Geschichten:Das dritte Kind – Entkommen
Ritterherrschaft Praiosborn, 3. Rondra 1045
„Und doch seid Ihr hier“, merkte der Waffenknecht an, „Wie seid Ihr denn aus Rallingstein entkommen?“
„Entkommen?“, Ailsa lachte kehlig, „Seit dem der Erlenfaller bei dem Duell getötete worden war, hatten sie mich in das Loch geworfen und mich nicht wieder herausgeholt. Mal warfen sie mir essen hinab. Mal bekam ich Wasser. In der Finsternis musste ich danach tasten.“ Sie nahm erneut einen Bissen und würgte ihn eilig herunter. „Sie hatten mich zuvor schon in das Loch gesteckt. Aber nie sonderlich lange. Sie hatten mich zu zermürben versucht. Wieder und Wieder. Immer nur wenige Stunden oder Tage – wenn man von vollkommener Dunkelheit umgeben ist verliert man jedes Gefühl für die Zeit. Sie wollten, dass ich einen Brief an meinen Gatten schreiben und ihn so zum einlenken bringe. Ich habe mich geweigert.“ Nun nickte sie energisch. „Alleine wäre ich niemals entkommen. Gestorben wäre ich dort unten irgendwann, ganz langsam und qualvoll...“
Sie hielt einen Moment inne, nahm noch einen Bissen und kaute gründlich ehe sie fortfuhr: „Da war eine winzige Tür in der Wand zum Innenhof. Durch diese musste ich durch. Sie hätten mich wohl am liebsten kopfüber einfach hinabgeworfen, aber inzwischen hatte auch bei ihnen wohl die Erkenntnis eingesetzt, dass ich nur lebend als Pfand geeignet war und mein Tod Drego gewiss zu blutiger Rache veranlasst hätte – was auch immer das geheißen hätte. So war ich also mal wieder dort unten. Von Finsternis umgeben. Nichts als blanker Stein um mich herum. Das einzige was ich hörte, war mein Herzschlag und mein Atem. Ich war allein. Nur ganz allein. Nichts wusste ich von dem, was draußen vor sich ging. War es Tag oder gar Nacht? Lebte ich oder war ich gar tot?“ Nun wirkte die Reichsritterin plötzlich sehr bedrückt. „Es war entsetzlich.“ Sie schluckte schwer. „Am Schlimmsten war ganz allein dort unten zu sein. Ganz allein in der Finsternis. Ganz allein...“ Sie schlug ihren Blick nieder. „Allein.“
„Und doch seid Ihr jetzt hier“, wiederholte Lonán, „Irgendwie müsst Ihr also aus diesem Loch herausgekommen sein. Ich nehme an, Ihr hattet Hilfe?“
„Unerwartete Hilfe“, stimmte sie nickend zu, „Es war Nella.“ Nun zog sich ein feines Lächeln über ihr Gesicht. „Ihr verdanke ich mein Leben. Doch sie war nicht allein. Auch sie hatte Hilfe. Es war...“ Sie raunte ihm etwas leise ins Ohr, dabei begannen ihre Augen zu leuchten.
Verwundert blickte der Waffenknecht sie an: „Wirklich?“
Die Rían nickte. Ganz langsam nickte sie um ihren Worte noch mehr Bedeutung zu verleihen.
„Dann solltet Ihr Euch wohl geehrt fühlen...“
„Hm“, machte sie da und zuckte mit den Schultern, „Darüber bin ich mir noch unschlüssig. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es war wohl Nella, der ich meine Rettung verdanke. Ohne ihre Initiative wäre nie jemand auf die Idee gekommen mich aus diesem Loch zu holen. Es war Deine Nella, Lonán, Deine Nella.“
„Gewieftes Mädchen“, bestätigter er und nickte anerkennend, wobei sich ein verschmitztes Lächeln über seine Wangen legte, „Muss sie wohl von mir haben.“