Geschichten:Das Erbe Simyalas – Am Hof der Elfengräfin
Burg Silz, Rondra 1044 BF:
Er war schon lange nicht mehr hier gewesen. Hier, das war die Welt seines Vaters, die menschliche Welt. Er jedoch lebte die meiste Zeit bei seiner Mutter und ihrer Sippe verborgen im östlichen Reichsforst. Ja, er war ein Wandler zwischen den Welten, doch in keiner wirklich Zuhause. Die Elfen betrachteten ihn als Menschen und die Menschen als Elfen. Das ewige Paradox seiner Existenz. Doch, er konnte sich glücklich schätzen, denn er war eine Frucht der Liebe und somit in beiden Welten geduldet, auch wenn seine Eltern nunmehr getrennte Wege gingen. Die Elfen kannten ihn als Navariel Falkenwind, Sohn der Legendensängerin Saleona-jagt-den-Regenbogen aus der Blütentänzer-Sippe. Unter den Menschen war er als Navariel von Falkenwind bekannt, Spross eines der ältesten Adelsgeschlechter Waldsteins und Sohn von Landvogt Vallbart von Falkenwind. Doch wer war er wirklich? Wer wollte er sein? Dies galt es für den Siebzehn Sommer zählenden Halbelfen noch zu ergründen.
Angetan in meisterlich gearbeiteter Bauschkleidung, die seinen großgewachsenen, schlanken Körperbau schmeichelten, schritt er über den Burghof von Silz. Seine schwarzen, glatten Haare trug er halblang, seine amethystfarbenen Augen leuchteten. Grazil schritt er vorbei an der Statue von Rohal dem Weisen, dem Gründer der Grafschaft Waldstein und blieb vor dem mächtigen Eingangsportal stehen. Welch überwältigender Anblick. Es wirkte so, als wären unzählige Ranken zu einer Tür verwachsen. Die Säulen, die das Portal flankierten, zeigten überlebensgroße Statuen der mythischen Elfenkönige Simia - mit verästelter Krone und Schwalben auf seinem Haupt - und Orima - mit verbundenen Augen, die Schwert und Füllhorn in ihren Händen trugt. Er blickte zurück zur Rohalsstatue – wie sehr sich hier doch die menschliche und elfische Welt zu einer neuen vereinten.
Als sich die zweiflügelige Tür wie von selbst öffnete, stand sein Vater Vallbart vor ihm und breitete seine Arme aus.
"Sohn, ich spürte dein Erscheinen. Ich freue mich so sehr dich wiederzusehen."
"Ja Vater, es ist schon viel zu lange her." Beide umarmten sich innig.
"Wie ist es dir und deiner Mutter ergangen?"
"Der Wald ist mit uns, doch es ist nicht nur der Besuch eines Sohnes bei seinem Vater der mich hierher führt."
"Das dachte ich mir." Ein liebevolles Lächeln zauberte sich auf das Gesicht Vallbarts.
"Unsere weise Sippenführerin Salinyome Silberhaar schickt mich am den Hof der Gräfin. Sie ersucht Rat wegen der Veränderungen des Waldes."
"Folge mir mein Sohn."
Vallbart schritt voran und führte Navariel in den Burggarten von Silz. Vorbei an einem idyllischem Springbrunnen – an dem der halbelfische Hofmagier Horbertus Mistrian Gehrendieck im Gespräch mit dem elfischen Hofheiler Orimarion Blütentraum und der menschlichhen Jagdmeisterin Firnja von Quellgrund vertieft war. Um den Brunnen gruppierten sich einige Bänke und Tischlein, die aus gewachsenen Bäumen und Büschen gebildet wurden. Schließlich erreichten sie den großen Wallnussbaum, der ganzjährig seine Früchte trug und Heimat vieler Eichhörnchen war. Im Schatten des Baumes saßen im Schneidersitz Gräfin Allechandriel Quellentanz, ihre enge Vertraute Simarjyel Herbstmond von der Kronenhüter-Sippe und Salandrion Traumhüter von der Auentänzer-Sippe. Sowohl die Auentänzer, als auch die Kronenhüter lebten in Val'sala'dir unweit von Silz und unterhielten einen regen Austausch mit den hier lebenden Menschen. Besonders Salandrion war von der Idee beseelt, wonach nur ein fruchtbares Zusammenleben beiden Völker das Überleben sichern würde. Er sah es als sein persönliches Schicksal an Menschen und Elfen zusammenzuführen und auf eine gemeinsame Zukunft vorzubereiten. Simarjyel war diesbezüglich weit weniger enthusiastisch, stimmte der Vision Salandrions aber grundsätzlich zu.
"Lavar, Hüterin des Waldes, Navariel von der Blütentanz-Sippe bringt Neuigkeiten von der weisen Salinyome."
"Sanyasala, Navariel. Setz dich zu uns, laiama, Freund des Waldes, und berichte von deiner Sippe."
Navariel tat wie ihm geheißen und begann zu berichten was ihn das Sippenoberhaupt der Blütentänzer aufgetragen hatte.
"Salinyome ist besorgt über den inneren Zwist der fey im Mittwald. So gibt es jene Sippen, die die dunklen Geheimnisse Simyalas vor den Augen Deres, vor allem der telor, verborgen halten wollen, damit das namenlose zerza nicht wieder um sich greift. Einige dieser Sippen sind den telor zugetan, andere sehen sie als Feinde an. Wieder andere Sippen träumen sich in das verlorene Zeitalter zurück, also sich unsere Ahnen zu Göttern erhoben und wollen es wieder auferstehen lassen. Das sala des Mittwaldes ist in Gefahr."
"Laiama, Freund des Waldes und Wandler zwischen den Welten, die Melodie deiner Stimme trifft den richtigen Ton. Es ist nun an uns mit einzustimmen." Allechandriels Blick traf nacheinander jeden einzelnen der Runde. "Ich habe das Flüstern des Windes und das Rascheln der Blätter vernommen. Seit der Wiederentdeckung Simyalas und der Erneuerung des Banns ist der Mittwald in Aufruhr. Auch wir fey sind davon nicht ausgenommen."
"Meine Träume künden von einer Zeitenwende. Altes wird neu und Neues wird alt. In meinen Traumvisionen schreiten wir zusammen mit den telor in ein neues Zeitalter. Vielleicht sollten wir sie in das alte Wissen einweihen." Salandrion Traumhüter galt unter den Sippenältesten als einer der großen Fürsprecher der Menschen. In seinen Visionen sah er eine Gemeinschaft aus Menschen und Elfen, die immer mehr miteinander verschmolz. Nur so könnte man aus seiner Sicht die namenlosen Gefahren besiegen.
"Die telor lassen sich zu sehr vom zerza verführen. Sie sind nicht eins mit ihrem mandra. Das alte Herz des Mittwaldes steht in Flammen. Wir dürfen ihnen nicht vertrauen, sondern wir müssen sie vor dem alten Wissen beschützen." Simarjyel Herbstmond war eine treue Begleiterin der Elfengräfin, hatte sich ihre Skepsis gegenüber den Menschen jedoch bewahrt.
"Nicht alle Menschen sind schwach und leicht zu verführen", sprach Vallbart mit ruhiger Stimme. "Die, dessen mandra stark genug ist, könnten von entscheidender Hilfe sein. Auch wir Menschen sind Teil der Zeitenwende."
"Wohlgesprochen, laiama, Freund des Waldes. Ich werde weiter dem Wind lauschen und die Bäume befragen. Die vielen Stimmen der fey müssen gehört werden. Aber wir dürfen auch die telor nicht vergessen. Wir sind für sie verantwortlich, wie für alle anderen Kreaturen des Mittwaldes auch."
Navariel fühlte den Zwiespalt in seinem Herzen und doch fühlte er sich seltsam eins mit sich. Er spürte es war etwas ins Rollen gekommen – sowohl für alle Lebewesen des Mittwaldes, als auch für ihn persönlich. Doch was genau, das konnte er noch nicht fassen.