Geschichten:Der Quelltempel zu Nattersquell - Seit Kaiser Valpos Zeiten nicht mehr...
Stadt Nattersquell, Quelltempel, Peraine 1046 BF
In der Stadt Nattersquell, im Herzen Garetiens, thront der Quelltempel der Göttin Peraine. Der Tempel ist seit über anderthalb Jahrtausenden ein bedeutendes Zentrum der Peraine-Kirche in der Kaisermark.
Hinter der imposanten Eslamidischen Fassade findet sich der Pilger in einem Tempelschiff aus der Rohalszeit wieder. Fensterbilder aus grünem und viel goldenem Glas tauchen den Altar in ein Licht, wie es sonst nur von den wogenden Äckern der goldenen Au in der Herbstsonne der Erntezeit ausgeht.
Die lange Tradition der Goldschmiede in Nattersquell zeigt sich auch im Inneren des Tempels. Die zehn riesigen Störche, die am Säulenkapitel das Tempeldach zu tragen scheinen, sind genauso vergoldet, wie die Ähren die sich als Muster durch die ganze Halle ziehen.
Aus dem Tempelraum heraus führen zwei Treppen, die um dem Pilgerstrom Herr zu werden, jeweils nur in eine Richtung benutzt werden können, in den eigentlichen Quelltempelraum aus der Zeit des Herzogtums Garetiens.
Hier sprudelt die Quelle der Natter aus dem Felsen nacheinander in drei Becken, wobei das Oberste nur Kaisern, das Mittlere dem Adel und das Untere den freien Bürgern zu betreten erlaubt ist. Unfreie baden auch heute außerhalb des Quelltempels im weiteren Verlauf des Flüsschens.
Heute waren die Pilger wieder in Scharen in den Quelltempel gekommen. Denn im Perainemond, jenes besonderen Zeitpunkts im Jahr, verkündet die Göttin durch ihre Boten die bevorstehende Ernte im Götterlauf. Hoch oben auf dem Dach des Quelltempels thront seit Isiz-Horas Zeiten ein großes Storchennest, das seit Generationen von den gefiederten Tieren der Göttin bewohnt wird.
Dieses Jahr wurde das waghalsige Unterfangen dem jungen Novizen Herdan von Storch zu teil. Er wagte sich den gefährlichen Weg hinauf zum Horst. Sein Auftrag: herauszufinden, wie viele Eier das Storchenpaar gelegt hatte. Der Weg war steil, die Felsen glitschig, und der Wind pfiff um die Ecken des Tempels. Doch die Geweihten glaubten fest daran, dass die Störche eine Botschaft der Göttin überbrachten – eine Weissagung für die bevorstehende Ernte.
Herdans Hände zitterten, als er den langen geschnitzten Steineichenstamm erklomm, der das Nest trug. Sein Körper wiegte im Wind hoch oben auf den Zinnen des Tempels. Seine Gedanken waren bei der letztjährigen Voraussagung. Der arme Helmfried stürzte ab und Golgaris Schwingen trugen seine Seele hinfort, doch Herdans Mut war größer als seine Angst. Die Geweihte Matrissa von Mohnfeld hatte ihm den Auftrag persönlich übertragen. “Herdan”, hatte sie gesagt, “du bist auserwählt. Möge Peraine dir den Weg erleuchten.”
Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, als er das Nest erreichte. Die zahlreichen Geweihten, Akoluthen, Novizen und Pilger blickten gespannt hinauf in den Himmel. Und da lagen sie: sieben Storcheneier, weiß wie Schnee. Herdan zählte sie mehrmals nach. Sieben – eine Zahl, die seit Kaiser Valpos Zeiten nicht mehr erreicht worden war.
Ein großes Raunen ging durch die Geweihtenschaft, als Herdan hinabstieg und seine Entdeckung verkündete.
Die Äbtissin Ährengard von Spornstein-Nettersquell lächelte und hob die Hände gen Himmel. “Die Bewahrerin des Lebens segnet uns”, sagte sie feierlich. “Die Ernte wird reich sein, und die Felder der Goldenen Au werden überquellen vor Fülle. Peraine sei gepriesen!”