Geschichten:Der wankende Turm
Wehrturm Hardenfels, Baronie Zackenberg, Mitte Rahja 1043 BF
Wolfhelm von Hardenstatt saß in seinem Arbeitszimmer und blickte verdrießlich auf das Familienschwert Fides. Den alten Mann plagte seit geraumer Zeit eine innere Unruhe. Eine Unruhe, die einen ergriff, wenn man nicht zufrieden war mit dem was man hatte und gleichzeitig keinen Weg sah diesen Zustand zu ändern.
Natürlich ging es dem Ritter nicht um irgendwelchen weltlichen Besitz. Die Herrschaft Hardenfels war mehr als genug für ihn, Land, Titel und Dukaten waren nichts was er zum Selbstzweck sammeln würde. Die Dukate sammelte er, um seinem Baron und der Kirche den ihnen zustehenden Teil zu zahlen, den Titel hatte er damit er sich um das Land und seine Bewohner kümmerte und diesen gleichsam Schwert als auch Schild zu sein. Davon abgesehen reichte ein Lehn vollkommen aus, um ausgelastet zu sein. Nein ihn trieb der Gedanke um, wer nach seinem Ableben die Geschicke seiner Familie lenken und das Familienschwert tragen sollte.
Er seufzte und blickte aus einem der offenen Fenster auf die Trollzacken, die sich direkt vor seiner Nase erhoben.
Sein Erstgeborener hatte selbstredend das nötige Zeug dazu. Er hatte eine ritterliche Ausbildung genossen und hatte sehr viel Einblick in die Abläufe innerhalb des Lehns gehabt. Wäre da nur nicht die Tatsache, dass er sich in den Dienst des Markgrafen stellen musste und nun selbst ein Lehn fern ab Zackenbergs zu führen hatte.
Jetzt versauerte er am Arvepass und würde sich noch nicht einmal selbst um sein neues Junkertum, geschweige denn um die Herrschaft hier in Zackenberg kümmern können! Ein Lehnsnehmer hatte gefälligst in seinem ihm anvertrauten Land zu sein, davon war Wolfhelm überzeugt!
An seine Tochter wollte er nicht einmal denken, diese hatte sich schon vor Götterläufen aus den Belangen der Familie verabschiedet und floh in die Reichsstadt, um dort Offizierin in der Perlenmeerflotte zu werden. Nun war sie in einem Teil der Flotte, der für Bürgerliche gedacht war. Selbst wenn sie ihren Dienst quittieren würde, sie hatte doch keine Ahnung wie man sich um ein Lehn kümmern, geschweige denn eine Familie führen sollte.
Der Alte war aufgestanden und zu dem offenen Fenster gegangen, um einen besseren Blick zu haben. Da hinten, hinter den Baumwipfeln, lag die Burg Trollwacht, der Herrschaftssitz der Barone von Zackenberg und derzeitiger Wohnort seines jüngsten Sprosses. Der Ritter konnte nur den Kopf schütteln, Salix hatte Ahnung von Verwaltungsaufgaben, davon hatte er sich in der Zeit überzeugt, als dieser das nahegelegene Dorf geführt hatte. Auch war er als einziger seiner Kinder in der Baronie verblieben und diente direkt der Herrscherfamilie, er schien zumindest verstanden zu haben wo man als Angehöriger der Rittersfamilie Hardenstatt hingehörte!
Alles in allem eigentlich ein guter Kandidat, wäre da nicht das Problem, dass der Junge besser keine Waffe anfassen sollte, es sei denn sein Ziel wäre die Selbstverstümmelung, dass er kein ausgebildeter Ritter war und schlussendlich seine Kinder die Namen der Zackenbergs annehmen würden. So jemand konnte niemals die Familie anführen. Wie sollte das denn auch gehen, wenn schon dessen eigenen Kinder gar nicht mehr den Namen Hardenstatt trugen.
Er atmete hörbar aus und wandte sich vom Fenster ab, gedankenversunken verließ er sein Arbeitszimmer und wanderte durch den Wehrturm, bis er in den Ritterraum kam. Dort blieb er vor den Portraits seiner Vorgänger stehen. Die Herren und Damen der Familie Hardenstatt, welche vor ihm die Geschicke des Lehens und der Familie lenkten. Über die Zeit wurden die Gemälde immer kleiner, vordergründig um Platz - tatsächlich jedoch um Geld - zu sparen. Man konnte sehen in welchen Generationen das Geld knapper wurde und welche Generationen mehr übrighatten. Sein eigenes Portrait war nicht besonders klein oder groß, es fügte sich in das Gesamtgefüge ein, ohne besonders hervorzustechen. Das passte dem alten Ritter am besten, er war ein Diener seines Barons, stoisch, wie der Wehrturm selbst, hatte er bis heute seine Aufgaben erfüllt, die von ihm als Lehnsnehmer und Familienoberhaupt gefordert wurde und niemals würde er daran denken daraus besonderen Gewinn zuziehen. Das brachte ihn wiederum zu seinem Neffen Ilmar. Er hatte, wie auch Bärfried, eine ritterliche Ausbildung genossen. Das war noch genau nach Wolfhelms Geschmack. Was ihm weniger schmeckte war jedoch, dass auch Ilmar sich ebenfalls aus der Baronie verabschiedet hatte und nun mit einer Landvögtin in Vellberg lebte. Während der Wohnort sich sicherlich anpassen lassen würde (immerhin weilte Ilmar seit geraumer Zeit immer öfters auf dem Wehrtum), wäre jeder Versuch an Ilmars Persönlichkeit zu schrauben zum Scheitern verurteilt. Heißspornig, vor allem auf den persönlichen Vorteil bedacht und – das musste Wolfhelm gestehen – nicht unbedingt die hellste Kerze auf dem Leuchter. So jemanden konnte er nicht ruhigen Gewissens seine Nachfolge als Oberhaupt der Familie antreten lassen. Nein, das konnte er ihnen nicht antun! Dann blieb noch Bran.
Bran von Hardenstatt war ein besonnener junger Mann, der einige Jahre fern der Heimat verbracht hatte und einiges an Erfahrung sammeln konnte. So war er nach dem Feldzug gen Mendena lange Zeit in den ehemaligen Schwarzen Landen verblieben, um die Überbleibsel der Verdorbenen zu jagen. Leider lag genau dort eines der Probleme, die Wolfhelm auch mit Bran hatte. Wann immer der Junge hier war, war er eine wertvolle Stütze für den Alten. Allerdings verweilte Bran auch gerne lange im fernen Tobrien. Das allein könnte man ihm sicherlich austreiben, doch er war ebenfalls kein Ritter, sondern lediglich ein Schwertgeselle! Wolfhelm schüttelte abermals enttäuscht den Kopf, er hatte an allen potenziellen Nachfolgern etwas auszusetzen. An manchen mehr an manchen weniger, doch perfekt waren sie in seinen Augen alle nicht. Was sollte er tun? Er würde auch nicht jünger werden und Boron allein wusste, wann er sich von dieser Welt verabschieden musste. Zuvor sollten jedoch die Formalitäten und Angelegenheiten geklärt sein. Der Turm, so hatte man ihn in seiner Jugend genannt, wankte. Was sollte er tun? War es vielleicht an der Zeit die Herrschaft über das Lehn und die Führung der Familie in zwei unterschiedliche Hände zu geben?