende besagt, dass eben der Stein ein solcher Ort des Bundes ist. Es erfordert ein kleines Opfer von Blut, den Bund zu besiegeln. Und egal, ob man daran glauben will oder nicht, es kann nicht schaden.«

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Wulf hatte über die Worte seines Großvaters nachgedacht. Alte Legenden, solche gab es zuhauf. Von solchen Bünden eines Herrschers mit dem Land hatte er noch nie gehört, doch vielleicht gehörte ein solches Wissen auch nicht in jedermanns Ohren. Was wäre, wenn ein Bauersmann ein solchen Bund vollzöge? Wäre dann der rechtmäßige Herrscher vom Unglück verfolgt? Auf der anderen Seite gab es Geschichten von Feenpakten, Wechselbälgern und dergleichen. Und so fand er in dieser Nacht kaum Schlaf, zu sehr bewegten ihn die Gedanken. Hatte seine Ahnen diesen Bund auch besiegelt? Und was war wohl jenen widerfahren, die vor seiner Familie über dieses Land geherrscht hatten?

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Als er am Morgen erwachte fühlte er sich leer, ausgelaugt, zu unruhig war der Schlaf gewesen. Und er wollte Gewissheit haben, also suchte er Großvater Roderich auf. Als dieser ihm bestätigte, dass seines Wissens nach mindestens Wulfs Vater und zuvor dessen Vater diesen Bund eingegangen waren, fasste Wulf einen Entschluss. Er würde sich auch darauf einlassen, doch erst am Folgetag.

Im Licht des Sonnenuntergangs, so hatte er es entschieden, wollte er das Ritual vollziehen. Großvater Roderich, Rondrina und Yalinda waren neben dem Hofmagus Aldoberion Toppeller als einzige zugegen; dass Gesinde war mit anderen Aufgaben betraut worden. Der Magus hatte Wulf zudem in seinem Vorhaben bestärkt, denn auch er konnte sich an entsprechende Geschichten und Ereignisse erinnern. Erst hatte es danach ausgesehen, als ob ihm das Wetter einen Strich durch sein Vorhaben machen wollte, denn am späten Nachmittag hatte es ordentlich zu regnen begonnen. Rechtzeitig vor der Abendsonne hatten sich die Wolken aber verzogen, und das Licht des Sonnenuntergangs tauchte den Burghof, von den regennassen Ziegeln zurückgeworfen, in glänzendes Licht.

Nun stand Wulf vor dem etwa mannshohen Findling. Er hatte das Schwert der Barone Uslenrieds gegürtet, das Schwert Praifang, die Waffe Praiowulfs, der als erster der Familie die Baronswürde getragen und die Burg errichtet hatte. Dazu hatte er den Wappenrock angelegt; nicht in den Farben der Familie, sondern in den Farben der Baronie. Auf ein aufforderndes Nicken des Magus hin erklomm er den Fels, bis er auf dessen Oberfläche zu sitzen kam; dann zog er die Schwertklinge und ritze damit den Zeigefinger der linken Hand. Blutstropfen quollen hervor; er strich den Finger aus, dass es mehr wurden, und ließ den Lebenssaft in die gezackte Mulde tropfen, die der Sage nach von einer Greifenklaue stammte. Als der Boden des Klauenabdrucks von seinem Blut bedeckt war, steckte er die Klinge zurück in die Scheide. Er blickte auf, und der Widerschein der untergehenden Praiossonne blendete ihn für einen Augenblick.

Dann sprang er vom Stein hinab, nicht ohne dabei noch einen Blick zu dem Abdruck der Greifenklaue zu werfen. Das Blut darin – sein Blut – war verschwunden, ganz so als ob der Stein es aufgesogen hätte.



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Texte der Hauptreihe:
1. Pra 1013 BF zur abendlichen Phexstunde
Der Greifenbund


Kapitel 1

Autor: CD