Geschichten:Boron und Tsa
Diese Briefspielgeschichte beschreibt, wie es dazu kommt, dass der Borongeweihte Bishdaryan von Tikalen im Boron 1038 BF das Perricumer Kloster des Vergessens in Begleitung einer Tsageweihten hinter sich lässt und eine Kunstausstellung im horasischen Rigalento besucht.
Strandgut
Unbarmherzig rangen Rondra und Efferd miteinander. Haushoch warf Efferd seine Wellen gegen Rondras Zürnen, und irgendwo auf dem Darpat in Richtung Perricum kämpfte ein Fährschiff gegen die Gewalten der beiden Himmlischen.
(Satinav atmet)
Langsam ratterte der kleine Karren über die regennassen Straßen auf die Pforten des Klosters des Vergessens zu. Drei Gestalten in ärmlicher Kleidung begleiteten diesen. Einer führte das Maultier, zwei weitere folgten dem Karren und halfen ab und an, wenn sich dieser anschickte in dem aufgeweichten Schlamm zu versinken. Endlich jedoch gelangte der kleine Tross an die Pforten des Klosters.
Der stämmigste der drei schlug kraftvoll und dröhnend mit der Hand gegen das Holz. Einige Augenblicke vergingen, in denen nur das Prasseln des Regens zu hören war, als dann endlich doch ein Guckloch in der Tür geöffnet wurde. Eine mürrische Frauenstimme erklang: „Boron zum Geleit, wer verlangt zu dieser Stunde noch Einlass?“
„Boron zum Geleit…“, murmelten alle drei. Der Stämmige räusperte sich und fuhr fort: „Gnä' Frau, wir haben hier jemanden, den wir gerne in eure Obhut übergeben wollen würden.“
„Ist er bereits mit Golgari gegangen?“
„Sie, gnä‘ Frau. Und… nun… also wir sind uns da nicht so sicher…“ Hilfesuchend schaute der Sprecher zu seinen Begleitern, Wasser rann ihnen in steten Strömen von den breiten Hutkrempen.
„Was heißt hier ‚ihr seid euch nicht sicher‘?“, erklang es barsch.
„Also, der Alrik meinte sie sei bei Boron, das könne ja niemand überlebt haben. Aber der Selm meinte sie kann ja gar nicht tot sein, ist ja schließlich eine Tsadienerin.“
„Atmet sie noch?“
„Manchmal…. glaub ich…“
„Manchmal?.. Was meint ihr mit manchmal?“ Die Frau hinterm Tor wurde immer gereizter, und in der Nähe hörte man ein unterdrücktes Kichern. „Bei den Göttern, Hesinde hat es anscheinend nicht gut mit euch gemeint! Joran, lauf und hol einen der Geweihten, und ihr, tretet einen Schritt zurück, damit ich die Tür öffnen kann.“
(Satinav atmet)
„Nein Boljew, lass den Eimer stehen! Wir sind noch nicht fertig mit Malen!“ Die rothaarige Frau sprang auf und nahm dem alten Mann sanft aber bestimmt den vollen Eimer aus der Hand.
„Ich weiß, du magst es gerne ordentlich, und ich verspreche dir auch hinterher alles wieder sauber zu machen, aber jetzt möchte ich noch etwas mit Elfert malen.“
Der Angesprochene schaute etwas resigniert auf das Kreidegekritzel am Boden. Elfert war noch immer dabei, einen Kasten um einen Kreis zu ziehen. Als sich Boljew schulterzuckend abwandte, gesellte sich Ryann wieder zu ihm hinunter auf den Boden. Etwas argwöhnisch vergewisserte sie sich noch mal, dass Boljew nicht mit dem nächsten Eimer angetrottet kam, aber als sie sah, dass er von Schwester Khalida angesprochen wurde, entspannte sie sich und widmete sich wieder der bunten Malerei. Sie begann sorglos ein paar einfache Blümchen um Elferts verbissen gezeichneten Kasten zu malen, welche aber sofort von ihrem Zeichenpartner gleich wieder eingekästelt wurden.
Zehn Tage war sie nun schon hier. Zehn Tage in denen sie auf der Suche nach sich selbst war. An viel konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie wusste nichts mehr von dieser schicksalsträchtigen Nacht auf dem Darpat, als das Fährfloß, auf dem sie sich befand, gegen Felsen geworfen wurde.
Das erste, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie irgendwann mit einem brummenden Kopf und schmerzenden Gliedern in einem relativ weichen Bett erwachte. Anfangs wusste sie noch nicht einmal wie sie hieß, doch war ihr das auch in dem Zustand reichlich gleichgültig. Als sie der Person neben ihrem Bett gewahr wurde, lächelte sie diese glücklich an und sank sogleich in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Ryann konnte bis heute nicht sagen, woher sie wusste, dass sie hier in guten Händen ist, aber sie vertraute auf ihre innere Stimme.
Als sie einen Tag später wieder erwachte, saß die gleiche Frau an ihrer Seite. Zuerst war Ryann verwirrt und konnte sich nicht erklären wo sie war oder warum ihr ganzer Körper weh tat. Schwester Khalida erklärte ihr mit sanftem und freundlichem Ton alles was diese wusste: Dass Ryann von ein paar Fischern hergebracht wurde, weil sich diese nicht sicher waren, ob sie tot sei oder nicht. Dass dann im Kloster festgestellt wurde, dass die rothaarige Frau noch lebte, aber eine heftige Wunde am Hinterkopf hatte. Bei dieser Erwähnung griff Ryann vorsichtig an den Verband an ihrem Kopf. Diesen bemerkte sie jetzt erst und begann dann sogar vergnügt zu kichern, als sie die ganzen blauen Flecke auf ihrem Körper wahrnahm. Diese wiesen mittlerweile alle Farbvariationen auf, und irgendwie fand sie das Bunte vertraut.
Schwester Khalida erklärte ihr, dass Ryann eine Glaubensschwester in Tsa sei und fragte nach ihrem Namen. Dort stellten sie beide dann fest, dass Ryann anscheinend einiges Vergessen hatte. Sie kannte weder ihren Namen, noch woher oder wohin sie wollt. Auf die Nachfrage, ob ihr die Götter etwas sagen, konnte Ryann zumindest nach einer kurzen Denkpause einige der Namen aufzählen und grob erklären wofür diese standen.
Besorgt betrachtete Schwester Khalida Ryann eine Weile stillschweigend, dann holte sie eine arg ramponierte Tasche hervor und drückte sie Ryann in die Hände.
„Eure paar Habseligkeiten, soweit die Fischer sie bei Euch fanden in der Nacht. Vielleicht hilft das Euch beim Erinnern. Ich werde eben mal schauen gehen, ob ich etwas zu Essen für Euch auftreiben lassen kann. Wenn etwas sein sollte, Bruder Bishdaryan ist nebenan. Ruft einfach, wenn es Euch an etwas fehlen sollte. Ich bin schnellstmöglich zurück.“ So verließ Schwester Khalida den Raum, gab kurz bei Bruder Bishdaryan Bescheid und eilte zur Küche.
Seither lebte sich Ryann in den Klosteralltag ein. Sie verstand es relativ gut, sich mit den anderen zu beschäftigen und fand immer irgendwen mit dem sie Malen, Singen oder Spielen konnte. Und so kam es auch, dass sie an einem Nachmittag sich wieder an ihren Namen erinnerte.
Erinnerung
Vater Bishdaryan hatte Geduld. Aber diese wurde jedes Mal strapaziert, wenn ihm Waliburia die Stotternde eine Nachricht überbrachte.
Äbtissin Kalina bestand darauf, dass die mittelalte, an Leib und Stimme zitternde Rankaraliretenanerin genau für diese Aufgabe eingesetzt werde. Sie hatte – wie fast alle Schützlinge hier – Schreckliches erlebt, und eine sinnvolle Aufgabe mochte zu ihrer weiteren Heilung beitragen, rief sich der Noionit ins Gedächtnis. Aber ausgerechnet als Botengängerin?
Weil Waliburia jeden Satz drei, vier, fünf Mal neu begann und immer wieder mit unartikulierten Lauten unterbrach, dauerte es eine Weile, bis sie endlich ihre Botschaft ausgesprochen hatte. Dann aber eilte Bishdaryan los, so schnell dies die Würde seines Amts und die Schreckhaftigkeit mancher Schützlinge zuließen.
'Die Tsaschwester erinnert sich an ihren Namen', wiederholte er im Geiste, als er an dem irre gewordenen Seemann von den Efferdstränen vorbei schritt, der aus Weidenruten und Schilffäden charyptide Monstren flocht. Das hatte lang gedauert.
Zwischenzeitlich hatte Kalina Niodas die Frau aus dem Kloster weisen wollen, weil es der halb Ertrunkenen körperlich wieder gut ging, sich aber keine Heilung ihres Gedächtnisses mehr einzustellen schien. Weil die Äbtissin sich selbst nach Dergelmund exiliert hatte, er aber in Perricum geblieben war und er als Mönch eines fernen Klosters ihr nur formal unterstellt, hatte er jedoch durchsetzen können, dass der Orden sich noch eine Zeit länger um die Eidechsengeweihte ohne Namen kümmerte. Und weil er selbst gerne eingewilligt hatte, die seelsorgerischen Gespräche mit ihr zu führen.
Ohne zu klopfen trat er in die Zelle ein, die man der vorläufig „Tsajade“ Genannten zugewiesen hatte. Eine Akoluthin in schwarzblauer Robe trat respektvoll zur Seite, um ihm Platz zu machen. „Tsajade“ stand mit dem Rücken zu ihnen. Sonne schien durch das hoch liegende, schmale Fenster auf ihr seit der Rasur bei der Aufnahme wieder gewachsenes Haar. Den grauen, leinenen Kittel, der sie als Schützling des Klosters auswies, trug sie noch. Mit ausgestreckten Armen hielt sie die regenbogenfarbene Robe ins Licht, die sie am Leib gehabt hatte, als sie hierher gebracht worden war.
Bishdaryan von Tikalen wartete einen Moment. Sie sollte sein Eintreffen bemerkt haben. Dann fragte er: „Ihr wisst also wieder, wer Ihr seid?“
Liebevoll drückte sie die bunte Tunika an ihre Brust und dreht sich zu Bishdaryan um. Unverhohlen stahl sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel und rollte über ihre Wange hinab. Freudestrahlend sah sie den Boroni an und nickte sanft. „Ryann... Meine Eltern nannten mich Ryann…“, sprach sie mit fast tonloser Stimme. Im nächsten Augenblick brachen sich ihre Gefühle bahn und schluchzend eilte sie die paar Schritte zu Bishdaryan hinüber und bettete ihren Kopf an seiner Schulter.
Einige Augenblicke schluchzte sie so vor sich hin, bis es ihr endlich gelang, wieder verständliche Sätze hervor zu bringen. „ Ich… ich hatte einen Traum…“, begann sie während sie sich die Tränen mit der Tunika trocknete. „Ich sah mich als Kind durch den Schnee laufen. Es war der Hof meiner Eltern, dass wusste ich. Wir spielten Verstecken…“ Sie überlegte einen Augenblick angestrengt. „Aber ich weiß nicht mehr, mit wem ich das spielte… Zumindest rannte ich in den nahen Wald. Anfangs war er auch sehr vertraut. Nadelwald, es roch nach Tanne und ich musste aufpassen, dass ich nicht auf dem gefrorenen Boden ausrutschte.“
Ein verträumtes Lächeln schlich sich auf ihre Züge und sie strich bei dieser Erinnerung sanft über den Stoff in ihren Händen. „Aber als ich tiefer und tiefer in den Wald vordrang wurde er immer dunkler, dichter, bedrohlicher… Plötzlich war es drückend warm und schwül. Die Bäume waren keine Nadelbäume mehr, sondern solche mit dicken ledrigen Blättern und Ranken, die auf diesen Bäumen wie Schlingen wachsen. Ich hatte unheimlich viel Angst dort und eilte immer weiter vorwärts. Ranken und Dornen schienen nach mir zu greifen und mich aufhalten zu wollen. Hinter mir hörte ich meine Familie am Waldesrand nach mir rufen. Aber als ich stehen bleib und lauschte wurden die vertrauten Stimmen zu einer einzigen grässlich klingenden Stimme, die meine Angst nur noch mehr verstärkte.“
Schützend legte sie ihre Arme dicht um ihren Körper und zitterte sogar leicht. „Ich suchte Schutz zwischen den Wurzeln eines Großen Baumes und kauerte mich dort zusammen und kniff die Augen zu.“ Wieder stiegen Tränen in ihre Augen. „Ich weiß nicht wie lange ich da so saß, aber irgendwann waren die ganzen Geräusche weg und eine sanfte, liebliche Stimme rief immer wieder ‚Ryann. Wach auf, Ryann‘... und dadurch wurde ich dann auch wach …“ Mit wässrigem Blick sucht sie den von Bishdaryan. Ohne ein weiteres Wort wartete sie auf eine Erklärung von ihm.
Der Geweihte legte die Hände beruhigend auf die Schultern seiner Schutzbefohlenen. Die Erzählung war aus Ryann heraus gesprudelt, wie es ihre Gedanken immer wieder taten. Bishdaryan bedauerte, dass er sie womöglich enttäuschen musste.
Vielleicht hätte ein erfahrener Ordensbruder rasch eine schlüssige Erklärung gefunden. Aber er war erst wenige Götterläufe Seelsorger und allzu oft noch immer mit weltlichen Dingen befasst. Er würde Zeit brauchen, Tsajade, nein, Ryann, zum Verstehen zu geleiten.
„Wie der Weg zur Erinnerung ist auch jener zum Verständnis von Traumbildern ein verschlungener, oft langer. Ich will Euch keine leichtfertigen Erklärungen geben, das gebietet die Sorgfalt. Wir sollten in Ruhe und der notwendigen Zeit über das sprechen, was Ihr gesehen habt.“
Bishdaryan trat einen Schritt zurück. „Als Erstes solltet Ihr das Gewand anlegen, das eurer wieder gefundenen Persönlichkeit entspricht. Und sobald Ihr Euch dafür bereit fühlt, sollten wir jenen Ort aufsuchen, an dem Eure Retter Euch gefunden haben. Womöglich fällt Euch dort noch mehr ein, was zum Verständnis Eures Traums beiträgt. Lasst uns etwas Neues versuchen, und sehen, was daraus erwächst.“
Ausflug
Die bunten Gewänder sah man schon von weitem. Ryann hatte, seit dem Tag, an dem sie sich an ihren Namen erinnern konnte, wieder ihre bunte Tunika angelegt und wirkte damit noch deplatzierter an diesem Ort, als es ihr fröhliches Gemüt davor schon getan hatte.
Gemeinsam mit Bishdaryan war sie vor ein paar Tagen zum Darpat gegangen, hin zu der Stelle, wo die Fischer sie in jener Sturmnacht aus dem Wasser gezogen hatten. Der mächtige Fluss erstreckte sich ruhig vor ihnen, und Ryann genoss sichtlich den Ausflug. Übermütig hopste sie um ihn herum, pflückte hier und da ein Blümchen bis sie einen kleinen, bunten Strauß zusammen hatte.
Das Ergebnis des Ausfluges war jedoch eher ernüchternd. gewesen. Dort angekommen schlenderten sie den Darpat entlang, und mehr oder weniger geschickt lenkte Bishdaryan das Gespräch auf ihre Erlebnisse aus jener Nacht. Sie schaute sich lange und nachdenklich die Umgebung an. Die Felsen, die nicht unweit vom Ufer aus dem Wasser ragten; das stetige Dahinfließen des Stromes mit seinen schmatzenden und gurgelnden Geräuschen; die Wiesen und Felder auf der anderen Flussseite die sich gen Firun erstreckten, hier und da unterbrochen von einem Wäldchen oder ein paar abgelegenen Häusern.
Lange blieb sie ruhig und schaute nur, selbst ein Laie konnte erkennen, dass es in ihr arbeitete. Auf der Straße hinter ihnen ratterte ein Karren entlang, von dem die beiden Geweihten freundlich gegrüßt wurden. Dadurch aus ihren Gedanken gerissen, drehte sich Ryann um und grüßte den vorbeiziehenden Bauern freundlich zurück.
Bishdaryan erkannte Trauer in ihrem Blick als sie sich an ihn wandte: "Ich muss gestehen, ich weiß wirklich nichts mehr von jener Nacht, oder von dem was davor war." Sie drehte sich gen Rahja und schaute nachdenklich auf die Silhouette von Perricum. "Was wollte ich wohl hier?" Dann wandte sie sich nach Efferd und schaute den Darpat stromaufwärts. "Und woher kam ich wohl?" Lange verharrte sie gen Efferd blickend und verfiel wieder in Grübelei.
Schließlich wandte sie sich wieder Bishdaryan zu und fragte ihn direkt: "Was liegt den dort? Gibt es dort einen Ort wo ich hergekommen sein könnte?" Bishdaryan lächelte milde und antwortete: "Oh, da liegen sehr viele Orte." - "Also, ich meine... wo eine Dienerin Tsas eventuell Aufgaben zu erledigen hatte...", fiel sie ihm ins Wort.
Nach einer langen Pause, in der Bishdaryan sowohl in seinen Gedanken nach Antworten, wie auch in ihrem Gesicht nach Emotionen forschte, forderte er sie wieder auf, sich auf den Rückweg zu machen. Wortlos stimmte Ryann ihm zu, schaute auf den kleinen Strauß in ihrer Hand und begann dann die Uferböschung hinab zu klettern um die Blumen auf dem Wasser davon treiben zu lassen. Schweigend gingen sie anschließend den Weg zurück zum Kloster.
Seit diesem Tag ist Ryann anders. Es gibt zwar immernoch die Momente, in denen ihr Lachen durch die Ordensräume hallt oder sie mit den anderen Bewohnern singt oder tanzt, aber man trifft sie seit her häufiger alleine im Garten an, wo sie leise vor sich hin summt und in ihren Gedanken verloren zu seien scheint.
(Satinav atmet)
„Aber ihr Wesen, ihre Fröhlichkeit, tut den meisten unserer Schützlinge gut“, hielt Vater Bishdaryan Äbtissin Kalina entgegen.
„Den meisten, ja, aber nicht allen. Für diejenigen, die der Stille bedürfen, bedeutet ihre fortgesetzte Anwesenheit stets neue Aufregungen. Seit wir der Tsadienerin aus ihrer Zelle freie Bewegung erlauben, hat sich der Verbrauch von Ilmenblatt und anderen beruhigenden Mitteln deutlich erhöht.“ Die Vorsteherin des Klosters des Vergessens sprach ohne Aufregung, Eile oder Anklage. Sie stellte lediglich fest.
„Aber viel mehr als ihren Namen kennt sie noch immer nicht“, versuchte es der horasische Boroni erneut.
„Damit hat sie vielen unserer Schützlinge etwas voraus. Und den teilweisen Verlust des Gedächtnisses werdet auch Ihr nicht als Angst oder Wahn bezeichnen, Bruder Tikalen. Nach meinem Gespräch mit Ryann bin ich auch überzeugt davon, dass ihr Zustand keine Folge einer seelischen Verletzung ist. Ich sehe keinen Grund, sie länger hier zu behalten. Wir sind ein Kloster der Noioniten, nicht der Badilakaner.“
„Aber wenn es uns gelänge, ihr neue Anregungen zu geben, die an Geschehnisse aus ihrer Vergangenheit gemahnen, könnte ihr ganzes Gedächtnis wiederkehren“, schlug Bishdaryan vor.
Kalinas Augen nagelten ihn ebenso fest wie sogleich darauf ihre Worte: „Ihr habt recht, neue Anregungen mögen die Tsadienerin auf ihren Weg zurückzuführen“, bestätigte die Äbtissin. „Verlassen sollte sie das Kloster dazu in jedem Fall.“
Sein Argument war genau das gewesen, was sie brauchte, erkannte Bishdaryan, um ihn nun mit ruhige Worten so gekonnt auszumanövrieren wie ein talentierter, horasischer Feldherr einen novadischen Wüstenräuberhauptmann: „Mir scheint, Euch liegt etwas an ihr. Vielleicht mögt Ihr sie ja auf eine Eurer Reisen mitnehmen.“
Als ob sie sich erst jetzt deren erinnerte, nahm Kalina einen verzierten Umschlag von dem kleinen, säuberlichen Stapel an der rechten Kante ihres Schreibpults: „Diese Depesche ist heute Morgen für Euch eingegangen.“
Bishdaryan faltete die beiden Blätter auf und las. Eine Einladung. Und ein Brief, der von seiner Schwester sein oder verschlüsselte Anweisungen enthalten konnte. Als ob er diese benötigt hätte. Ein Boroni bei einer kunstsinnigen Festivität – das würde Aufmerksamkeit auf ihn ziehen und von anderen Akteuren ablenken. Horasia hatte mehr als eine Figur auf dem Spielbrett.
Warum aus diesem Anlass nicht das Beste machen? Das war mal etwas anderes als ein Kriegsrat oder mühsames Informationssammeln. Eine willkommene Abwechslung, eine Anregung, um auf neue Gedanken zu kommen.
Er nickte: „Ich denke, dass ein Fest zu Ehren des Heiligen Cereborn nach dem Geschmack einer Tsasinnigen sein dürfte. Vielleicht mag sie mich begleiten.“ Kalina nickte wohlwollend und deutete dem Geweihten an, dass er ihre Billigung dafür hatte.
Als sich Bishdaryan näherte, blickte Ryann auf und lächelte ihm freundlich entgegen. Sie erhob sich von ihrer Bank und wartete bis der Horasier herangetreten war. Wie immer versuchte sie in seinem Ausdruck etwas zu finden, konnte aber keine ungewöhnliche Mimik ausmachen. Er lächelte wie immer sanft und freundlich, und seine gerade Haltung offenbarte der Wissenden seine Vergangenheit. Nach einer kurzen Pause begannen beide gleichzeitig zu sprechen: "Schwester Ryann, ich habe mich gefragt..." " Bishdaryan, ich wollte dich bitten... "
Nach einem kurzen, verwirrten Augenblick beiderseits lachte die Tsadienerin kurz auf und selbst Bishdaryan konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen. In geübter Selbstbeherrschung fügte er dann mit einer auffordernden Handbewegung hinzu: "Nach Euch."
"Na, gut. Ich wollte dich fragen wie lange ich noch hierbleiben sollte. Ich meine... versteh' mich nicht falsch: Ich fühle mich wohl hier und das Kloster gibt mir Sicherheit, aber dieser Traum lässt mich nicht los." Bishdaryan schaffte es diesmal ein Grinsen zu verbergen, als er merkte, dass sie beide in die gleiche Richtung tendierten. Aber bei der letzten Erwähnung wurde er wieder ernst. Er nickt nur zustimmend. "Daher wollte ich dich bitten, mich nach Westen zu begleiten. Ich habe lange nachgedacht und beschlossen, dass ich, in der Hoffnung meine Erinnerungen wieder zu erlangen, gerne Orte aufsuchen möchte, an denen ich schon mal war. Ich muss gestehen, dass ich noch keine Ahnung habe, welche das sein mögen, aber ich glaube, dass sich jemand an mich erinnern wird.
Wenn du natürlich hier eingebunden bist verstehe ich das. Dann möchte ich dich einfach nur bitten, mir ein paar Empfehlungen für den Weg mitzugeben. Ich denke, mit Tsas Mut und Borons Schutz werde ich den Weg schon meistern. Wohin er mich auch immer führen wird."
Eindringlich musterte Bishdaryan die Tsaschwester und überlegte."Inwiefern glaubt Ihr, dass der Herr des Schlafes Euch beschützen mag? Ihr erhörtet den Ruf seiner Heiligen Schwester, die für das Gegenteil von ihm steht. Warum beruft Ihr Euch dann auf meinen Herren?" Er sprach ohne Vorwurf.
"War es nicht EUER Herr, der mir das Vergessen schenkte?", antwortet sie förmlich, aber grinsend.Dann fuhr sie mit ernsterer Miene fort: "Die Zeit hier hat mir gezeigt, dass Boron und Tsa enger stehen, als es für den Unerfahrenen scheint. Wo kein Ende ist, gibt's keinen Neuanfang. Das Neue muss irgendwann enden, um den Kreislauf weiter voran zu treiben. Das Vergessen bringt Neues mit sich. Auch wenn es eigentlich alt ist. Nach dem Schlaf folgt ein neuer Tag. Und weil ich hier bin, glaube ich mittlerweile, dass Boron mir ein großes Geschenk gemacht hat. Es ist meine Aufgabe im Sinne Tsas, meine alte Bestimmung neu zu entdecken." Sie machte eine Pause und schaute sich in dem Klostergarten um. "Außerdem bin ich auch nur ein Mensch. Und der Mensch wächst von klein auf in einer Gruppe heran. Diese Gruppe gibt ihm Schutz und das Gefühl von Heimat. Das Kloster hier ist nicht meine Heimat. Und ich merke, dass es Zeit wird aufzubrechen."
Die Hände ineinander verschränkt, schaute sie Bishdaryan fragend an: "Verstehst du was ich meine?"
Bishdaryan von Tikalen nickte: „Besser als Ihr vermutlich ahnt. Natürlich gehe ich dorthin, wohin mich der Auftrag der Kirche führt. Aber auch meine Heimat ist hier nicht. Doch der Reihe nach...“
Der Schwarzgewandete setzte sich auf die Bank und lud die Regenbogenfarbenträgerin an seine Seite: „Ihr fragt, wie lange Ihr hier bleiben sollt. Nun, Ihr seid trotz Eurer eingeschränkten Erinnerungen keine Gefahr, weder für Euch selbst noch für andere. Niemand wird Euch zurückhalten, wenn Ihr jetzt geht.“
„Neue Anregungen, Orte aus Eurer Vergangenheit – diese mögen tatsächlich dazu beitragen, dass Euer Gedächtnis wiederkehrt. Eine Reise mag da Wirkung zeigen. Ihr wollt gen Westen – und ich werde Euch gerne begleiten. So Ihr denn mich begleiten wollt: Am 23. Tage des Boronmonds – als in knapp zwei Monaten findet zu Rigalento eine Kunstfestlichkeit auf Einladung des Graf Harderin statt, zu welchselbiger ich geladen bin. Ich würde mich freuen, so Ihr mich dorthin begleiten mögt, und vermute, Euer Aufscheinen dort wäre dem Anlass eher angemessen als das meinige. Ob ich danach in mein Heimatkloster Tikalen zurückkehre, hierher nach Perricum, oder unsere Wege weiter parallel führen, das werden wir sehen – Tsa wird das weisen.“ Er grinste spitzbübisch bei dem letzten Satz.
„So wir zu Pferde oder Schiff aufbrechen, können wir die Reise ohne Eile genießen. Was sagt Ihr? Wollen wir diese gemeinsam wagen?“
Begeistert klatschte Ryann in die Hände. Ihre Freude war ihr ins Gesicht geschrieben. Und nach einem Moment des Zögerns umarmte sie den Schwarzgewandeten stürmisch und herzte ihn innig. "Großartig!" jubelte sie.
Somit war es beschlossen, und die folgenden Tage waren mit Formalitäten und Packen ausgefüllt. Man einigte sich schnell auf eine Reiseroute über Land, stellte aber fest, dass sich Ryann nicht wirklich mit Pferden auskannte. Ihr gelang es eher schlecht als recht, auf dem Tier zu bleiben, und bald schon beschwerte sie sich über die schmerzenden Stellen an ihrem Körper. Den Vorschlag Bishdaryans, auf eine Kutsche umzusteigen schob sie jedoch vehement beiseite, mit der Begründung, dass dies eine gute Gelegenheit sei, was Neues zu lernen. So brach das ungleiche Gespann auf, Richtung Westen, um neue Impulse zu erfahren und die Vergangenheit zu finden.
(ab, wus)