Geschichten:Der Wald hat Augen
Gauternburg, Praios 1047 BF
„Ich sage Euch, das letzte Einhorn haben wir vor drei Götterläufen gesehen. Es ist derzeit wahrscheinlicher, dass Euch ein Waldschrat unfreundlich kommt oder ein Baumdrache anfaucht oder sogar ein verirrter Ork mitnimmt.“ Firutin von Gauternburg redete nun schon seit fast einer Stunde auf seinen Gast ein, der dennoch keine Anstalten machte, mit seinem Tun aufzuhören: Poldoron Eslebon belud sein Maultier einfach weiter: Staffelei, Farbkästen, wasserdicht verpackte Pergament und Leinenrollen wurden fest verstaut. Das Tier war sehr geduldig – es kannte den alten Hesindegeweihten schon sein ganzes Leben, und das währt nun auch schon so lange, dass die Haare am Maul schon ganz weiß waren und der Rücken ungesund durchhing.
„Mag sein, Dom Firutin, mag sein. Aber ich kann mich nicht damit zufrieden geben, nur die Gobelins in Eurem Kaminzimmer abzumalen oder die Miniaturen aus Eurer Familienchronik. Das habe ich immerhin die letzten vier Wochen gemacht, habt Dank für Eure Gastfreundschaft. Aber nun muss ich an das lebende Objekt!“ Eslebon schnaufte, als er den letzten Gurt festzog.
„Außerdem ist es mir irgendwie unangenehm, dass ich die ganze Zeit von den Einhörnen, Elfen und Fabelwesen auf Euren Wandteppichen und Euren Büchern spreche, und Euer Bruder sitzt daneben, muss das alles mit anhören und mit in den Winter nehmen, den er bei Euch verbringen will.“
„Fredegast ist ein sehr duldsamer Mann, Euer Gnaden. Der Duldsamste, der mit je begegnet ist. Er nimmt alle Schicksalsschläge hin und fühlt sich von den Göttern besonders geprüft. Vielleicht stimmt es ja. Aber ich würde mich deshalb nicht gerade geliebt fühlen.“ Ritter Firutin prüfte noch einmal, ob Wasserschläuche und Provianttasche fest verzurrt waren.
„Ich auch nicht, glaube ich“, pflichtete der Geweihte ihm bei. „So, dann wollen wir mal.“
„Mein Bursche wird Euch bis zum Köhlerdorf bringen. Dort könnt Ihr nächtigen. Ich empfehle Euch, bezieht dort Lager und geht nicht weiter in den Wald hinein. Er ist seltsam seit einiger Zeit. Die Elfen erzählen manchmal etwas.“
„Schnickschnack. Ich will mein Einhorn malen, Dom Firutin. Das wird mir nicht den Gefallen erweisen, zu den Köhlern zu kommen. Macht Euch mal nicht solche Sorgen. Ich sage nur so viel: Ich habe meine Trollminiaturen in den Zacken erstellt. Und bin noch da. Seht Ihr?“
„Gut, dann gehabt Euch wohl. Bis in einer oder zwei Wochen dann. Ich warte Euch zurück. Wenn nicht, kommen wir Euch suchen.“
„Danke, und grüßt Euren Bruder. Und natürlich Eure Gattin, die mir so langmütig zugehört und mich bestens versorgt hat.“ Damit klopfte er noch einmal auf das Proviantbündel, griff die Trense seines Maulesels und zog frohgemut aus der Gauternburg, begleitet vom Burschen des Burgherrn.
„Das ist alles?“ Ritter Firutin fragte seine forsche Ritterin Celissa von Hogenthal, die ihren Dienstherrn auf die Lichtung geführt hatte.
„Ja, alles. Die Köhler haben das Maultier gefunden, als es halb wahnsinnig durch den Wald rann. Dann haben sie nach Euch geschickt, aber da Ihr mit Eurem Bruder in Seligenfeld wart, bin ich schnell her. Es ist noch so, wie gestern. Die Staffelei stand dort, der Schemel lag da. Die Farben waren hier verstreut. Ich habe nur die Bilder und Pergamente gborgen und in die Hütte der Ältetsen bringen lassen.“
„Das hast du gut gemacht.“ Firutin wies seine Leute an: „Packt das alles zusammen, wir nehmen es mit auf die Burg.“
„Kommt jetzt, ich zeige Euch die Bilder“, sagte Ritterin Celissa und ging voraus zur Köhlerhütte. Dort angekommen, holte sie dich Taschen und Rollen ans Licht vor der Hütte und breitete einige Rollen aus, beschwert an den Ecken mit Steinen, und schlug das Skizzenbuch auf.

„Hier, seht. Das sind die Skizzen, die er von den drei Bildern angefertigt hat. Die Bilder sind nicht fertig, aber offenbar soweit gemalt, dass er sie überall hätte beenden können. Seht Ihr hier?“
„Hol mich der Waldschrat, das ist ein Einhorn!“, rief Ritter Firutin.
„Zwei sogar. Aber das eine ist verletzt.“
„Du hast recht. Aber haben sie denn Seiner Gnaden solange Modell gestanden?“
„Wer weiß? Vielleicht trauten sie ihm ja? Hier: ein Einhorn, zwei Einhörner, darunter ein verletztes, und hier der Weiher auf der Lichtung, darüber lauter Schmetterlinge und … Feen?“ Celissa riet mehr al dass sie es wusste.
„Keine Ahnung. Aber guck mal, der Wald.“
„Ja, unheimlich, nicht wahr?“
„das sind doch Augen im Dunkel. Warum malt er Augen im Dunkel des Waldes? Warum bleibt er drei, vier Tage auf einer Lichtung, auf der er beobachtet wird? Warum geht er nicht zu den Köhlern?“
„Ich weiß es nicht. In seinem Zelt habe ich außer den Büchern und Bildern keinen Hinweis gefunden. Nur das hier“, ergänzte Celissa und wies auf eine Reihe von Schriftzeichen. „Was ist das?“
„Das ist Isdira. Blöd, dass mein Bruder nichts mehr sehen kann. Der konnte das lesen. Gut, wir gehen. Wir nehmen alles mit.“
„Suchen wir den Geweihten?“, wollte die Ritterin wissen.
„Nein. Erstens war genug Blut auf der Lichtung, dass man damit einen ganzen Geweihten ausfüllen kann. Und zweitens gehe ich nicht in einen Wald, der so viele Augen hat.“
Bücher, Schriften und Zeichnungen sowie alles Gepäck wurden dem Hesinde-Kloster St. Ancilla überstellt. Die drei Bilder aber zieren jetzt die Wand der Großen Treppe auf der Gauternburg. Davon mussten die Geweihten schließlich ja nichts erfahren.

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