Geschichten:Der Truchsess von Oberhartsteen - Freiheit hinter Mauern
Kloster Kressenberg, Firun 1043 BF
Es war eine lange Reise gewesen. Von Oberhartsteen hatte ihn die gräfliche Kutsche zuerst nach Rabensbrück gebracht, wo bereits die nächste Überraschung auf Retodan gewartet hatte. Sein Sohn Hagen, den er weit fort in der Mark Greifenfurt wähnte, nahm den ausgemergelten Truchsess in Empfang. An der erschrockenen Reaktion seines Ältesten bei seinem Anblick, erkannte Retodan, wie schlimm es scheinbar um ihn stand. Die kraftvolle Umarmung des Sohnes fiel für den älteren Mann dann auch recht schmerzhaft aus, da er keine Kräfte aufbieten konnte diese zu erwidern. Die Nacht verbrachten sie auf der Feste Rabenberg, wo Retodan zum ersten Mal seit Monden etwas Warmes zu Essen erhielt und in einem sauberen Bett schlafen konnte.
Mehrere Tage fuhren sie danach auf der zugeschneiten Feidewaldstraße in Richtung Gareth. Retodan von Hartwalden-Hartsteen saß in frische standesgemäße Kleidung und mehrere Decken gehüllt. Die Fenster blieben auf der Reise verhängt, denn die Augen des Ritters mochten sich noch nicht so recht an das blendende Weiß der Winterlandschaft gewöhnen. Bis in die Kaiserstadt wurde die Kutsche von zwei Hartsteener Rittern begleitet, welche mit strenger Miene stets dafür Sorge trugen, dass der freigelassene Burgsass bei den notwendigen Halten mit niemandem als seinem Sohn sprach. Umso größer war Retodans Freude, als man schließlich in Alt-Gareth vor dem Travia-Tempel hielt und ihm hier seine Gattin in die Arme fiel. Korgundis von Steinfels war trotz Fehde und schlechten Wetters sofort von den Ländereien ihrer Familie in der südlichen Alriksmark aufgebrochen, nachdem ihr Sohn sie über die bevorstehende Freilassung Retodans in Kenntnis gesetzt hatte.
Zudem warteten hier drei Ritter aus dem Gefolge des Kressenburger Barons, als da waren der alte Arnulf von Immingen, Eldwin von Korbronn und die junge Daria von Haselbusch, welche die Wache über Retodan nun für den Rest der Reise übernahmen. Retodan und Korgundis bestiegen die Kutsche des Greifenfurter Barons. Mit einigen letzten mahnenden Worten über die getroffene Abmachung übergaben die Hartsteener Ritter ihre Wacht über den ehemaligen Gefangenen und wandten sich zurück gen Osten, wo ihre Schwerter in der Fehde gegen die Schlunder gebraucht würden. Die Greifenfurter aber verließen die Stadt über die alte Heerstraße gen Mittnacht. Mehr als eine Woche waren sie noch unterwegs, passierten Puleth, Wehrheim und Eslamsroden, bis sie schließlich in der Stadt Greifenfurt ankamen. Hier stieß Baron Ardo selbst zu der Gruppe, um dem Eid Folge zu leisten den er vor Praios getan hatte, um den Vater seines Vasallen aus dem Kerker zu befreien. Am folgenden Tag führte der Kressenburger Baron die Gruppe seiner Ritter dann selbst an und leitete die Kutsche von Greifenfurt aus nach Süden in die Kressenburger Lande.
Am Abend traf man schließlich in der Stadt Kressenburg ein. Dem Baron wurden sofort alle Tore geöffnet und die Kutsche fuhr bald polternd durch die dunklen gepflasterten Straßen. Trotz der späten Stunde und der Kälte öffnete sich noch mancher Fensterladen, wo ein Neugieriger einen Blick auf das ungewöhnlich späte Gefährt zu erhaschen versuchte. Schließlich hielt die Kutsche vor den schmiedeeisern beschlagenen Steineichenportalen des Klosters Kressenberg. Nach einem kurzen Austausch über das woher und wohin, wurden die schweren Torflügel geöffnet und die Gruppe eingelassen. Die Ritter stiegen ab, blieben aber bei ihren Pferden, während Hagen und Baron Ardo dem Oberhartsteener Truchsess aus der Kutsche halfen.
Kurz darauf trat der greise Prior des Klosters, der vom Alter stark gebeugte und inzwischen fast kahle Fran Zivko Agricola zu ihnen. Einen Schritt hinter ihm folgte Bruder Praiomel, der langjährige Schreiber und Secretatius des Klosters. Mit knappen aber warmen Worten hieß Prior Agricola Retodan willkommen, überließ es dann aber dem Baron die getroffene Vereinbarung zu erläutern.
„Euer Wohlgeboren“, richtete Ardo nun die ersten Worte seit ihrem Treffen in Greifenfurt an den Schlunder Ritter. Er hatte sich streng an den geleisteten Eid gehalten und jede Konversation vermieden, um nicht versehentlich Informationen zu erhalten, die Retodan laut der Abmachung mit den Hartsteenern nicht preisgeben durfte. „Die Diener und Dienerinnen des Herrn Praios haben sich bereit erklärt, Euch in den Mauern des ehrwürdigen Klosters Kressenberg aufzunehmen, solange die Fehde zwischen den Grafschaften Hartsteen und Schlund fortdauert. Dies zu veranlassen war eine Notwendigkeit, um seine Hochwohlgeboren Graf Odilbert Rondrasil von Eurer Freilassung zu überzeugen. Es wird Euch hier jedoch an nichts fehlen, was Ihr für Eure körperliche und seelische Gesundheit benötigt.“ Der Keilholtzer wandte sich kurz in einer dankbaren Verbeugung dem milde lächelnden Prior zu und fuhr dann fort. „Eure Gattin wird auf eigenen Wunsch für die Dauer Eures Aufenthaltes und in Travias Namen als geehrter Gast auf der Kressenburg verweilen. Ritter Hagen ist schon ganz begierig darauf, ihr Eure Enkel vorzustellen.“ Ardo erkannte die Enttäuschung die in Retodans Gesicht zurückkehrte. „Es wird Euch frei stehen brieflichen Verkehr zu unterhalten, solange dabei die Sicherheitsinteressen der Fehdeparteien nicht berührt werden. Sobald die Unfehde zwischen den Grafschaften Garetiens verkündet wurde, wird es mir eine Freude sein persönlich der Bote zu sein, der Euch davon in Kenntnis setzt und Ihr wahrhaftig mit Eurer Familie vereint sein könnt.“
Der ehemalige Truchsess Oberhartsteens erkannte trotz seiner erneut aufkeimenden Bekümmerung, dass es in Anbetracht der Umstände ein deutlich besseres Los war, als weiter bei Hauptmann Orestes im Verlies zu sitzen. Er verabschiedete sich von seiner Frau und seinem Sohn, wobei dem noch immer von der langen Kerkerhaft gezeichneten Retodan ein paar Tränen über das gefurchte Gesicht liefen, bedankte sich artig bei Baron Ardo für die geleistete Hilfe und folgte dann der freundlich einladenden Geste Bruder Praiomels, der ihn zu einer spartanisch eingerichteten Mönchszelle führte. Nur einen Wunsch äußerte der erschöpfte Hartwalden, dass man ihm für die Nacht ein Talglicht in den Fenstersims stellen möge. In völliger Dunkelheit wäre seine Angst vor Ratten selbst auf diesem geweihten Boden sonst zu übermächtig gewesen, um in den Schlaf zu finden.