Geschichten:Der Stachel des Mantikors - Ein später Gast in Uslenried
Am Tor der Burg Greifenklaue, dem Stammsitz des jüngeren Hauses Streitzig, welche sich über der kleinen Stadt Uslenried erhebt, waren die Wachen gerade dabei, die Zugbrücke hochzuziehen. Das Tor sollte wie jeden Abend mit dem Schwinden des letzten Lichtes geschlossen werden, als ein schwarzgewandeter Reiter sein Pferd vor dem Graben zum Halten brachte. »Halt«, rief der den Wachen zu, die daraufhin innehielten und sich umblickten, während einer der Torwächter bereits zur Armbrust gegriffen hatte und auf den Fremden anlegte.
»Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?« rief der Wächter den Unbekannten an, ohne die Armbrust sinken zu lassen; die übrigen beiden Wächter griffen derweil nach Glefe und Hellebarde.
»Ich bin ein Diener des Rondrasohnes, das muß reichen. Und ich suche Jessa al Tern. Im übrigen habe ich mit eurem Herrn zu Reden!«
»Das wird sich zeigen, ob er euch empfangen will. Wartet hier!« Die Art des Fremden schien den Torwächtern gar nicht zu behagen.
Einer der Wächter eilte dem Palas der Burg entgegen, um dem Baron die Ankunft des Fremden mitzuteilen. Geschwind stürzte er die Freitreppe zur Tür hinauf, wollte diese aufreißen und prallte dabei um ein Haar mit Cern von Aschenfeld, dem Hauptmann der Baronie, zusammen.
»Holla, wohin so eilig?« wunderte sich der Hauptmann.
»Zum Baron, da ist ein später Gast, der ihn zu sprechen wünscht,« entgegnete der Wächter, »und er sucht nach Jessa.«
"Nach Jessa?" fragte der Hauptmann, und ein ungläubiger Tonfall schwang in seiner Stimme mit.
"Ganz recht. Er scheint mir ebenfalls ein Geweihter des Finsteren zu sein!" "Hm... Das ist gar nicht gut, scheint mir. Hol Jessa und schick sie sofort zum Baron. Ich werde ihm indes berichten, das wir Besuch haben."
"Jawohl!" Der Soldat machte auf dem Stiefel kehrt und eilte zurück in Richtung Tor, wo sich in der alten Waffenkammer die Korkapelle der Burg befand.
Nachdenklich marschierte Cern der hohen Halle entgegen. Ein wenig suspekt war Jessa ihm schon immer gewesen, aber nur ein wenig. Im Gegensatz zu Wulf hielt er es nur mit Rondra - und mit Phex, wie es seine Familie schon immer getan hatte, wofür auch seine Schwester Sinya, Wulfs Gemahlin, ein verborgenes Beispiel war - doch konnte er mit der Korgläubigkeit der vermeintlichen Söldnerin und Wulfs Faible für den Rondrasohn durchaus umgehen. Das aber nun ein weiterer Geweihter des blutigen Schnitters auf der Burg Einlaß begehrte, behagte ihm gar nicht.
In der Halle angekommen erblickte er Wulf, der sich in seinen hohen, gepolsterten Lehnstuhl lümmelte, ein Bein über die Lehne hängend, und die letzte Ausgabe des Garether & Märker Herolds studierte - bei viel zu wenig Licht, wie Cern fand.
Wulf hatte Cerns Anwesenheit bereits bemerkt, ließ seine Lektüre sinken und sah ihn fragend an. "Was ist passiert?"
"Wir haben Besuch, oder besser gesagt: Du hast Besuch, und Jessa auch." Man konnte seinem Gesichtsausdruck und dem Tonfall seiner Worte entnehmen, dass ihm die Ereignisse nicht in den Kram paßten.
"Ich und Jessa?" Wulf glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
"Ja. Es ist ein Geweihter. Ein Diener Kors."
"Und was will er hier?" fragte Wulf überrascht.
"Das wissen wir noch nicht. Ich habe bereits nach Jessa schicken lassen."
"Das ist gut", sagte der Baron mehr zu sich selbst und begann, nachdenklich mit den Fingern auf seinem Knie zu trommeln.
Einen Augenblick später öffnete sich die Tür, und Jessa Al Tern, Söldnerführerin und Korgeweihte am Uslenrieder Hofe, stürmte in den Saal.
Sie war nur mit leichten dunkelgrauen Stiefeln, einer schwarzen Wollhose und einem ebensolchen, ärmellosen Wams bekleidet (bei dessen Anblick Cern unwillentlich zu frösteln begann, schließlich war es Anfang Tsa und entsprechend kalt), und das sonst zum Zopf gebundene dunkelblonde Haar hing offen herab. In der Linken trug sie ihren Nachtwind, noch in der hölzernen Scheide steckend, und eilte so den beiden Männern entgegen.
"Ihr habt mich rufen lassen?"
"Ja. Wir haben unerwarteten Besuch", ließ Wulf verlauten, und seine Worte klangen - sehr zur Erleichterung des Hauptmannes - nicht sonderlich erfreut.
Ein Diener, der gerade die noch offenstehende Tür der Halle schließen wollte, wurde angewiesen, den Fremden hereinzuführen und sodann einen Krug schweren Rotwein zu bringen. Dienstbeflissen nickte der Knecht und eilte von dannen.
"Unerfreulicher Besuch", entgegnete Jessa, doch es klang mehr nach einer Feststellung denn nach einer Frage.
"Das könnte sein", warf Cern ein und verschränkte die Hände vor der Brust, "denn er dient dem gleichen Gott wie Ihr."
Jessa sah erst fragend zu Cern, dann zu Wulf. "Und was will er hier?"
"Das werden wir wohl gleich zu hören bekommen." Wulf war durchaus klar, dass der Geweihten die Anwesenheit eines Mitbruders nicht so angenehm war. In gewisser Weise befand sich Jessa hier im Exil - immerhin stammte sie ursprünglich aus Fasar - und trat nur selten als Priesterin auf. Die meisten Bewohner der Burg wußten natürlich von ihrer Weihe, ebenso die Söldner von den Waldsteiner Wölfen und die Geweihten des Rondratempels. Ihm war bewußt, dass Jessa nach den Maßgaben ihrer Kirche wohl etwas unkonventionell war, doch damit war man bisher gut gefahren. Wenn nun aber ein anderer Geweihter hier auftauchte...
Plötzlich kam ihm ein Verdacht. Sowohl im Herold als auch im Aventurischen Boten war zu lesen gewesen, dass ein Geweihter des Rondrasohnes die blutigen Felder am Königsweyher zu einem Heiligtum Kors geweiht hatte. Auch Jessa war in jenen Tagen dort gewesen und hatte bei der Niederschlagung des Aufstandes mitgefochten. Gab es da einen Zusammenhang? War es vielleicht sogar dieser Geweihte? Plötzlich machte sich ein flaues Gefühl in seiner Magenkuhle breit, obwohl er nicht so recht wußte, warum.
"Mühlingen", sagte er schließlich, worauf hin Jessa sich erst erschrocken auf die Lippe biß und dann kaum merklich nickte, derweil Cern einmal heftig schluckte. Das hatte dem Hauptmann gerade noch gefehlt, dass die Ereignisse vom Königsweyher sich bis hierher auswirken sollten, zumal er nicht dabei gewesen war.
Mit einem Knarren öffnete sich die Tür der Halle erneut, und der Diener, der noch mit "Herr..." den Besuch ankündigen wollte, wurde von dem Fremden beiseite gestoßen. Den neunfach gezackten Spieß in der Rechten marschierte der Geweihte auf Wulf, Cern und Jessa zu.
"Verdammte Kälte! Ist das eine Art, einen Priester zu empfangen! Von Euch hätte ich wahrlich mehr erwartet!" polterte der Fremde.
Wulf sprang auf. "Hütet Eure Zunge! Ist das etwa eine Art, hier ungefragt hereinzuplatzen?"
Jessa war derweil einige Schritte zurückgewichen, doch der Fremde schien sie gar nicht zu bemerken. Dennoch, sie kannte ihn...
"Auch ja, die neureichsche Etikette. Verzeiht", sagte er spöttisch, "aber darum habe ich mich noch nie geschert. Anderswo empfängt man meinesgleichen freudiger!"
"Ach ja?" entgegnete Wulf. "Und was sollte uns diese Freude bereiten?"
Finster blickte der Geweihte den Baron an und ließ schließlich seinen Blick umherschweifen. Als er sich Jessa zuwandte, stutze er kurz, und als er erkannte, dass er die Gesuchte vor sich hatte, wurde seine Miene finster.
"DU, DU VERRÄTERIN AN IHM! GEH MIR AUS DEN AUGEN!" brüllte er sie an, und Jessa zuckte zusammen, fing sich aber schnell wieder.
"Wenn hier jemand brüllt, dann bin ich es!" herrschte Wulf ihn an. "In diesen meinen Hallen habt Ihr kein Recht dazu, der Ihr Euch nicht einmal vorstellen könnt, wenn ihr an eine fremden Ort kommt! Also nehmt Euch zusammen, oder ich werde Euch..."
"Ach, was denn?" fiel ihm der Priester ins Wort. "Herausschmeißen? Einkerkern? Oder gar zu Boron schicken?" Er lachte.
Wütend riß Wulf Praifang, das alte Schwert der Barone Uslenrieds, welches wie gewöhnlich an seinem Lehnstuhl lehnte, aus der Scheide und täuschte einen Angriff auf den Eindringling vor. Dieser reagierte sofort, und blockte die Klinge mit dem seinem Spieß.
"Ketzer!" stieß er dem Baron entgegen und fuhr mit dem neunfach gezackten Blatt seines Spießes herum. Um ein Haar entging Wulf dem Schlag und hieb seinerseits zurück. Seine Klinge ritze den Geweihten ins linke Bein.
Endlich hatten sich auch Jessa und Cern gefangen und ihre Schwerter gezogen. Plötzlich befand sich Korgeweihte somit von drei Gegner umringt.
"Nennt ihr das etwa rondragefällig, Frevler?" höhnte der Geweihte. "Genau das war es, was mir in einer Vision zuteil ward: Ihr könnt Euch nicht entscheiden, ja, nicht entscheiden zwischen Mutter und Sohn! Wann immer es euch paßt, wendet ich Euch demjenigen zu, dessen Tugenden Euch wohlgefälliger sind!"
Wulf verstand nicht recht. Mutter und Sohn? Rondra und Kor! Doch was sollte das ganze? Natürlich, er brachte beiden Verehrung entgegen, aber was mochte daran falsch sein? Auch Rondras zwölfgöttliche Geschwister wurden von ihm geachtet. Was also sollte diese Farce?
"Untersteht Euch, hier solche haltlosen Anschuldigungen zu verbreiten! Und laßt gefälligst meine Untergebenen in Ruhe!"
Wieder lachte der Geweihte. "Eure Untergebenen? Was wißt Ihr schon! Sie", und damit fuhr der Spieß in Richtung Jessa, die den Stich gekonnt parierte, "gehört zu meinesgleichen, also untersteht Ihr Euch, über sie bestimmen zu wollen, denn das ist nicht Eure Sache! Und Du, Schülerin", herrschte er Jessa an, "halt Dich hier raus!"
Gehorsam, ja beinahe unterwürfig wandte Jessa sich ab und ging, erst langsam, dann immer schnelleren Schrittes. Das sie die Treppe in den Hof förmlich heruntersprang, bekam in der Halle jedoch niemand mit... Schülerin? Wulf war etwas irritiert. Die Sache begann aus dem Ruder zu laufen. "Ich... bin... kein... Ketzer!" Bei jedem Wort schlug er zu, doch der Priester parierte jeden Schlag. Cern, der eingreifen wollte, bekam von beiden mit einem Wink zu verstehen, dass er sich nicht einmischen sollte, und trat einen Schritt zurück. Schließlich traf Praifang erneut das Bein des Geweihten. Immer wieder schlug Wulf zu, der Geweihte parierte und schlug seinerseits zu. Zweimal erwischte er Wulf mit dem Ende seines Spießes, ein weiteres Male schnitt die Klinge in Wulfs Bein.
Doch der Baron gab nicht auf; diesem Verleumder würde er es schon zeigen, Priester hin oder her. Wieder ging er zum Angriff über. Sein nächster Schlag traf den Priester am Arm, und im Reflex ließ dieser seinen Spieß los, so dass er ihn nur noch in einer Hand hielt. Schnell setzte Wulf nach und schlug ihm die Waffe auch aus der anderen Hand, und der folgende Schlag verletzte des Geweihten linken Arm erneut, ein weiterer dessen Seite. Doch der Priester verzog keine Miene. "Ist das die Sühne für Deine Vergehen?" lachte er, jegliche Etikette vergessend, während er seinen zweihändigen Sklaventod aus der breiten Lederhülle zog und erneut zum Angriff überging. In schneller Folge brachte er zwei Treffer an, verletzte Wulf an Bein und Schulter. "Sechs", sagte er nach einem weiteren erfolgreichen Schlag.
Mit Mühe gelang es Wulf, einen weiteren Treffer anzubringen, ohne selbst etwas einstecken zu müssen.
"Siehst Du, Frevler, niemand ist mir Dir, weder Mutter noch Sohn. Bald wird die Zeit kommen, zu der Du Dich entscheiden mußt, an dem Du bestimmen mußt, wem Dein Schwert gehören soll: Ihr, der Mutter, Rondra, oder ihrem Sohne Kor!"
Wulf kochte - derweil Cern sich ernsthafte Sorgen um seinen Herrn zu machen begann - und schlug wütend erneut zu. Noch während der Geweihte ihn verhöhnte verletzte er diesen an der Hüfte. "Sieben", schnaufte er, während der Geweihte in die Knie ging. Dabei jedoch riß jener die Klinge des Sklaventodes nach oben, rammte sie in Wulfs Brustkorb und schnitt mit einer Rückhand eine tiefe Wunde ins Bein des Barons, der schwer verletzt zusammenbrach.
"Acht", stieß der Priester hervor, bereit, den neunten, tödlichen Streich anzusetzen.
"Neun", erklang eine weibliche Stimme hinter dem Geweihten, welchem im gleichen Augenblick ein Rapier durch den Rücken gestoßen wurde, "ist die heilige Zahl Phexens, unter dessen Schutz nicht nur das Reich, sondern auch meine Familie steht. Ein Frevler ist, wer dies mißachtet." Sinya zog ihr Rapier aus dem zusammenbrechenenden Körper des Korpriesters heraus und trat aus den Schatten, in denen ihr Gott sie verborgen hatte, heraus. Der Kampfeslärm hatte sie in die Halle gelockt, und verzweifelt hatte sie, auf Phex vertrauend, ihrem Gemahl zu helfen versucht. Nun ließ sie das Rapier achtlos zu Boden fallen, stürzte zu Wulf und beugte sich mit weinend zu ihm herab.
"O Herre Phex, erhalte mir das Glück meiner Familie. Was immer Du verlangst will ich Dir darbringen, wenn Du Dein Auge jetzt nicht von Deiner Dienerin abwendest, die stets das Verborgene gewahrt. Darum bitte ich Dich durch Nebel, Nacht und Schatten, die nur Dein Sternenlicht zu durchdringen vermag, solange der Mond über die Finsternis wacht." Leise flehend murmelte sie die Worte vor sich hin, während sie Wulfs Hemd öffnete und die Hand auf seine Brust legte, aus der noch immer im Takt des Herzens das Blut herausquoll. Tränen fielen sternengleich funkelnd auf ihre Hand hinab, unter deren mondsilbernem Schimmer sich die Wunde langsam schloß. Etliche Augenblicke hockte sie so da, während ihre Gedanken erfüllt waren von mondhellen Nächten, glitzernden Sternen und nebligen Schwaden und sie weder hörte nach sah, wie Cern den bewußtlosen Körper des Korpriesters aus dem Saal zerrte und sie alleine ließ.
Als sie schließlich die Augen öffnete, war von der Wunde nichts mehr zu sehen. Wulf atmete ruhig und gleichmäßig, als ob er schlief. "Danke", flüsterte sie, und die Tränen, die nun über ihr Gesicht rannen, waren perlendes Glück.