Geschichten:Des Greifen Tatzen - Der Zauberer von Ox
Festhalle des Gasthauses „Zur Eintracht“ in Mardramund
Anwesende: Anaxios Illosos von Ochs, Chaliba von Brendiltal, die Dorfschulzen der Viehwiesener Gemeinden, die Phex-Geweihte Silvana Fuxtreu
Auf einen Wink Anaxios klingelte ein Diener heftig mit einer Glocke. Die Gespräche verstummten und Anaxios erhob sich. Er wandte sich an die geladenen Gäste: „Den Zwölfen zum Gruße, ehrenwerte Dorfschulzen der Baronie Viehwiesen. Wir haben uns heute hier versammelt, um eine Lösung für ein nahendes Problem zu finden. Wie Ihr sicher bereits in Erfahrung bringen konntet, hat sich ein Heer aus Perricum aufgemacht und wird auch unsere schöne Baronie durchqueren. Dies wird uns vor einige Herausforderungen stellen. Warum wir diese Situation nicht unterschätzen sollten, wird uns nun meine liebe Frau, die Edle Chaliba von Brendiltal, Kriegerin des Reiches, erklären.“ Anaxios zeigte mit beiden Händen auf Chaliba und setzte sich.
Chaliba von Brendiltal erhob sich. Nun konnte jeder sehen, dass sie in voller Prunkrüstung und voll bewaffnet erschienen war. Sie erhob ihre Stimme: „Krieg! Krieg ist immer gleich! Man kann sich einreden, dass man es anders machen will. Aber es sind immer die einfachen Leute, die darunter leiden. Es sind immer die einfachen Leute, die bluten. Es sind immer die einfachen Leute, die hungern. Ein Heerzug wirkt sich stets desaströs für die Bevölkerung des Landstrichs aus, durch welchen er zieht. Aber warum ist das so, werdet Ihr fragen. Nun, ich werde es Euch erklären. Ein Heerzug besteht aus Menschen. Menschen können edel sein, Menschen können aber auch eigensüchtig sein. Vor Allem aber haben Menschen Bedürfnisse. Sie müssen essen, sie müssen trinken und sie benötigen Ablenkung vom blutigen Handwerk. Wir müssen darauf vorbereitet sein und adäquat darauf antworten.“ – „Aber was können wir tun?!“ mischte sich eine forsche Stimme aus den Reihen der Gäste ein. „Ja, wie können wir uns schützen?!“ stimmte ein anderer ein.
„Diese Fragen sind der Grund unserer heutigen Zusammenkunft.“ erklärte Anaxios, sich wieder erhebend. „Wir“ – dabei zeigte er auf Chaliba und die hinter ihr stehende Phex-Geweihte – „haben einen Plan erdacht, welcher das Ziel hat, die Last möglichst gering zu halten. Wir werden Euch nicht alle Aspekte unseres Plans mitteilen, damit Ihr nicht in das Dilemma geratet, im Falle einer robusten Befragung durch Soldaten Einzelheiten preisgeben zu können. Wir bitten Euch nur um Folgendes: Erstens werdet Ihr Eure Kornspeicher bis auf ein Neuntel der maximalen Füllmenge leeren. Verteilt das Getreide in der Bevölkerung. Diese sollen das Getreide in ihren Häusern trocken lagern und während des Durchzuges des Heeres nach und nach verbrauchen. Dasselbe soll mit allen weiteren Nahrungsmitteln geschehen. Sie sollen es sich gut einteilen und nicht zu viel auf einmal verbrauchen. Es muss eine gewisse Weile reichen. Immanent wichtig ist es dabei, dass die Bürger ihre Vorräte – schon im eigenen Interesse – gegenüber Außenstehenden geheim halten. Zweitens werdet Ihr den anrückenden Soldaten freien Zugang zu den Kornspeichern und sonstigen auf diese Weise reduzierten Lagern gewähren. Zeigt Euch den Soldaten gegenüber ruhig etwas mürrisch, aber lasst sie schlussendlich gewähren, wenn sie die Restbestände in Beschlag nehmen. Drittens werdet Ihr für die Dauer des Durchzuges eine Ausgangssperre verhängen. Ihr solltet die Anzahl der … sagen wir … Zwischenfälle möglichst gering halten. Wir werden uns um alles Weitere kümmern.“ Einer der Gäste zeigte auf. „Was geschieht, wenn uns die Nahrungsvorräte ausgehen?“ Anaxios lächelte demonstrativ wissend. „Wie ich gerade verkündet habe: wir werden uns um alles Weitere kümmern – auch um den Nachschub an Nahrungsmitteln. Möge der Herr Phex uns dabei unterstützen.“
Etwas später im Phex-Tempel zu Mardramund
Anwesende: Anaxios Illosos von Ochs, Chaliba von Brendiltal, die Phex-Geweihte Silvana Fuxtreu, acht weitere Diener der Phex-Kirche
Die Phex-Geweihte Silvana Fuxtreu beendete ihre Andacht und wandte sich an Anaxios. „Berichtet Ihr mir nun, wie Ihr gedenkt, Euren Plan umzusetzen? Immerhin wächst eine derart große Menge an Lebensmitteln, welche Eure Bürger nach dem Durchzug des Heeres benötigt, nicht einfach am Wegesrand.“ Anaxios lächelte. „Nun, Euer Gnaden, wie Ihr wisst, bin ich oft auf Reisen.“ – Er blickte kurz zu Chaliba herüber – „sehr zum Leidwesen meiner geliebten Frau und der Kinder wohlgemerkt.“ – Chaliba lächelte etwas gequält zurück – „Aber eines bringen meine Reisen mit sich: Ich knüpfe immer wieder Kontakte und verbünde mich mit Entscheidungsträgern, welche mir … sagen wir … danach etwas schulden.“
Die Phex-Geweihte neigte etwas den Kopf und hob erwartungsvoll die Augenbrauen. „Beispielsweise habe ich einem reichen Rüstungsbauer aus einem … naja … Dilemma befreit und dieser hat mir dann diese prunkvolle Rüstung für meine geliebte Frau gebaut.“ Anaxios zwinkerte Chaliba zu. Diese blickte ernst zurück und erwiderte: „Anaxios, komm zum Punkt!“ Anaxios wandte sich wieder der Phex-Geweihten zu. „Andererseits habe ich auch einer aranischen Adeligen…“ – „Anaxios!“ herrschte Chaliba ihn an, „wir wollen nichts von Deinen tollen Heldenta…“ – „Ruhe jetzt!“ herrschte Anaxios zurück, „jetzt kommt der für unser Unterfangen wesentliche Teil!“ Er wartete einen Augenblick, während dessen Chaliba sich wieder beruhigte. „Aranisches Getreide, Unmengen aranisches Getreide.“
Nun weiteten sich nicht nur Chalibas Augen vor Überraschung, sondern auch die der Phex-Geweihten. „Ja, Ihr hört richtig. Die Adelige, der ich geholfen habe, hat mir im Gegenzug zugesagt, im Notfall mit einer großen Menge aranischen Getreides auszuhelfen. Und der Notfall steht ja nun vor der Tür. Jetzt gilt es, dieses Getreide einzufordern und die Kornspeicher unbemerkt sukzessive wieder aufzufüllen, während das Heer sich durch Viehwiesen bewegt. Die List kann aber nur funktionieren, wenn einerseits die Soldaten zuvor hinreichende Mengen aus den Kornkammern entnehmen und nicht auf die Idee kommen, zurück zu kehren, und andererseits die Befüllung der Kornkammern heimlich geschieht, damit sich niemand verplappern kann. Bei der heimlichen Auffüllung kommt Ihr ins Spiel.“ Anaxios zeigte auf die neun anwesenden Diener der Phex-Kirche.
Die Geweihte blickte Anaxios zweifelnd an. „Aber wie wollt Ihr vermeiden, dass die Soldaten zurück kehren?“ Anaxios grinste. „Ich habe da eine Idee.“
Sehr viel später im Audienzsaal von Burg Ox
Anwesende: die Perricumer Leutnants Lyuben und Cheraldo, Anaxios Illosos von Ochs
Sie hatten den Auftrag, den Baron von Viehwiesen über die Modalitäten des Durchzuges des Heeres zu informieren und bei ihm Nahrungsmittelvorräte einzufordern. Auf dem Weg zur Burg waren sie durch eine gespenstisch leere Ortschaft gekommen. Sie hatten erwartet, hier das bunte Leben vorzufinden. Es fand sich jedoch niemand auf den Wegen. Vorhänge wurden zugezogen. Nur ein Greis hatte vor seinem Haus in einem Schaukelstuhl gesessen und Pfeife geraucht. Auf die Frage, warum die Leute nicht aus ihren Häusern kämen, hatte der Greis ihnen bedeutungsvoll geantwortet: „Der Zauberer ist zurückgekehrt. Hütet Euch vor seiner Macht.“ Die beiden Leutnants waren daraufhin zur Burg hoch marschiert. Etwas außer Atem hatten sie ihren Weg durch den verwaisten Innenhof gefunden und hatten vor der Eingangstür zum Audienzsaal gestanden. Keine Menschenseele hatte ihren Weg gekreuzt. Die Tür zum Audienzsaal hatte sich wie von Geisterhand, laut knarzend geöffnet. Dann waren sie eingetreten.
Überall an den Wänden sahen sie Folianten mit Zhayad-Schriftzeichen, alchimistische Ingredienzien verschiedenster Art und in der Luft schwebende Zauberzeichen. Der Boden des Saales war aufgrund des über ihm schwebenden Nebels kaum zu erkennen. Am Ende des Saales hing über die gesamte Breite des Raums ein durchscheinender Schleier. Cheraldo wandte sich etwas ängstlich an seinen Kameraden: „Lyuben, meinst Du, dass der Herr Baron uns überhaupt anhören wird?“ Leutnant Lyuben antwortete: „Ich weiß nicht, Cheraldo. Ich meine, hast Du irgendeinen Bürger oder Bediensteten gesehen? Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich hier sein sollten.“ Plötzlich sahen sie, wie sich hinter dem Schleier eine riesige Gestalt manifestierte. Sie war dreieinhalb Meter groß und besaß die vagen Umrisse einer weiten Robe sowie eines überdimensionierten Spitzhutes.
Dann erhob sich eine tiefe, durch Mark und Bein gehende, grollende Stimme: „Eindringlinge in meinem Land! Rechtfertigt Euch!“ Etwas zögernd und vorsichtig antwortete Leutnant Cheraldo: „Die Leutnants Lyuben und Cheraldo, Gesandte des Perricumer Heeres. Wir sind gekommen, um Euch…“ Die grollende Stimme fiel dem Leutnant ins Wort: „Ihr seid gekommen, um mein Volk hungern zu lassen!“ Leutnant Cheraldo nahm seinen Mut zusammen. „Ihr müsst verstehen, es ist auch für uns nicht einfach. Wir benötigen ebenfalls Nahrungsmittel. Könnten wir nicht vielleicht.,.“ Wieder fiel ihm die grollende Stimme ins Wort, diesmal noch tiefer und noch grollender: „Genuuug! Ich werde Euch erlauben, die spärlichen Vorräte der Bevölkerung aus den Kornkammern zu rauben. Aber ich WAAAARRRRRNNNNEEEE EEEEUUUUCCCHHHH! Für jeeedes Kind, das verhungert, werde ich EEEEEEEEEEUUUUUUUCCCCHHH zur Rechenschaft ziehen.“ Die beiden Leutnants zuckten zusammen. Nun versuchte Leutnant Lyuben sich an einer Antwort: „Aber Euer Hochgeboren, wir wollen doch gar nicht, dass…“ Ein letztes Mal erhob sich daraufhin die donnergrollende Stimme: „IIIIICH HAAAABE GESPROOOOOOOCHEN!“ Daraufhin löste sich die Gestalt hinter dem Schleier in Rauch auf. Schwall über Schwall von Nebel ergoss sich sodann in den Saal. Die beiden Leutnants stolperten rückwärts aus dem Saal hinaus. „Komm, lass uns abhauen, “ sagte Leutnant Lyuben hastig, „wir haben hier nichts mehr verloren.“ Leutnant Cheraldo nickte ihm ängstlich zustimmend zu und beide nahem ihre Beine in die Hand.