Geschichten:Düstere Schatten - Kaltes Blut
Nördlich von Gut Schroffenstein im Finsterkamm
Noch immer war es kalt, als Graubart mit seinem Wagen hier hoch in die Klamm fuhr. Wieder einmal wurde ihm bewusst, woher der Name der Berge hier herrührte. Der Weg hier hoch konnte noch nicht lange wieder passierbar sein. Doch wunderte er sich schon, dass er noch nicht freigeräumt war. Sonst hatten die Holzmanns immer darauf geachtet, dass der Weg möglichst früh im Jahr frei geschaufelt wurde. Dieses Jahr schien niemand eine Hacke angefasst zu haben. Unruhe ergriff den fahrenden Händler. Das konnte nichts Gutes heißen. Doch zum Umkehren war es zu spät. So schlimm konnte es in den Bergen nicht sein, dass er freiwillig zum Gut Schroffenstein umkehren würde. Zudem würde er heute den Weg ohnehin nicht mehr schaffen. Vielleicht war ja nur ein Stück weiter ein Steinrutsch gewesen und die Familie hatte ihn erst kürzlich beseitigt. Bestimmt gab es eine gute Erklärung.
Weiter die Klamm hinauf konnte er tatsächlich einige kleinere Steine auf dem Weg finden, doch nirgends waren Anzeichen für einen größeren Steinschlag zu finden. Doch weit war der Hof nicht mehr. Er würde einfach sehen, wie es den Bergbauern ging. Immerhin hatte er schon die ersten Ziegen an den Hängen beobachtet, wie sie vor dem Gerumpel seines Wagens aufgeschreckt davon sprangen. Einige hatten auch Zicklein, andere einen dicken Bauch. Wieso die dann nicht im Stall waren, konnte sich Graubart aber auch nicht erklären. Jetzt war doch die beste Zeit für Milch und Käse.
Ein Stück weiter sah er den Ausguck, von dem sonst immer ein fröhliches Pfeifen ankündigte, dass man ihn gesehen hatte. Doch der junge Firunian pfiff diesmal nicht und auch kein Winken begrüßte ihn. Schon seltsam. Aber er hatte ohnehin keine Wahl. Wenn er nicht des nachts im Freien lagern wollte, musste er weiter zum Hof, um seine Tiere zu füttern und den Wagen unterzustellen. Immerhin konnte es hier oben noch immer plötzlich zu schneien beginnen. Außerdem waren die hiesigen Harpyen nicht zu unterschätzen. Vorsichtig trieb er seine Tiere weiter, auch wenn die beiden Mulis widerspenstiger wurden.
Kaum drei Wagenlängen vom Hof entfernt warfen die Zugtiere ihre Köpfe in den Nacken und beschwerten sich lautstark, machten aber keinen Schritt mehr weiter. Die Hütte der Bergbauern war völlig verrammelt, hier und da hing ein Schutzbrett schief, aber nirgendwo waren Tiere zu sehen, geschweige denn zu hören - abgesehen von seinen beiden Maultieren. Mit einem Seufzen klopfte der zähe Reisende an die Tür, doch nichts und niemand rührte sich. All seinen Mut zusammen nehmend schob er die nach innen öffnende Türe auf und lugte in die Hütte hinein. Der scharfe Geruch von Tod und Verwesung schlug ihm entgegen und ließ ihn wieder nach draußen taumeln. Beherzt griff er sich ein Tuch, goss etwas Wasser darüber und schritt nun entschlossen in die Unterkunft. Von innen zog er die Läden auf, öffnete gut verriegelte Schieber und brachte die letzten Strahlen Praiosschein in die Wohnstatt. Als er sich nun umschaute, verschlug es ihm erneut den Atem.
Trotz der gut gesicherten Hütte lagen die Leichen der bisherigen Bewohner überall in der Hütte. Eingefallen waren die Gesichter, völlig entstellt und wohl schon seit vielen Wochen tot. Nur die Kälte der Bergluft hatte ihre Leichen erhalten. Keine Spuren von Verletzungen konnte er ausmachen, nur das blanke Entsetzen, dass ihre Züge zeichnete. Dieser Anblick war ihm so grausig, dass er die Toten ihrer Ruhe überließ und wieder vor die Hütte trat. Überall um die Hütte fielen im nun die Spuren der wilden Bergtiere auf. Luchse, Hasen, Wölfe und noch einige andere waren hier in der letzten Woche an der Hütte vorbei gekommen, doch niemand hatte sich näher als einige Mannslängen an die Hütte herangemacht. Nur der seitlich angebaute Stall war wohl bereits vor einiger Zeit von einem größeren Tier wie einem Bären aufgebrochen worden. Dunkle, eingetrocknete Flecken zeugten hier von seinem Mahl, doch musste ein großer Teil der Ziegen entkommen sein. Die hatte er ja gesehen.
Ein leises Knacken hinter einem Busch etwas abseits ließ ihn aufschrecken, doch machte sich nur eine Krähe über ein paar bunte Fetzen her... Bunte Fetzen? Als er näher trat, konnte er sehen, woher die Fetzen stammten und er drehte sich ruckartig weg und übergab sich. So schnell er konnte, taumelte er zu seinen Maultieren zurück und machte sich trotz der Dunkelheit auf den Weg fort von hier. Es musste eine Schutzhütte etwa eine Wegstunde abwärts geben. Sie sollte genug Schutz vor den Harpyen bieten, wenn er den Wagen draußen ließ und die Maultiere mit hinein nahm. Alles besser, als auf diesem Hof zu verbleiben! Er musste zurück und die Bevölkerung warnen. Offensichtlich war Chrrkrook hier gewesen und hatte jemanden - im wahrsten Sinne des Wortes - in Stücke gerissen! Sie war also zornig und es war nicht gut, sich mit ihr anzulegen.
Nach der Erzählung des alten Graubarts schickte die Junkerin noch einmal einen Trupp nach oben, um die Leichen zu beschauen. Sie begruben die Toten unter Steinen, brachten aber ein Schwert und eine Brosche mit zurück. Auf beiden war ein Adlerkopf abgebildet. Bei dem Menschen, dessen Tod Chrrkrooks Zorn zugeschrieben wurde, hatten sie das Schwert an der Seite und die Brosche an seiner Brust gefunden. Die alte Junkerin sagte, als man ihr die Dinge zeigte, die Person musste einst der Reichsarmee gedient haben. Vor vielen Jahren in einem Teil des Reiches, der weit fort von diesen Bergen gelegen hatte.